Alec stand am Ufer des Sees. Ein großer Wasserfall ergoss sich in halsbrecherischen Kaskaden in das tiefblaue Wasser unter Alec. Unschlüssig stand er da. Eine Gänsehaut überzog seine menschlichen Muskeln, als ein kalter Wind, der von den Bergspitzen herabfuhr, ihn streifte.
Er vermisste sein Fell jetzt schon. Ein grauer Wolf schoss an ihm vorbei und sprang mit einem riesigen Satz mitten in den See. Wasser spritzte in alle Richtungen, als das Tier gekonnt in die Oberfläche eintauchte.
Abwehrend hob Alec die Hand bevor es sein Gesicht traf. Es wunderte ihn, dass er das kühle Wasser nicht auf seiner Haut spürte. Vorsichtig lugte er hinter seiner Hand hervor. Das Wasser schwebte genau vor Alec in der Luft.
Ungläubig ließ er die Hand sinken. Doch bevor er anfangen konnte darüber nachzudenken, verlor auch das Wasser all seine Spannung. Die kalten Tropfen ergossen sich über Alec's Gesicht. Pudelnass stand er da. Aus dem See tauchte im gleichen Moment ein Junge von 13 Jahren laut lachend auf. Es war Seth.
„Was stehst du da noch so lange herum?“, fragte er und bespritzte Alec mit einer Ladung Wasser. Rasch verdrängte dieser den Gedanken, an die kurzzeitige Beherrschung des Wassers und sprang mit einem einzigen Satz in den kleinen See unterhalb des Wasserfalls. Er landete direkt auf Seth, der schimpfend herunter gedrückt wurde. Er erschauderte als das kalte Nass jede einzelne Stelle seiner Haut berührte. Eigentlich mochte er kein Wasser. Wenn Seth ihn nicht zum Schwimmen überredet hätte... Wenn Seth nicht dabei wäre, wäre er auch nicht ins Wasser gegangen, aber er wollte vor dem Jüngeren nicht wie ein Feigling dastehen. Seth war ein guter Freund und Alec hatte ihn nicht enttäuschen wollen, obwohl er das Wasser hasste wie nichts anderes. Also ließ er die morgendliche Schwimmstunde über sich ergehen und freute sich lieber auf den Lauf zurück durch den Wald bis zum Internat.
***
Der Wind streichelte sei Gesicht und mit einem Satz verwandelte er sich in einen schönen starken Schneeleopard. Seiner Begabung nach war er ein Gestaltenwandler, und konnte sich in sein tierisches Ich verwandeln, wann immer er es wollte. Dann stand er in geistigem Kontakt mit den anderen Gestaltenwandlern. Gedanken wirbelten auf ihn ein. Er versuchte es mit der Übung, die sie in ihrer ersten Unterrichtsstunde auf dem Internat gelernt hatten. Er versuchte sich zu konzentrieren. Einen Moment lang klappte es und die Gedanken der Anderen waren ausgeblendet, aber dann störte ihn ein Geräusch.
Nein, ein Geräusch war es wohl eher nicht. Es war Seth, der in Gedanken schrie:
„Wie lange willst du da eigentlich noch herumstehen? Komm schon, laufen wir.“ Er stieß ein lautes Heulen aus. Alec knurrte ihn gespielt an und sprang hoch in die Luft.
„Du, weißt ganz genau, dass ich viel schneller bin. Ich gebe dir etwas Vorsprung.“
„Ich schlage dich auch so.“
„Ach wirklich?“ Er rannte los.
Das Trommeln ihrer acht Pfoten war das einzige was er für einen Moment hörte.
***
Die Klasse der Gestaltenwandler war brechend voll, im Gegensatz zu den Klassen der Vampire und der Elementals. Es gab einfach weniger von ihnen.
42 Schüler zählte Alec's Klasse, es gab 11 Vampire, 3 Feuerelementals, 7 Wasserelementals, 2 Erdelementals und 1 Windelemental. Seit Jahren war kein Metallelemental mehr aufgetaucht. Heute hörten alle Klassen einem Vortrag über Rassenkunde zu.
„Ihr kennt Gestaltenwandler, die sich in ein sogenanntes Stammtier und mit ein wenig Mühe auch in andere Tiere verwandeln können. Gestaltenwandler treten sehr häufig auf. Durch ihr Tierdasein besitzen sie eine stark ausgeprägte Muskulatur, die Verwandlung beschleunigt ihren Stoffwechsel, sodass sie eine ganze Menge Nahrung zu sich nehmen müssen, menschliche Nahrung und die, die ihrem Tier entspricht. Vampire dagegen sind seltener. Sie jagen meist bei Nacht, sind häufig überirdisch gutaussehend und trinken Blut: Menschenblut, wenn sich ein Spender findet, ansonsten Tier Blut. Tagsüber nehmen manche Vampire auch menschliche Nahrung zu sich. Tagsüber sind Vampire sehr schläfrig und nur ein Schatten ihres Daseins."
Wie zum Beweis gähnte der Vampirdozent.
„Nun, kann mir jemand etwas über Elementals sagen? Niemand?“ Eine Hand tauchte schüchtern aus der Masse an Schülern auf.
„Ja? Wie ist ihr Name?“
„Grace Dee, Sir. Elementals können ein Element beherrschen: Feuer, Wasser, Erde, Wind oder Metall. Die hohe Elementmagierin beherrscht alle von ihnen. Es erfordert ein wenig Übung, sich das Element untertan zu machen, Elementmagier spiegeln meist ihr Element wieder. So sind Feuerelementals meist unberechenbar und heißblütig.“
„Danke das reicht. Wunderbar. Danke, Miss Dee. Sie sind...“, er warf einen raschen Blick auf seine Liste, die vor ihm lag. „Windelemental“, sagte er dann zufrieden. „Gut...“Alec hörte nicht mehr zu. Wie langweilig. Er dachte sich, wie es wäre jetzt in seiner anderen Haut zu sein. Ganz allein. Wenn schließlich alle anderen Gestaltenwandler hier waren, konnte sich keiner von ihnen verwandeln und ihn nicht mit ihren Gedanken in den Wahnsinn treiben.
Einen Moment lang dachte er an den Fall von heute Morgen. Als er das Wasser in der Luft festgehalten hatte... Jemand rüttelte an seiner Schulter.
„Alecay Dark.“ Die Stimme befand sie genau über ihm. Alec blickte zögernd auf und starrte sogleich in das glatte, makellose Gesicht des Vampirs.
„Ja, Sir?“
„Hast du vielleicht noch eine Frage, Alec?“
„Nei...n... Also doch, ähm...“ Dann rang er sich dazu durch.
„Gibt es eine Rasse, die aus mehreren anderen Rassen besteht? Gibt es jemanden, der sich in ein Tier verwandeln, und gleichzeitig ein Elemental sein kann?“ Der Vampirdozent fing laut schallend an zu lachen.
„Hahaha, Mr. Dark. Wollen Sie mich veralbern? Es gibt nur diese Rassen, von denen wir hier gesprochen haben. Wenn Sie zugehört hätten, wäre Ihnen das auch bewusst.“
„Aber...“
„Danke, Mr. Dark. Ich bin überaus enttäuscht von ihnen.“ Er wandte sich ab. „Und nun geht ihr alle wieder in eure Klassen. Für heute habt ihr dann den restlichen Nachmittag noch Unterricht.“ Alec packte seinen Block, auf den er lustlos Notizen gekritzelt hatte, in seine Tasche und wollte gerade gehen, als der Dozent ihn noch einmal zu sich rief.
„Mr. Dark, es gäbe da noch etwas, dass Sie vielleicht interessieren könnte." Dann senkte er seine Stimme, als Alec neben ihm stand, sodass dieser sich vorbeugen musste um ihn überhaupt noch zu verstehem. "Eigentlich ist es nur sehr wenig, im Grunde fast nichts, aber es gibt eine Legende, die besagt, dass es noch eine Rasse gibt, aber... Sehen Sie am besten in der Bibliothek nach. Und denken Sie daran: Von mir wissen sie nichts...“
Seufzend verließ Alec den Hörsaal und ließ den Nachmittagsunterricht über sich ergehen.
***
Ernährung für Gestaltenwandler, Verwandlung und Sport, Jagd und Kampftraining für Gestaltenwandler hatte er bereits geschafft, als eine Lehrerin hereinkam und ankündigte, dass Gehirnjogging und Gedankenübertragung ausfallen würde. Er trottete über den Platz vor dem Internat Richtung Großkatzen-Wohnheim und begann mit den Hausaufgaben. Ernährung: Analysieren Sie die Bewegungsmuster Ihrer Tiergestalt beim Jagen/Sammeln und Fressen. Na großartig. Das konnte ja nur ein spaßiger Nachmittag werden.
***
Eigentlich durften sie erst nach dem offiziellen Unterrichtsschluss das Internatsgelände verlassen, aber jetzt waren die anderen noch im Unterricht. Es würde doch keiner merken... Und außerdem musste er es einfach noch einmal versuchen. So unauffällig wie möglich schlich er aus dem Gebäude. Als er die Grenze des Internatsgeländes erreicht hatte, verwandelte er sich wieder in seine Tiergestalt und überwand den Zaun vor ihm mit einem einzigen Satz.
Er hatte sich schon oft gefragt, wozu dieser Zaun überhaupt gut war, wenn alle Wesen, die im Internat lebten, ihn mühelos über- oder durchqueren konnten. Der grüne Wald war keine ideale Tarnung und so wälzte er sich erst einmal auf der braunen Erde, um nicht sofort gesehen zu werden. Mit Lehmklumpen in seinem Fell lauerte er schließlich hinter einem Busch und wartete, dass das Wildschwein sich in eine günstigere Position bewegte. Jetzt! Er packte den Eber an der Kehle und bevor das Tier wusste, was ihm geschah, war Alec's Schnauze blutverschmiert.
„Und den willst du alleine auffressen?“
„Sei still, Seth“, schickte Alec in Gedanken zurück. Dieser antwortete nur mit einem stillen Lachen.
„Pass auf!“, jaulte er, warf sich wie aus dem Nichts auf Alec und schnappte ihm dabei seine Beute weg.
„Verflucht, Seth. Bist du verrückt?“
„Komm schon, Alec. Du schaffst dieses riesige Ding doch sowieso nicht allein.“ Er grinste ihn mit einem breiten Wolfslächeln an.
„Und ob. Und du bist mein Nachtisch!“, knurrte Alec bedrohlich. Mit wenigen Sätzen war er über Seth und die beiden rangelten ein wenig um die Beute, bevor sie sich nebeneinander niederkauerten um zu fressen.
„Dafür bist du mir die Ernährungshausaufgabe schuldig!“, dachte Alec.
„Und warum?“
„Da du zugesehen hast, wie ich jage und die Bewegungsabläufe analysiert hast.“
„Bewegungsabläufe“, stöhnte Seth. „Normale Menschen würden sich nicht um so etwas kümmern.“
„Nun, leider sind wir aber nicht normal.“
„Mag sein.“
Bald war der Keiler komplett verschlungen. Zufrieden und gesättigt, lehnte Alec sich zurück und leckte sich das Fell.
„Du willst mich gar nicht hier haben, oder?“, fragte Seth auf einmal ernst.
„Nein, zumindest nicht in Wolfsgestalt.“
„Dann gehe ich jetzt. War schön, mit dir zu jagen. Ich kümmere mich um die Bewegungsabläufe und du... Mach schon, was du vorhast.“
„Danke“, dachte Alec erleichtert.
Er strich alleine durch den Wald. Ein Windstoß zerzauste ihm das Fell.
„Ja, Grace, weiter so, gleich hast du es geschafft.“ Grace und ihr Bruder standen zwischen den Bäumen. Grace war die einzige Windmagierin, die es im Moment gab, und sie sah jetzt hochkonzentriert aus. Alec hasste sie. Sie war arrogant und eine Streberin, um die sich die beliebteste Gang der Schule scharrte. Auf einmal gewann Grace genügend Kontrolle über den Wind, um ihn dazu zu bringen, Alec anzuheben und durch die Luft zu wirbeln. Hastig verwandelte Alec sich zurück und brüllte gleichzeitig:
„Seid ihr verrückt!? Wenn der Wind nachlässt falle ich hin und breche mir alle Knochen im Leib!“ Grace's Bruder Gray lachte.
„Dazu ist Grace viel zu stark. Gut so, Kleines, mach einfach weiter!“
„Ihr werdet jetzt sofort aufhören, hab ich gesagt.“ Langsam wurde Alec wirklich wütend.
„Jetzt stell dich nicht so an“, meinte Grace und verzog das Gesicht dabei zu einem Lächeln.
„Verflucht lass mich schon los.“ In Gedanken raste er wie verrückt. Wenn er sich nicht so sehr darüber aufregen würde, dass Grace ihn kontrollierte, kam er sich mitten in der Luft gar nicht so übel vor. Ja, sie kontrollierte ihn. Wütend sprach er den Wind an. Es mag schwer vorstellbar sein, doch sein einziger Gedanke war, Grace zu brechen. Ihren Gedankenfluss. Ihre Kontrolle.
Augenblicklich änderte sich der Windstrom, der Alec sanft absetzte, jedoch Grace und ihren Bruder so sehr ins Wanken brachte, dass sie nach hinten stolperten und auf dem Waldboden landeten.
Verärgert, wandelte sich Alec wieder in einen Leopard, und sprang über einige Wurzeln hinweg von der Lichtung.
***
„Unglaublich. Wie kann das passiert sein?“, fragte Grace's Freundin.
„Vermutlich hat Grace sich überanstrengt. Eine Großkatze oder einen fast ausgewachsenen Menschen hochzuheben ist überaus anstrengend. Dann hat der Wind in die natürliche Richtung gedreht und euch zwei umgeworfen. Ihr wisst doch: Wo man mit viel Wind ein Hoch erschafft, entsteht woanders ein Tief. Dahin ist die Luft dann zurückgeströmt.“, erklärte ein Lehrer.
„Aber dir geht es gut, Kleines?“, erkundigte Gray sich besorgt.
„Jaja“ versicherte sie ihm schnell. Langsam verließen die anderen Grace's Zimmer.
„Und was ist wirklich passiert?“, wollte Gray wissen, als nur noch Grace und er da waren.
„Keine Ahnung. Irgendwie hat Alec sich gewehrt. Ich bring dieses Arschloch um!“
Aufgebracht sprintete Alec zwischen den Bäumen hindurch. Was zum Teufel dachte diese Grace sich, ihn einfach als lebendige Puppe zu benutzen.
Texte: ©Novizin und Annisoli Draegon / Missbrauch ist strafbar.
Bildmaterialien: ©devaiantart.com Design: ©Novizin
Tag der Veröffentlichung: 27.06.2013
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
für die, die immer noch an Magie glauben, auch wenn sie das Kindesalter längst überschritten haben.