Es war reiner Zufall. Reihe 26a, außen, so hatte er eingecheckt. Er nahm Platz. Die ältere Dame neben ihm hatte dabei mit großem, skeptischen Interesse zugesehen und lächelte ihn nun wohlwollend an, während er noch versuchte seine langen Beine irgendwie zusammen zu klappen. Er lächelte zurück und die Nachbarin widmete sich wieder dem Flugfeld.
Auf Sitzplatz 26b hatte Frau Roswitha Arden noch nie zuvor ein Flugzeug bestiegen und nun gewann die Nervosität die Oberhand, als die Triebwerke aufheulten.
Er sprach sie an, als das Flugzeug die Startbahn erreicht hatte und auf das endgültige GO wartete. „Es geht gleich los. Und machen sie sich keine Sorgen. Ich weiß ohne jeden Zweifel, dass nichts passiert. Ich fliege andauernd.“
Sie ruckte herum.
„Ja, ja, ich denke auch, dass alles gut gehen wird. Ich...“
Schließlich erreichten sie die vorgesehene Flughöhe. Die ganze Zeit war die Frau unter äußerster Anspannung gewesen und nun erlosch ihr Fieber und sie wirkte erschöpft.
„Entschuldigen sie, geht’s“, wandte er sich fürsorglich seiner Nachbarin zu.
„Ach, ja. Ach, so, ja, Danke. Ich heiße Roswitha Arden.“
Sie blickte ihn offen an.
„Ich heiße Hans Schmidt. Freut mich! Leider ein ganz alltäglicher Name.“
Er machte eine kurze Pause.
„Genießen sie doch einfach die Aussicht. Sie sind doch zweifellos noch nie geflogen.“
Das war nicht schwer zu erraten gewesen, dachte sich Roswitha.
Sie nickte und spielte mit ihren eingeschlafenen Zehen.
Die Turbinen brummten kontinuierlich.
Hans bestellte einen Tomatensaft für sich und einen Hagebuttentee für Roswitha, ohne sich nach ihren Wünschen erkundigt zu haben.
„Das ist aber aufmerksam“, bedankte sich Frau Arden.
„Woher wussten sie eigentlich, dass ich Tee wollte?“
„Reine Intuition.“
Er lächelte nichtssagend. So ein überlegenes Etwas strahlte er aus.
Sie schlürften an ihren Getränken und kamen ins Gespräch.
„Sie freuen sich auf ihre erste Flugreise, ich meine auf ihren ersten Urlaub seit langem “, erkundigte sich Hans höflich.
„Ja“, gestand Roswitha. „Und Sie?“
„Ich bin beruflich unterwegs. Etwas merkwürdig, sie dürfen aber nicht lachen.“
„Ich verspreche es“
„Ich arbeite freiberuflich. Wie soll ich es nur ausdrücken?“ Er hüstelte und rückte dann heraus.
„Ich bin nämlich Hellseher!“
Was es doch für Leute gibt?
„Na, so was!“ Roswitha war richtig baff.
„Ach, das ist ja interessant! Wie im Zirkus, oder wie die Wahrsager und Zauberer.“
„Nein, das nicht. Die arbeiten mit Tricks. Sie rufen eine Illusion hervor und für den tollen Effekt gibt es immer eine natürliche Erklärung. Ich aber bin ein wirklicher, wahrhaftiger Hellseher!“
Das hatte er so leise und mit so vollkommener Gleichgültigkeit heraus gelassen, dass Frau Arden erst gar nicht glauben konnte, was sie da gehört hatte.
Wahrscheinlich machte er sich bloß über sie lustig.
„Ein wirklicher Hellseher? Das gibt’s doch nicht! Sie meinen, sie können die Zukunft voraussagen?“
„Nein das nun nicht gerade. Ich kann nur in die Gegenwart blicken.“
„So, so“, meinte Frau Arden enttäuscht.
„Wenn ich ihnen das erklären dürfte.... Ich fixiere eine Person und kann ihnen sagen, woran sie im Augenblick denkt.“
Kumpelhaft knuffte sie ihn mit einem kleinen Stoß an und sie kniff ein Auge zu. Sie wollte zeigen, dass sie Scherz verstand.
„Ach, sie Schlimmer. Sie veralbern mich.“
„Nein! Passen sie auf. Ich will es ihnen veranschaulichen. Ich fixiere zum Beispiel die Stewardess.“ Das tat er.
„Und?“
„Sie dachte an die letzte Nacht, an ihren Freund.“
Freilich, der übliche Hochstapler, will sich nur interessant machen, dachte sie und ließ sich mit einem Schauern zurück lehnen. Das konnte man sich ja denken, dass so ein junges, adrettes Fräulein an ihren Freund dachte. Das war doch weitaus keine Kunst.
„Fragen sie die Stewardess! Fragen sie nach dem Namen des Freundes! Er heißt Mark und ist Pilot. Es soll die Fluglinie wechseln und das bereitet ihr Sorgen."
„Und wie wollen sie diese Behauptung beweisen? Sie glauben doch nicht, dass ich sie danach frage.“
Humbug. So wahr sie Arden hieß, sie würde sich nicht zum Gespött machen lassen.
Hans schnippte nach der blonden Stewardess, die gerade vorbei kam.
„Entschuldigen sie bitte. Wissen sie, wir hätten da ein Problem! Um uns die Zeit zu vertreiben haben wir ein kleines Ratespielchen veranstaltet.“
Die Blonde nickte wissend und lächelte.
„Nun, wir haben gewettet, wie ihr Freund heißt. Verzeihen sie diese Indiskretion. Nur den Vornamen. Könnten sie uns den nennen? Dann wissen wir auch, wer gewonnen hat.“
„Er heißt Mark“, nickte sie.
„Ist er vielleicht Pilot?“
Die Stewardess wandte sich ab und bestätigte überrascht und irritiert mit einem weiteren Nicken.
„Danke ihnen vielmals. Übrigens ihre Katze ist bei ihrer Tante gut aufgehoben.“
„Woher wissen sie.....“, die Stewardess stockte und blickte ehrlich überrascht, „dass ich mir um meine Katze sorgen mache?“
„Ach, nur so geraten, Frau Held!“
Kopfschüttelnd und verwirrt entfernte sich die Stewardess. Hans blickte triumphierend zu Roswitha. Die Arden blickte skeptisch und bewundernd zugleich. Die Stewardess hätte ja auch verheiratet sein können. Den Namen hatte er sicher vom Namensschild.
„Das ist ja erstaunlich!“
Hans nippte an seinem Tomatensaft.
„Aber eins verstehe ich nicht, inwiefern freiberuflich?“
„Tja, bei Geschäftsbesprechungen habe ich einen gewissen Durchblick, wenn sie verstehen, was ich meine. Das wird mir fürstlich bezahlt.“
Roswitha schlug erschrocken die Hand vor den Mund.
„Und diese Informationen petzen sie dann an ihren Auftraggeber weiter? Das ist ja entsetzlich! Das ist doch richtig gemein, ich meine den Anderen gegenüber.“
„Nun, es wird bei diesen Herren sowieso nicht ohne Bandagen gekämpft. Und überhaupt hat meistens jeder seine Leichen im Keller. Und da ich ebenfalls die Gedanken des Auftraggebers lesen kann, kann ich es so steuern, dass eine gewisse Gerechtigkeit erzielt wird. Der Kunde merkt davon nichts. Er meint natürlich, er hätte die anderen ausgestochen. Und ich lasse ihn in dem Glauben.“
Roswitha machte große Augen. Zweifellos ein Spinner. Blühende Phantasie
.
Er lächelte offen und erzählte weiter.
„Nehmen wir zum Beispiel an, dass bei einer Fähre, dass die Heckklappe einen kleinen Defekt hat, den niemand bemerkt. Ich merke es und kann warnen.“
Frau Arden erinnerte sich im Hinterkopf an ein entsprechendes Fährunglück.
Dann blitzte es auf. Sie hatte den aufgeblasenen Lügner am Wickel!
„Aha! Die Heckklappe und ihre Gedanken! Mein Gott, wie intensiv wohl so eine Heckklappe denken kann“, schmunzelte sie mit ätzendem Sarkasmus.
„Sie strahlt aus.“ Roswitha Arden schüttelte den Kopf.
„Also wissen sie“, der Mund verzog sich spöttisch, „ich nehme ihnen ja vielleicht sogar ab, dass sie Gedanken erahnen können. Man hat ja schon alles mögliche gehört. Gehirnströme, Gedankenübertragung, Telepathie, usw., aber bei festen, toten Körpern etwas zu spüren, das machen sie mir nicht weiß! Das geht dann doch zu weit!“
Hans räusperte sich.
„Alles um uns herum ist in Bewegung.“
Er hatte den Kopf nach oben gerichtet und sprach, als würde er zu Gott aufschauen.
„Alles umschließt uns. Die Atmosphäre, der Wind, die Erde, das Sein. Alles bedeutet Leben. Der Baum, der Tisch, das Erz, der Morgentau, die Tiere.“
Er schmiss seinen Kopf ruckartig zu ihrer Seite.
„Und alles sendet Wellen aus, strahlt. Selbst das Atom!“
Roswitha klappte ihren Mund wieder zu.
Eindeutig zuviel Star Wars gesehen!
HiHi. Die Macht sei mit dir!
Hans stierte in Richtung Pilotenkanzel.
„Wir müssen uns anschnallen. Bald kommen wir in schwierige Windverhältnisse mit Seitenwinden und Luftlöchern, aber es wird nicht lange dauern. Sie müssen keine Angst haben.“
So geschah es auch.
Danach schwieg sie.
Sie beschloss über den ganzen merkwürdigen Blödsinn einfach hinweg zu schlafen.
Alles nur Zufall, beschloss sie bockig.
Auch er lehnte sich nun zurück, um zu ruhen. Er hatte Roswithas Einstellung lesen können. Zweifel war er gewöhnt. Es machte ihm nichts aus. Er wusste, was er konnte.
Hans erwachte etwas träge. Bis zur Landung blieb nicht mehr viel Zeit.
Schließlich überfiel ihn doch ein Drang, dem sich auch ein professioneller Gedankenleser nicht entziehen konnte. Er musste auf die Toilette. Er ging den Gang nach hinten. Mehrere Personen mit denselben Gedanken hatten eine Warteschlange gebildet. Während er so dastand schnappte er umherschwirrende Gedanken auf. Er filterte, ja präparierte einzelne heraus, bis Einer als deutliches Bild vor seinem inneren Auge stand, wie ein Strang, den man entknotet hat. Er musste innerlich kichern. Da hatte ein schüchterner Bursche Probleme, welche Lügen er seiner Frau hinsichtlich der Geschäftsreise auftischen könnte.
Plötzlich durchfuhr es ihn, wie ein Stromschlag. Ein intensiver Gedankenlaser explodierte.
Um Himmels Willen! Das konnte doch nicht wahr sein! Da plante einer eine Flugzeugentführung!
Dieser Jemand plante Massenmord! Er würde sich durch nichts aufhalten lassen. Dieser Jemand schien absolut skrupellos zu sein. Er kannte keine Rücksicht, kein Erbarmen. Er verfolgte den Gedankenstrang, wie wenn er eine Ankerleine einholen würde. Zumindest gedanklich war dieses Vieh von einer absoluten Unmenschlichkeit.
Hans musste sich an einer der Rückenlehnen festhalten.
Dieser Mann hatte offensichtlich Komplizen. Sie alle waren auf irgendeine Weise bewaffnet. Fast wie Einzelkämpfer einer Spezialeinheit! Das Waffenarsenal reichte von Pistolen bis zu Maschinengewehren. Ja sogar mehrere Handgranate konnte er sehen. Die übrigen Luftpiraten, die einen anderen Gedankenzweig touchierten, konnte er nicht genau ausmachen. Die Figuren waren etwas verschwommen. Er konnte sie nicht eindeutig orten. Sie waren wie in einem schummrigen Nebel, in einem Sumpfgebiet nicht zu erfassen. Vielleicht war es nur ein Komplize? Verdammt!
Wie hatten sie nur dieses immense Waffenarsenal an Bord schmuggeln können? Heutzutage! Unter den gestrengen Kontrollen? Das Schlimmste war, und das gab ihm einen richtigen Stich im Kopf, sie waren zu allem bereit. Auf ihr eigenes Leben pfiffen sie. Die Gedankenleitung vibrierte förmlich vor Entschlossenheit. Sie hatten nur ihren Auftrag zu erfüllen: Terror! Wenn sie dabei starben, würden sie das völlig ohne Bedauern in Kauf nehmen. Jemanden umzubringen war für sie praktisch ein Sieg. Gewinn! Skrupellos, gewaltverherrlichend zersprangen die Gedankenblitze in seinem Hirn. Es tat sehr weh. Diese Intensität!
Wer waren diese Bestien?
„Gehen sie heute noch auf die Toilette, oder lassen sie mich vorbei“, wurde er von einem Herren hinter ihm angeschnauzt.
Hans befand sich immer noch in Trance, betrat das enge Kabuff, schloss zu. Er setzte sich auf die blecherne Kloschüssel und hielt seinen Kopf in den Händen. Der Kopf brummte, die Düsen auch. Ein einziges Brummen.
Du musst nachdenken, dachte er bei sich. Was kann ich nur tun?
Mehrere Entführer wollten Blut sehen. Das war für ihn Tatsache. Ohne jeden Zweifel! Er musste etwas unternehmen, und zwar bald! Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, um die Katastrophe abzuwenden. Diese Kerle wussten aber nicht, dass er Bescheid wusste. Ein Vorteil!
Er beschloss vorerst unauffällig wieder an seinen Platz zurückzukehren, dann würde er die Gedanken herausfiltern, um auf dem Laufenden zu bleiben.
Dann müsste er irgendwie die Stewardessen informieren. Und das war wahrscheinlich die schlimmste Hürde. Er spülte.
Pschsch! Ein Gurgeln. Ein widerliches Absauggeräusch folgte. Kein gutes Omen.
Er hangelte sich den Gang zu seinem Platz zurück.
Frau Arden war inzwischen aufgewacht.
Trotz allem wollte er möglichst unbefangen wirken, während sich seine eigenen Gedanken überschlugen. Er versuchte sich zu konzentrieren, aber Roswitha Arden war nach ihrem Schläfchen von geradezu unbändiger Energie. Sie plapperte ohne Unterlass. Schließlich versuchte er den Redeschwall zu unterbinden.
„Es tut mir leid, Frau Arden, aber ich habe etwas Kopfweh“, entschuldigte er sich.
Hoffentlich gab sie nun Ruhe! Leider hatte Roswitha eine mütterliche Ader.
„Sie sind ja ganz blass? Fehlt ihnen was?
„Nein, nein, es geht schon.“
„Ich habe da wunderbare Tabletten.“
Sie kramte in ihrer Handtasche.
„Nein, Dankeschön, aber ich brauche sie nicht.“
Nur ja keine Tablette! Nichts durfte das Gehirn benebeln. Nichts durften die Gedankenstrahlen verfälschen. Da rief doch diese verblödete Arden tatsächlich nach der Stewardess. Sie kam auch prompt. Es war wieder Frau Held, die Blondine mit ihrem Pilotenfreund im gedanklichen Gepäck.
„Was kann ich denn für sie tun?“ Roswitha zeigte hinüber.
„Dem Herren ist nicht wohl.“
Da sah er eine Chance für sein Dilemma. Vielleicht eine gar nicht so schlechte Idee, dachte er.
„Es wird sicher besser, wenn ich aufstehe“, meinte er benommen und richtete sich auf. Er torkelte ein bisschen und verfolgte seinen Plan. Er musste die Stewardess allein zu fassen kriegen.
„Hätten sie vielleicht eine Tablette? Ein Glas Wasser?“
„Natürlich, ich bringe es sofort.“
„Darf ich mit ihnen gehen? Die Füße sind schon ganz taub.“
Sie warf etwas irritiert ihren Kopf herum.
„Ja, wenn sie wollen.“
Etwas ungewöhnlich, dachte sie.
Zurück blieb eine beleidigte Roswitha mit ihren verschmähten Wunderpillen.
Ein merkwürdiger Kauz war er, so schloss Frau Arden. So befremdlich! Erst war er nur komisch gewesen. Und nun? Fahrig, blass, unwirsch. Er wird wohl ernstlich krank sein und das wahrlich nicht nur körperlich!
Ihr hingegen ging es prächtig. Sie musste leise in sich herein lachen. Sie flog zum ersten Mal und so einem alten Flughaudegen wurde schlecht.
Hans hatte inzwischen mit Frau Held die Bordküche erreicht. Ein Vorhang war davor. Sie ging hinein und er folgte ihr. Dann griff er hart nach ihrem Arm.
„An Bord ist ein Killerkommando! Sie wollen die Maschine entführen“, zischelte er.
„Wie bitte?“
„So glauben sie mir doch! Wir müssen etwas unternehmen“, bettelte er verzweifelt.
Die Stewardess stutzte. „Woher wissen sie das denn?“
Er stockte kurz. „Ich..äh, ich habe ein Gespräch belauscht.“
Das mit der Hellseherei würde nur zu Komplikationen führen und kaum glaubhaft sein. Besser war es Tatsachen auf den Tisch zu knallen. Ohne Umschweife!
„Ach, da machen sie sich mal keine Sorgen! Sie glauben gar nicht, was die Leute bei einem Flug so alles schwatzen.“
Sie versuchte sich aus seiner Hand zu befreien.
„Und nun lassen sie doch bitte meinen Arm los.“
Er verstand ihr Entsetzen, bemerkte ihre aufsteigende Angst und ließ los.
„Verzeihung! Aber ich bin mir ganz sicher. Ich habe keine Zweifel! Es sind Mehrere! Sie sind schwer bewaffnet. Völlig skrupellos!“
„Ja, ja, jetzt nehmen sie erst einmal diese Tablette.“
„Tablette!!“
Er schrie spitz auf, dämpfte aber dann unter gewaltiger innerer Anstrengung seine Stimme wieder.
„Verstehen sie doch! Dreckige Entführer! Sie müssen den Piloten verständigen“, presste er hervor.
Er krallte sich wieder an ihren Unterarm.
Seiner Meinung nach war diese Gans total vernagelt. Sie würde erst einmal mitspielen, entschied Frau Held. Es erschien ihr das Vernünftigste. Ich muss ihm erst mal glauben, dachte sie. Diesen Gedankenstrahl fing Hans Schmidt mit Wohlwollen auf. Endlich kam diese Tussi zur Vernunft.
„Gehen sie ganz still zu ihrem Platz zurück. Ich mache Meldung beim Kapitän. Verhalten sie sich unauffällig.“
„Das ist alles, was sie tun wollen?“
„Erst einmal“, tuschelte sie verschwörerisch.
Dass sie dem Piloten Bescheid geben wollte, schien den Mann einigermaßen zu beruhigen.
„Wo sitzen sie denn, ich meine die Terroristen. Wo ungefähr wenigstens“, raunte sie ihm zu.
Was hatte sie für Gedanken? Täuschte sie ihn? Es war zu verworren. Er konnte sich nicht gleichzeitig auf alles Mögliche konzentrieren. Erst mal durfte er die Wellen, die hinten vom Flugzeug kamen nicht verlieren.
„Ich weiß noch nicht genau. Ich muss erst nachdenken.“
Verwirrt fuhr Hans sich durch die Haare.
„Aha“, fühlte sich Frau Held in ihrem Zweifel bestätigt. Er wusste von einem Killerkommando, hatte die Kerle angeblich belauscht, aber wo die spintisierten Gestalten saßen, das wusste er offensichtlich nicht. Und wo er selbst saß, das wusste er wohl auch nicht genau, so wie er herum stelzte. Na ja.
„Sie verständigen den Kapitän doch!“
„Ja, sofort. Wir dürfen nur kein Aufsehen erregen. Nun gehen sie schon! Ganz ruhig.“
Sie langte zum Bordtelefon.
Sie telefonierte. Er war schon auf dem Weg, da bekam er noch die ersten Wortfetzen mit.
„Ja, ein Passagier....macht Schwierigkeiten... Ja...Er ist gleich wieder am Platz...Weis nicht...Scheint unberechenbar... Ja, ja, mache ich...Nein, im Moment verhält er sich noch ruhig... Ja , ich gebe den anderen Bescheid“
Also so war das! Dass die blöde Schlampe die Nachricht über ihn selbst weitergeben würde, das hatte er vorher noch nicht ablesen können.
Sie hielten ihn offensichtlich für geistesgestört.
Diese Hilflosigkeit! Zuerst aber zum Platz zurück. Er musste herausbekommen, wo die Verbrecher steckten. Am Besten er versuchte den Highjacker genau heraus zu schälen. Wer in der Nähe der Toilette diese diabolischen Gedanken hatte. Während er sich den Gang zurück bahnte, überlegte er fieberhaft. Diese blöde Held konnte er abschreiben. Blond halt und wahnsinnig begriffsstutzig.
Fahrig nahm er wieder neben Roswitha Platz. Die Olle würde ihn auch nur nerven, aber er konnte ihr nicht direkt aus dem Weg gehen. Sie fixierte ihn mit gewissem Misstrauen und er versuchte zu lächeln.
„Geht’s besser?“
Er antwortete nicht, sondern wendete nur vage die Hand.
„Wenn ich ihnen irgendwie helfen kann.“
„Nein, danke, es geht schon.“
Jetzt galt es sich zu sammeln. Er lehnte den Kopf zurück und tat so, als ob er noch eine Mütze Schlaf nehmen wollte. Das war am unauffälligsten und ermöglichte eine bessere Konzentration. Er kalibrierte seine Antennen auf die Nähe des Hecks. Er müsste nur den Strahl, die richtige Gedankenwelle erwischen.
DA! Er hatte ihn!
Jäh wurde er unterbrochen.
„Verzeihung.“
Frau Arden quälte sich aus ihrem Sitz. Sie kletterte über ihn hinweg und ging hinter zu den Toiletten.
Fast hätte er die Übertragung abreißen lassen. Da war die Gedankenwelle wieder.
Mein Gott! Er sah Blut spritzen! Eine Handgranate wurde geworfen. Sie explodierte. Und sie riss ein Riesenloch in die Schutzhülle. Der Unterdruck saugte ein paar arme Schweine samt ihren Sitzen aus dem Rumpf. Entsetzlich!
Jetzt wusste er auch, woher die Gedanken kamen. Es musste die vorletzte Reihe sein. Auf der linken Seite. Verdammt, verdammt!
Die wollten das Flugzeug gar nicht entführen, sie wollten es sprengen. Mein Gott! Er war schweißgebadet.
„Frau Arden?“
Die Stewardess Frau Held stand plötzlich neben Roswitha und hatte sie flüsternd vor der Toilette angesprochen.
„Könnte ich sie einmal sprechen?“
Roswitha kam nach dem Toilettengang wieder an ihren Platz zurück. Hans musste aufstehen, um sie einfädeln zu lassen. Dann geschah alles blitzschnell.
Ein Steward packte von hinten zu, ein Skysheriff riss ihn zu Boden und hielt ihm eine Spezialpistole in den Nacken und nagelte ihn am Boden fest. Voll Verzweiflung rannen Hans Schmid die Tränen durchs Gesicht. Wollten die denn gar nichts kapieren, diese Blödiane! Handschellen schnappten hinter seinem Rücken um seine Gelenke. Er wurde in den vorderen Teil des Flugzeugs gezerrt.
„Ihr Idioten! Ihr verdammten Idioten! In der vorletzten Reihe sind sie!“
Er brüllte und wusste trotzdem, dass das gerade der falsche Weg war. So glaubte ihm keiner, aber seine Verzweiflung schlug durch.
Auch Frau Held stieß nun zu der Truppe. Sie überblickte die Lage und meldete über Telefon an das Cockpit.
„Alles unter Kontrolle.“
Wie gut war doch ihr Instinkt gewesen war. Und der Hinweis von der ältlichen Dame, wie dieser angebliche Hellseher, dieser Hans Schmidt ihr nicht ganz geheuer gewesen war. Frau Ardens Meinung hatte sie glücklicher Weise daran gehindert die Sache auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie hatte alles in die Wege geleitet. Der Skysheriff und der Steward hatten toll zusammen gearbeitet. Sie konnte stolz sein.
Hans schrie aus vollem Halse um sich.
„Was heißt ihr alles unter Kontrolle, ihr Arschlöcher!“
Er schlug mit den Füßen. Die Handschellen schnitten in seine Gelenke. Sein Körper bäumte sich mit schier unmenschlicher Kraft auf.
„Ich will nicht sterben! Ich will nicht sterben!“
Seine Stimme versank zu einem Schluchzen, das aus seiner innersten verzweifelten Seele entwich und in einem von unendlicher Pein angefüllten Weinen zerbrach. Sie schnallten ihn auf einem Extra Notsitz fest. Der Skysheriff nahm ihm gegenüber Platz und wies die Stewardess an.
„Alles im grünen Bereich. Dieser Herr gibt Ruhe“, spuckte er aus.
Die Stewardess nickte.
„Der Kapitän hat auch schon das Bodenpersonal verständigt. Sie kommen gleich zur Rollbahn hinaus. Er kommt dann in psychiatrische Behandlung. Die Staatsanwaltschaft schaltet sich auch ein.“
Frau Held wurde ruhig.
Aufregend war es doch gewesen.
Hans wurde ruhig.
Er gab sich notgedrungen seinem Schicksal hin. Es war unausweichlich. Diese Vollpfosten würden schon merken, wenn es los ging, sofern sie überhaupt bei einer Explosion dazu Gelegenheit hatten. Zweifellos würde es schnell vorbei sein. Wahrscheinlich wurde das Flugzeug beim Landeanflug gesprengt. Dann war jegliche Überlebenschance zunichte gemacht.
Bumm!
Er hätte sich sogar geopfert, um die Katastrophe zu vermeiden. So selbstlos wäre er gewesen. Sollten sie doch sehen, wie es sie zerfetzte!
Er konzentrierte sich dennoch intensiv auf die vorletzte Reihe.
Der Luftpirat stand auf, setzte in aller Ruhe eine Maschinenpistole zusammen. Aus der Mitte des Ganges brach eine rassige Athletin katzenhaft aus der Sitzreihe hervor, eine Pistole im Anschlag.
„Köpfe runter“, schrie die Terroristin.
„Wer sich bewegt wird erschossen!“
„Mach zu, mach es schnell“, hauchte die Terrorkatze.
Jetzt zog der Kämpfer den Sicherungsstift ab, nickte seiner Mitkämpferin zu. Ein letztes Mal. Dann schloss der Kämpfer die Augen.
Hans wurde ohnmächtig.
Das Flugzeug war reibungslos gelandet.
Die Passagiere waren alle noch verwirrt, verängstigt, hatten sie doch den um sich schlagenden Irren Live erlebt. Wie er tierische Laute gebrüllt hatte.
Frau Arden lächelte dankbar, als die nette Stewardess, Frau Hold, deren Haare etwas zerzaust waren, sie zum Ausgang begleitete.
„Es ist ja alles vorbei! Er ist schon aus dem Flugzeug gebracht worden.“
Dankbar nickte Roswitha.
„Er kam mir gleich so komisch vor. So ein Blödsinn! Hellseher! Ich habe schon immer daran gezweifelt!“
„Wie bitte?“
„Ach nichts.“
Frau Arden sah noch, wie ein Krankenwagen unter Blaulicht und Martinshorn über die Rollbahn schoss, um den irren Hans Schmid abzuholen.
In der vorletzten Reihe des Fliegers hatte der kleine Holger von all dieser Aufregung nichts mitbekommen. Er hatte unruhig geschlafen. Trotzdem weinte er nun.
„Mama, ich hatte einen fürchterlichen Alptraum. Das Flugzeug ist gesprengt worden!“
Er schluchzte.
„Und sie hatten Schießeisen! Eine ganz böse Frau und ein Monstermann!“
Seine Mutter nahm ihn in den Arm und tätschelte seinen Kopf.
„Ist ja schon gut. Es war ja nur ein Traum. Es ist ja nichts passiert. Ich habe dir doch gesagt, dass du nicht immer so viele Räuberpistolen im Fernsehen anschauen sollst.“
Texte: G.v.Tetzeli
Bildmaterialien: Monika Heisig
Tag der Veröffentlichung: 08.03.2013
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