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An einem kleinen Laden, links in einer modrigen Straße, die direkt nach Soho führte, würde fast ein Jeder an dem winzigen Schaufenster vorbeigehen. Die Scheibe war schon etwas milchig geworden und wies einen Jahre alten Staubfilm auf. Es enthielt nur alte, vergilbte Atlanten. So klein das Schaufenster war, so klein der Laden selbst. Hinter dem Tresen verrichtete ein Alter, schon mit krummen Rücken, offensichtlich verschiedene, fahrige Verwaltungseintragungen in einem dicken Folianten, der vor ihm aufgeschlagen war, seine Eintragungen. Er kratzte mit einer vorsintflutlichen Feder, die mindestens so alt war, wie er selbst, über dem aufgeschlagenem Buch. Eine Biedermeierlampe erhellte die Szene, denn es war Winter und schon Spätnachmittag. Der ganze Stolz des Männchens war eine alte Waage, die neben ihm auf dem Ladentisch stand. Eine, die noch mit einzelnen Gewichten ausmaß.
Zu seinen von Skurrilitäten nicht gerade arm ausgestatteten, büchergestopften Laden, war noch eine Spieluhr zu zählen, die er über die Maßen liebte. Sie war eigentlich sein ein und alles. Sein Lebensinhalt, wenn man so sagen möchte. Wenn man sie aufzog, tanzte eine Ballerina im Kreise. Sich nicht nur um sich selbst drehend, sondern auch dabei einen elliptischen Kreis umschreibend, trudelte sie in erstarrter Anmut, wobei eine hübsche Melodie dazu krächzte. Sie musste uralt sein und vielleicht gehörte sie überhaupt zu den ersten Instrumenten dieser Art, die je hergestellt worden waren. Ansonsten fand man eigentlich alle Möglichen Kuriositäten, Plunder und wenn man eine Nase dafür hatte, so konnte man unter Umständen sogar etwas von Wert ergattern.


Der Buchhändler, dessen Name soviel ich herausbekommen habe, Josuah Häckli war, hatte die liebliche Ballett-Tänzerin gerade in Gang gesetzt, als das Glöckchen am Türrahmen bimmelte und ein Mann in den Laden hereingepoltert kam.
Der Mann, ein Tuch vor das Gesicht gebunden und mit einem Strumpf maskiert, fuchtelte energisch mit einem Revolver herum. In der anderen Hand schwenkte er eine größere Arzttasche aus Leder, wie sie früher üblich war und die der alte Mann mit Namen Häckli ihm bestimmt gerne abgekauft hätte. Sie war aus dunklem Leder und würde in diese Umgebung sicherlich gut hineinpassen.
Die Stimme des Unholds klang schnarrend und wild entschlossen. Er mochte ca. 1,80 Meter groß sein, wirkte trotzdem irgendwie untersetzt und kräftig. Sein schwarzer Rollkragenpulli und seine schwarze Hose ließen ihn wie die personifizierte Gestalt des schwarzen Mannes erscheinen. Darüber trug er einen weiten Mantel.
„Geld her, oder es kracht“, böllerte er los und ließ den schweren Revolver drohend tanzen.
Der Buchhändler tauchte langsam mit seinem Kopf hinter dem Tresen hervor, wo er vor Schreck geduckt Schutz gesucht hatte.
„Mach die Kasse auf“, wurde befohlen.
Der alte Mann tastete sich entlang des Tresens, während er immer wieder ängstlich in die endlos erscheinende, großkalibrige Mündung des Revolvers blickte.
Häckli ging zögerlich zu der alten Kasse am Ende des Ladentisches. Sie hatte einzelne Tippfelder, wie bei einer Schreibmaschine und darüber ein Sichtfenster, in dem die eingetippten Zahlen auf Plättchen hochfuhren. Im großen und ganzen war das Ding ein Monstrum, schwer, solide. Trotzdem sah es irgendwie, wie ein Schmuckstück aus, denn seine mattierte, glänzende Metalloberfläche war reich ziseliert und ornamentiert. Josuah tippte 0.00 ein, die Plättchen fuhren hoch und Häckli betätigte die riesige Kurbel auf der rechten Seite, die einen Schwengel aus Holz hatte. Die Schublade fuhr mit Getöse heraus, das mit einem lauten Klingeln begleitet wurde. Die Schublade bestand aus mehreren Fächern und enthielt nur ein paar Münzen, ein paar wenige Scheine, die nur als Wechselgeld gedacht waren. Einnahmen waren an diesem heutigen Tag noch nicht zu verzeichnen. Wahrscheinlich würde auch nur wenig hinzu kommen. Der Räuber musterte die armselige Beute.
„Ist das alles?“, fuhr er den Händler wutschnaubend an.
Der alte Mann, zittrig, weiß, wie die Wand, schielte zur Balletttänzerin herüber, als ob sie ihm helfen könnte. Sie aber drehte nur gelassen ihre Kreise weiter, aber sie wurde nun deutlich langsamer, weil sich die Aufzugsfeder im Inneren des Gehäuses zunehmend entspannte. Der Ganove griff über den Tresen raffte das Geld aus der Kasse zusammen und stopfte es in seine Arzttasche.
„Wo ist der Rest?“
Häckli sagte verzweifelt, dass er nicht mehr habe. Er sah sich in dem Raum gehetzt um in der Hoffnung fündig zu werden, obwohl er natürlich genau wusste, dass dies wirklich alles an Barschaft war, die er besaß.
Und dann zeigte er seine Buchführung, wobei er ihm den offenen Folianten zudrehte. Der Maskierte fuhr mit dem Pistolenlauf die Zahlenkolonnen entlang. Tatsächlich konnte das Hutzelmännchen nicht mehr Barschaft haben, musste er zu seinem Bedauern feststellen. Jeden Gewinn hatte dieser Idiot in neue Investitionen herein gesteckt. Der Verbrecher konnte es nicht fassen und sah sich zum ersten Mal in dem schummrigen Raum um. So viel Geld für so alten Plunder?
„Was kann ich ihnen denn Wertvolles anbieten?“
Josuah rang verzweifelt die Hände. Er hoffte dem Menschen ein Angebot zu machen. Er sollte irgendwie zufrieden gestellt werden, damit er schnellstens aus seinem Blick verschwand. Das war sein einziger Gedanke.
„Hast du noch ein Hinterzimmer?“, schnarrte es.
„Ja“
„Los gehen wir“, wedelte der Mann mit dem Revolver.
Sie gingen beide nach hinten. Das winzige Büro war von der gleichen Modrigkeit, von dem gleichen Chaos und derselben Unordnung, wie der vordere Raum. Der Mann sah sich gründlich um. Er durchstöberte veraltete Aktenschränke, riss Schubladen aus dem Schreibtisch heraus, aber er fand nichts von Wert. Dann straffte sich die Strumpfmaske, als er den Tresor in der Ecke entdeckt hatte. Er lächelte den Räuber an, wie eine magnetische Diva.
„Los, mach auf, alter Kacker. Der Ton war unmissverständlich und Joshua Häckli beeilte sich einen großen Schlüsselbund hervor zu kramen. Er schloss auf und mit einem schmatzenden Ruck öffnete er die schwere Türe. Der Tresor enthielt nur altes Geschreibsel, das in Wirklichkeit aus dem 15. und 16. Jahrhundert stammte und einen erheblichen Wert darstellte. Der Eindringling fledderte wütend die Aufzeichnungen in den Raum. Für ihn stellten sie keinen Wert dar.
Dann nahm sich der zornige Mann wieder zusammen.
„Also gut, gehen wir wieder nach vorne.
Häckli gehorchte. Der gemeine Kerl hatte sich in aller Ruhe auf den Tresen gelehnt und spielte ostentativ mit dem Revolver herum.

„Also gut, Ich gebe Dir noch eine Chance“, lächelte der Unbekannte diabolisch durch die Strumpfmaske.
Ihm war eine spaßige Idee gekommen. Er konnte diesen Trottel ruhig noch ein wenig zappeln lassen. So schnell würde sowieso niemand in diesen verlotterten Laden kommen. Er hatte also genügend Zeit für seine Spielchen. Behutsam legte er seine Tasche samt erbeutetem Inhalt auf die altmodische Waage, deren eine Schüssel geräuschvoll sich zu Boden neigte. Jetzt sah Josuah auch, dass der maskierte Handschuhe trug.

Im Hintergrund quietschte die Musik dazu unmelodisch aus der Spieldose, auf der die Balletttänzerin mit ihren hocherhobenen Armen immer noch langsam ihre Kreise zog. Dabei blieb sie in ihrer Pose anmutig, wie zuvor. Es machte sogar eher einen romantischen Eindruck im Gegensatz zu ihrem anfänglich wirbelnden Crescendo. Sie schwang einfach himmlisch. Dass sie noch immer tanzte schien ein Wunder. Schon längst müsste die Feder abgelaufen sein. Erst allmählich wurde die Balletttänzerin wirklich müde. Nur noch unwillig wollte sie die nächste Kreisbahn vollenden Mit einem letzten Rütteln, das von einem quietschenden Ton begleitet wurde, erstarrte sie in ihrer Pose, gleichsam als wäre sie verzaubert worden, wie Dornröschen.
Josuah Häckli liebte diesen Augenblick, weil ihn das immer davon träumen ließ, dass die Zeit stehen blieb. Er meinte es in seinem Inneren zu wissen. Er war sich sogar irgendwie sicher. Und das war auch der Grund, dass er in seinem Laden seit Jahrzehnten keine Veränderung mehr durchgeführt hatte. Eine geradezu mystische Angst, dass die Balletttänzerin vielleicht nicht mehr tanzen würde, hatte ihn davon abgehalten Veränderungen durchzuführen. Veränderung bedeutete Zeitfluss. Das konnte er nicht zulassen! Josuah Häckli war überzeugt, dass diese Spieluhr mit der anmutigen Balletttänzerin Einfluss auch auf seine eigene Zeit haben musste. Ja, er war sich dessen sogar gewiss. Wäre er sonst so alt geworden, wenn es nicht immer wieder einen Zeitstop für ihn gegeben hätte, während draußen, das heißt genaugenommen außerhalb seines Ladens, sich die Veränderungen diabolisch ausbreiteten und in immer schnelleren, teuflischen Eruptionen dahin rasten? Man sehe sich nur all dieses neumodische Zeugs an, das die Welt angeblich so fortschrittlich machte. Es bewirkte nur eine Beschleunigung der Zeit. Computer, Autos, Hektik! Josuah sah es doch, dass keiner mehr Zeit hatte. Sie alle gingen nicht, sie liefen, hasteten. Sie schwärmten in den Untergrund, wie Maulwürfe. Sie erklommen Hochhäuser, die nicht hoch genug sein konnten. Ja, diese Toren! Sie dachten alles nur in einer Dreidimensionalität. Aber was war mit der Zeit? Sie war ihnen Wurst. Alle, alle jagten nur irgendeinem Mammon nach. Geld, Macht, Gier beflügelte sie und das möglichst schnell! Denn sie hatten nur wenig Zeit. Sie hatten keine Zeit mehr für die Schönheiten des Lebens, keine Zeit zum Nachdenken. Kein Bewusstsein für die Natur. Und Häckli war sich sicher, dass sie die Schönheit und Anmut dieser, unserer Welt gar nicht mehr erfassen konnten, weil andauernd die Zeit sie drängte.
Vor all diesem hatte ihn die Ballerina auf der Spieluhr bewahrt. Jetzt stand sie wieder still und die Zeit schien angehalten worden zu sein. Er würde erst wieder älter werden, wenn er sie wieder aufzog. Er musste sie immer wieder aufziehen, denn er war nicht so vermessen ein ewiges Leben haben zu wollen. Er wollte keine Veränderung seines Ladens, keine Veränderung durch Abriss des baufälligen Hauses miterleben müssen. Denn er war sich im Klaren darüber, dass es einmal so kommen musste. Aber im Augenblick stand die Zeit still, für ihn und für seinen Laden. Wie zierlich doch die Stellung ihrer Hände war.

„Und nun lege soviel Gewicht auf den Teller der Waage, dass sie im Gleichgewicht ist! Mach schon!“
Josuah wurde aus seinem verträumten Blick auf die Spieluhr und den damit verbundenen Gedanken rüde in die Wirklichkeit und die Gegenwart zurück gerissen. Es sah wieder die vermummte Gestalt, den Revolver und eilte die verschiedenen Gewichte, die er sorgsam in einer Vitrine hinter sich aufbewahrte, nun auf dem Tresen aufzureihen.
„Etwas mehr Pfeffer unterm Arsch, wenn ich bitten darf, alter Zausel!“
Josuah fing mit dem größten Gewicht an, fügte weitere dazu, nahm wieder welche weg, platzierte andere und trahierte so die Waage aus.
„Nun, Meister“, bellte der Fremde spöttisch, „wie viel ist es denn?“
„Ähm, 3,5 Kilo.“ Pause. „Auf jeder Seite.“
„Fein“ Der Verbrecher nahm die Tasche wieder herunter.
Wie viel Unzen sind das?“
„Wieso Unzen“, fragte Häckli völlig perplex.
„Weil ich es sage“, schnappte der Andere zurück und unterstrich seine Forderung, indem er wieder den Revolver in Anschlag brachte. Direkt vor Josuahs Nase. Der Fremde hatte selbst keine Ahnung um wie viel Unzen es sich handeln mochten. Er weidete sich einfach nur an der Angst des Hutzelmännchens. Es machte einfach Freude die Kreatur leiden zu sehen, nur weil er darüber gebieten konnte. Er war der Herrscher und konnte tun was ihm passte. Er fand diesen Einfall den Ladenzausel unter Druck zu setzen einfach genial.
Josuah schwitzte und begann im Kopf zu rechnen. Darin war er geradezu Meister. Heutzutage hatten das alle natürlich mit ihren elenden Taschenrechnern verlernt. Ein Opfer ihrer Zeit.
„Also eine Unze sind ungefähr 31,1 Gramm. 3,5 Kilo sind 3500 g. Wenn ich 3500 g durch 31,1 teile dann habe ich die Anzahl der Unzen. Richtig?“ Er blickte hoffnungserheischend in den Lauf.
„Mach! Wie viel!“
„112,5 Unzen!“
„Prächtig, brav!“ Der Eindringling ließ den Arm mit dem Revolver kraftlos und lässig herunterfallen.
„Und nun rechne ich dir was vor, spaßeshalber, was es dich kosten würde.“
Der Bestrumpfte schien sich an der Angst des alten Mannes zu weiden. Überhaupt schien er schlichtweg einen Heidenspaß zu haben.
„Ich meine, dass Du am Leben bleibst!“
Ein keckerndes Lachen folgte.
Josuah kletterte um den Tresen herum und zog schnell den Schlüssel ab, mit dem er die elfengleiche, kleine Ballerina in Gang setzen konnte. Es war ihm wichtig die Zeit an zu halten. Der Schlüssel glitt in seine ausgebeulte, alte Hosentasche. Dem Eindringling war dies nicht entgangen. Er schielte misstrauisch herüber.
„Na, was ist nun, du Memme!“ Der Revolver hatte wieder seinen Auftritt.
„Was meinst du wie viel dich dein Leben kostet?“
„Weis nich“, zitterte Josuah.
„Na, ich will mal nicht so sein“, meinte der Mann generös.
„Zeig mal, was unter diesem Scheißdreck was wert ist.“
„Schauen sie hier“, wusste der Alte.
Er eilte zu dem Stövchen, das er an der Wand sein Plätzchen gefunden hatte. Häckli sah unbeholfen aus und vor allem harmlos, als er sich den Weg durch den überfüllten Laden bahnte. Der Maskierte sah ab und an zu der Ladentüre, aber natürlich, wie er vermutet hatte, rührte sich nichts. Es drohte keine Gefahr. Er konnte das Spielchen treiben, solange es ihm gefiel.
„Also, was ist, alter Scheißkerl?“
Der Scheißkerl zog einen uralten, riesigen Buchordner aus dem Regal.
„Es ist eine Erstausgabe.“ Josuah stammelte die Worte nur.
Der Eindringling lachte hingegen durch seine Maske.
„Verarschen kann ich mich selber“, so knurrte der Unhold hinterrücks durch die Strumpfseide.
„Moos, Alter, etwas, das man umsetzen kann! Du bist schon zu alt, du kapierst einfach gar nichts. Und was ist mit dieser Scheißspieluhr, auf die du dauernd hingaffst?“
Der alte Mann wirkte irgendwie irritiert, aber dennoch fleißig bemüht den Anforderungen gerecht zu werden. Er beeilte sich dem Fremden gegenüber eine gute Figur zu machen und stieg sogar auf eine betagte Leiter hoch, zog ein großes Buch aus seinem Repertoire heraus und hastete wieder zu dem Vermummten, ohne auf die Frage nach der Spieluhr einzugehen.
„Das ist ein einzigartiges Stück“, versicherte er.
„Schauen sie nur, den Buchrücken. Es ist von 1742! All diese Abbildungen sind Tausende von Dollars wer. Bestimmt! Sind alles Stiche. Gefärbt von Hand. Damals hat man noch für so was Zeit gehabt.“
„Also, was ist es wert, deiner Meinung nach?“
„Also bestimmt 2000 Dollar! Verlag Velhagen und Klasing! Damals eben.“
„Viel zu schwer! Unbrauchbar.“ Der Maskierte hatte ein neues Objekt erfasst. Joshua kletterte wieder herauf, um das Buch zurück zu stellen, dann stieg er wieder mühsam herunter und eilte dem Schweinehund entgegen.
„Und was ist das?“
„Eine Kristallvase!“
Sie ist aus Muranoglas, dem schönsten Glas, das man sich zu der Zeit nur erträumen konnte. 16tes Jahrhundert! Unbezahlbar!“
„Pah! Dieses Dings geht mir in der Tasche eh nur kaputt!“
Der Dieb wandte sich verächtlich ab. Das Zeug war zu nichts nutze. Irgendwie musste seine Beute zumindest vernünftig loszuschlagen sein. Irgendetwas, das attraktiv war. Irgendetwas, das sich zu Geld machen ließ. Er sah ein, dass in diesem Laden offensichtlich nicht mehr zu holen war. Einfach eine verdammte Pleite.
Häckli sah wieder zu der Elfenbeintänzerin hin, die wie immer ihre Arme erhoben und ihren Kopf schief gelegt hatte. Es konnte ihm nichts passieren, solange sie still stand. Die Zeit würde angehalten werden.
Der Eindringling hatte ihn bei dem Kragen gepackt und ihn brutal an sich gerissen. Der Revolverlauf zeigte auf seine Stirn.
„Na ja“, japste Josuah, während er sich in seinem Anzug, wie in einem Mehlsack herum geschüttelt fühlte und wies mit der Hand auf das Objekt.
„Das ist ein Sekretär aus der Biedermeierzeit. Walnussholz!“ Er fügte es sogar stolz hinzu.
Der Dieb schüttelte ihn wieder.
„Verfickter Esel! Meinst du vielleicht ich bin Möbelpacker, Arschloch!“
Er trug ihn zu dem Ende des Tresens und sie standen vor der Spieluhr.
„Und was ist dem Schund da?“ Der Einbrecher beutelte Josuah nochmals eindringlichst und zeigte auf die Spieluhr.
Häckli begann zu weinen.
„Nur nicht dies!“
„Egal, her mit dem Schlüssel. Ich habe genau gesehen, wie du ihn verramscht hast.“
Die eine Handfläche zeigte nach oben, die andere hatte den Revolver im Griff, den er jetzt in ein Nasenloch von Josuah reinbohrte.
„Bitte nicht“, quengelte der Alte in Todesangst. Offene Augen fixierten den Lauf.
„Also, was ist? Ist der Plunder etwas wert?“
„Diese Spieluhr ist unbezahlbar!“
„Drück dich deutlicher aus! Was ist sie wert in Dollar!“
„Ich weiß es nicht, aber ich denke, dass irgendwelche Leute Unsummen dafür berappen würden.“
Häckli gluckste nur noch, weil es ihm den Kragen zuschnürte.
Der Eindringling ließ ihn wieder fallen und Josuah fiel wie ein Sack Zement zu Boden.
„Sie hat ein Geheimfach! Du musst vorsichtig sein!“
„Schlüssel! Also gib ihn endlich her!“
Josuah kramte in seiner Hosentasche. Wenn er sie jetzt aufzieht, dann ist es vorbei. Dann läuft die Zeit weiter. Dann konnte auch der Revolver losgehen. Er lehnte sich ächzend zurück und breitete sich auf sein Ende vor, während er dem Vermummten den Schlüssel aushändigte. Der Verbrecher riss ihn förmlich aus seiner Hand.
„Nicht den Sockel berühren!“
„Warum denn nicht?“
Das maskierte Gesicht schien zu grinsen. Er nahm nun die Spielzeuguhr in die Hand und drehte sie in seinen behandschuhten Fingern.
„Nein!“
Josuah saß japsend am Boden. Die Zeit würde weiter laufen, sobald der Gangster die Spieluhr aufgezogen hatte. Josuah hatte entsetzliche Angst und musste schlucken. Dass er bestimmt Blessuren durch die grobe Behandlung dieses schwarzen Mannes davon tragen würde, spielte wohl jetzt keine Rolle mehr, denn der Unbekannte, von dem er nicht einmal den Namen wusste, würde sein Licht auslöschen. Er musste schwer schnaufen. Der Verbrecher grinste nur und er sabberte etwas.
„Geht es uns auch wirklich gut?“ Eine rein rhetorische Frage, die an Blasphemie grenzte. Ja, der Kerl hatte sichtlich seinen Spaß.
„Tun sie es nicht!“
Der maskierte Räuber nahm nun seine Handschuhe ab, damit er besser die Ornamente des Sockels ertasten konnte. Nachdem der alte Mann dauernd darauf hin geluchst hatte, interessierte ihn die Spieldose um so mehr. Vielleicht barg sie ein Geheimnis, welches dieser alte Schweinehund ihm verschwiegen hatte. Irgendetwas musste an diesem Ding dran sein.
„Wie macht man das auf, Arschloch?“
Josuah schwieg hartnäckig.
„Verdammte Scheiße!“
Der Fremde drehte die Spieluhr in seiner Hand und nahm keine Rücksicht auf die filigranen, nach oben gestreckten Hände der Tänzerin. Schließlich steckte er den Schlüssel ein, zog ihn in aller Hast auf und sah neugierig zu, was sich nun ereignen würde. Die Balletttänzerin fing sich prompt wieder an zu drehen. Das Musiklaufwerk begann zu spielen. Er hatte sichtlich nichts übrig für die blöde Melodie. Auch die Anmut der Tänzerin war ihm völlig Wurst. Er wollte die Spieluhr schon hasserfüllt auf den Boden schmettern, da hielt er doch wieder inne. Der Alte hatte doch von einem Geheimfach gefaselt. Die Neugier siegte und begann wieder am Sockel herumzutasten. Da fiel ihm ein versenkter Knopf im Sockel der Spieluhr auf. Er war völlig zwischen der Goldziselierung verborgen und sah gar nicht wie ein Knopf aus. Er drückte daran herum.
„AHA!“
Eine kleine Schublade sprang heraus.
„Na, also! Wusste ich doch, dass du gequirlter Drecksack mir nicht alles gesagt hast!“
„Bitte, bitte nicht!“
Der Andere grinste hinter seiner Maske. Vielleicht könnte sich dieser Überfall doch noch als erquicklich erweisen. Er fummelte weiter. Die kleine Schublade könnte vielleicht Diamanten beherbergen. Er fuhr mit den Fingern in die Schublade, um sie auch wirklich genau zu untersuchen. Da schnitt er sich an einem Dorn in der Tiefe der Schublade, der vorher nicht erkennbar gewesen war. Ihm wurde schummrig Er fühlte sich, wie in ein Korsett gespannt, wie wenn er im Mittelalter quer geschlossen wäre. Dann versagten ihm die Beine.
Er fiel krachend zu Boden, während sich Schaum vor seinem Mund bildete und starb augenblicklich, ohne auch nur ein Wort sagen zu können. Das Gift der Borgia hatte die Zeit überdauert und seine Schuldigkeit getan.
Der alte Mann mit Namen Josuah Häckli hatte sich wieder aufgerappelt, nachdem er den schnellen Tod mit großen Augen beobachtet hatte, ging auf ihn zu und nahm ihm die tanzende Balletttänzerin aus der erstarrten, verkrampften Hand. Sie hatte den Todessturz glücklicher Weise unbeschadet überlebt. Er stellte sie auf den Tresen, schloss vorsichtig wieder die Geheimschublade, sah glücklich zu wie sie sich drehte, wie die Musik dazu krächzte und schnaufte zufrieden auf. Er hatte nicht einmal einen Blick für die Leiche übrig.
Nach einer Weile der Muße fand sein Blick doch noch den maskierten Leichnam, wie er so unbeholfen da lag.

„Du wolltest nur Zeit stehlen! Aber sie gehört mir!“ bellte er ihn an.

Die Ballerina schwang immer noch kokett um sich, drehte sich im Kreise und sah in die Welt und die Zeit hinaus.

Impressum

Texte: G.v.Tetzeli
Bildmaterialien: Monika Heisig
Tag der Veröffentlichung: 21.02.2013

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