Die Gartentüre klapperte schon wieder. Herr Abel runzelte die Stirn und nahm ganz langsam eine Fliegenklatsche vom Schoß. Mit einem entschlossenen Schlag zermatschte er die Bremse, die ganz gemütlich auf dem runden Holztisch auf Erkundung gegangen war. Der rötliche Fleck bezeugte, dass sie vor kurzem gespeist hatte. Zu Tisch war sie quasi gewesen! Herr Abel grinste böse in sich hinein. Das hatte sie nun davon! Zu Tisch, wie? Sein Hass hatte ein Ventil gefunden.
Jetzt im Herbst war es mit den Bremsen nicht mehr so schlimm, aber im Sommer war es auf der Veranda kaum auszuhalten. Und Herr Abel saß gerne auf seiner hölzernen Terrasse, wo er den kleinen Garten überschauen konnte. Sein bescheidenes Häuschen lag etwas abseits, aber ab und an kam ein Radler vorbeigefahren, dem er zuwinken konnte. Ansonsten lebte Herr Abel recht isoliert. Er kam trotz seiner Behinderung, er war an den Rollstuhl gefesselt, ganz gut zurecht und bewahrte seine Unabhängigkeit, soweit es eben möglich war. Nun griff er zu den Rädern, leitete eine kleine Drehung ein, um den Leichnam eingehender zu fixieren. Sein schöner Verandatisch hatte nun einen hässlichen Fleck, der ungefähr so anheimelnd war, wie die Vogelspinne auf einem Jogurtmüsli. Er hatte keine Lust extra in die Küche zu rollen, um mit Lappen und Reinigungsutensilien dem Problem zu Leibe zu rücken. Das konnte ja Tom erledigen. Der war sowieso schon überfällig. Und vor allem sollte er doch das Gartentor reparieren. Herr Abel vernahm erneut das enervierende Klappern, als der Wind leicht von den Hügeln herunter strich, die sich hinter dem Häuschen erhoben. Herr Abel mochte dieses hügelige Gelände in dem sein Grundstück eingebettet lag. Dabei kam in ihm eine Art geborgenes Gefühl auf, wie wenn ihn die Bäume auf den Kämmen beschützen würden.
Es konnte sogar sein, dass nun, da die Dämmerung aufkam, sogar ein Reh seine Aufwartung machte. Wenn es nicht wieder durch das blöde Geklapper verscheucht würde.
Die Stimmung von Herrn Abel sank. Nicht weit entfernt vom Bremsenleichnam befanden sich zwei Gläser und eine Flasche auf dem Tisch. Es waren recht einfache Pressgläser, aber der Wein war auch nur von minderer Qualität. Eigentlich sollte sie erst bei der Ankunft von Tom geöffnet werden, aber was soll’s, dachte sich Herr Abel. Den Öffner hatte er vorsorglich schon mitgenommen. Zusätzlich Wege mit dem elenden Rollstuhl zu bewältigen vermied er tunlichst.
Richtig faul war er geworden, stellte er fest. Früher, ja früher, da war er ein richtiger Sportsmann gewesen. Radfahren war damals seine Leidenschaft. Gerade in dieser Gegend bot sich dies an. Er hatte ein richtig schickes Rennrad gehabt. Und wenn es ihm irgendwie seine Zeit erlaubt hatte, war aufgebrochen, hatte sich auf die Maschine geschwungen und war losgestrampelt. Trotz aller Begeisterung, hatte er sich doch nie damit anfreunden wollen an richtigen Wettbewerben teilzunehmen. In Wirklichkeit war es nur die Angst gewesen, dass er gegenüber den anderen Teilnehmern wie eine Schnecke bei einem Hustenanfall ausgesehen hätte. Aber wenn er so zurückdachte, dann war er schon stolz darauf welch enorme Höchstgeschwindigkeit er dabei erzielt hatte. Er war gerne gerast. Die wild tretenden Beine erschienen vor seinem geistigen Auge.
Wutentbrannt mit einem Aufschrei schlug er erneut mit der Klatsche zu. Die anvisierte Fliege war rechtzeitig los gestartet und in der Dämmerung verschwunden. Vielleicht war sie auch durch den Aufschrei gewarnt worden
Es stand nur noch ein Glas auf dem Tisch, das andere war leider seinem emotionalem Vulkanausbruch zum Opfer gefallen. So war es umgekippt und schließlich am Holzboden aufgeschlagen. Herr Abel blickte auf die Scherben herab und dann stöhnte er vor Verzweiflung. Dieser verflixte Radunfall!
Die Gartentür klapperte erneut.
Tom war ein drahtiger junger Mann. Er schob einen Stein an die Gartentüre von Herrn Abel. So jetzt war es vorerst erledigt. Der Olle nervte ständig wegen dem Gartentor. Es würde andauernd klappern. Irgendwann würde er es reparieren. Regelmäßig, wenn er Einkaufen ging, vergaß er ein neues Schloss zu besorgen. Und wenn er schon dabei war, dann würde er auch noch einen neuen Beschlag und Griffe kaufen, damit mit diesem rostigen Ding endlich Ruhe wäre. Vergessen hatte er es trotzdem und das nicht zum ersten Mal.
Er sah zu der Terrasse hin, eigentlich war es eine nur wenig abgesetzte Veranda und sah, dass Herr Abel nicht zu sehen war. Normaler Weise hätte er sich draußen befinden müssen. Zu dieser Dämmerungszeit hing er immer auf der Veranda seinen Erinnerungen nach, zumindest bei einigermaßen gutem Wetter. Mit federndem Schritt enterte er die Holzbohlen, drehte sich an dem Stützpfosten direkt in die Veranda hinein. Da sah er, wie Herr Abel im Rollstuhl völlig vornüber gebeugt mit seinen Händen den Boden befingerte. Deshalb hatte er ihn nicht sehen können. Herr Abel richtete sich mit hochrotem Kopf auf und grinste schief.
„Mir ist ein Glas zerbrochen.“
Tom fuhr sich durch den Haaransatz und zuckte mit den Schultern.
„Lass nur, ich räum’ s schon weg.“
Tom nahm mit tadelndem Blick zwei Scherben aus seiner Hand und ging er über die Terrassentür in die Küche. Der Alte zerbrach in letzter Zeit immer öfter etwas, dachte er. Er kehrte zurück, mit Eimer, Wischtuch, Schaufel und Besen bewaffnet.
Und während er fegte und größere Scherben auflas, erkundigte sich Herr Abel:
„Wie sieht’ s denn aus?“
„Ich habe im Internet nachgeschaut. Heute könnte es möglich sein – vielleicht.“
„Was heißt vielleicht“, monierte Abel ungehalten. „Wird es ein Polarlicht geben, oder nicht?“
„Bin ich Hellseher?“ Tom drosch den feuchten Lappen auf die Dielen. „Bin ich Belzebub, die Sonne, oder was!“
Herr Abel lenkte ein.
„Schon gut“, meinte er, „ich habe mich nur so darauf gefreut.“
Tom nickte und beendete die Aufräumarbeiten. Auch den Tisch säuberte er und Abel war sichtlich zufrieden, dass die Mordtat weggewischt wurde. Während Tom wieder im Haus verschwunden war, öffnete er endlich die Weinflasche. Das konnte er wenigstens noch. Dazu brauchte man ja nur die Arme.
In der Küche wusch Tom den Lappen aus und grummelte gereizt vor sich hin. Er machte sich hier immer mehr zum Kindermädchen. Seit dem Fahrradunfall von vor zehn Jahren kümmerte er sich rührend um den Alten. Immer spleeniger wurde der Kerl. Hatte er schon vor seinem Unfall mit seinem Fahrrad gesponnen, so setzte es bei dem jetzt völlig aus. Himmelserscheinungen! Polarlichter! Sein riesiges Fernrohr im Wohnzimmer war nicht genug. Der war nicht nur durch den Rollstuhl behindert. Der mutierte endgültig zum Vollpfosten. Verdammt!
Seit zehn Jahren, sprichwörtlich ein ganzes Jahrzehnt lang, turnte er nun schon um den Blödmann herum. Und wie er das immer formulierte, wenn er springen sollte:
Könntest du mal;
Macht es dir etwas aus, wenn;
Ich will ja nicht zur Last fallen, aber..
So indirekt stichelnd kam das rüber. So sanft, so weich, so nervtötend und hinterhältig höflich.
Und dann sein nörgelndes Lehrergefasel. Dieses altkluge philosophische, besserwisserische Geseiere. Mann, konnte der einem das Ohr abkauen!
Mein Gott, wie hatte er sich bemüht! Zehn lange Jahre hatte er die Einkäufe für ihn erledigt, seine Wutausbrüche und sein Gejammer ertragen, aber nun reichte es. Er würde das nicht ewig mitmachen! Und sein beschissenes Gartentor konnte er sich sonst wo hin stecken.
Die Scherben waren nun entsorgt, das Putzzeug weggeräumt und Tom wollte wieder nach draußen. Aber Halt! Ein Ersatzglas musste her und ein Windlicht konnte auch nichts schaden, sonst müsste er zweimal rennen.
Als er alles zusammen gerafft hatte, einschließlich eines Anzünders, stoppte er kurz vor der Terrassentüre, bevor er nach draußen trat. Er musste erst seine Gesichtszüge wieder zu einem Lächeln verbiegen.
Herr Abel wartete inzwischen ziemlich ratlos im Rollstuhl. Der Rücken klebte. Er hatte die Weinflasche in der Hand, aber einschenken wollte er nicht. Das Glas auf dem Tisch sah zu einsam aus. Hoffentlich dachte Tom daran ein neues zu bringen. Es stellte also die geöffnete Flasche zurück und den Öffner legte er ebenfalls am Tisch ab. Er hatte das Gefühl, als ob sein Schoß zu einem Müllberg anwuchs. Wohin denn nun mit der Fliegenpatsche?
Eigentlich war Tom schon ein lieber Junge. Genau genommen hätte er nicht gewusst, was ohne ihn gewesen wäre. Natürlich hatte ihn der Junge auch mal angebrüllt, aber im Großen und Ganzen konnte er sich nicht beklagen. Bei seinem Unfall war Tom sechs Jahre alt gewesen. Jetzt kam er immer seltener, aber schließlich war er nun schon 16. Da hatte man natürlich ganz andere Interessen. Dennoch konnte er sich auf Tom verlassen. Aber selbstlos war es nicht gewesen, auch Abel hatte was zu geben gehabt. Er hatte ihm bei den Schularbeiten geholfen, so dass er ein guter Schüler wurde und er hatte ihn für die Sterne interessiert. Hatte der Bengel doch gar nicht gewusst, wie ein Polarlicht entsteht und dass es auch in Deutschland vorkam.
Tom erschien wieder, setzte Glas und Windlicht ab. Herr Abel goss ein, das Teelicht flackerte und sie prosteten sich zu.
„Ich könnte mich ohrfeigen wegen dem Glas.“
„Halb so schlimm“, winkte Tom ab. Dann zog der Junge ein Blatt heraus. „Hier, die Vorhersage: Polarlicht scheint im Augenblick wenig wahrscheinlich. Zu wenig Flares.“
„Jammerschade“, nickte Abel und las den Bericht.
Dann blickten sie in den Nachthimmel hinaus und schwiegen. Ein Lufthauch schweifte über die Veranda.
Herr Abel stellte fest, dass das Gartentor nicht mehr klapperte. Hatte Tom es also doch heimlich repariert, der Gute. Na, der wird sich wundern, wenn ich ihm eröffne, dass er alles erben wird. Ich muss nur den richtigen Zeitpunkt finden. Jetzt im Oktober hatte er sein zehnjähriges Unfalljubiläum. Auf den richtigen Zeitpunkt kommt es an. Abel lächelte zufrieden.
Auch Tom sinnierte in den Nachthimmel.
Scheiße! Wie war Abel damals mit seinem Radspleen auf die Nerven gegangen! Es war doch nur ein dummer Jungenstreich gewesen, als er die Kastanien auf der abschüssigen Straße verteilt hatte. Genau zum richtigen Zeitpunkt.
Herr Abel unterbrach die Stille mit einem Räuspern.
„Heute gibt’s wahrscheinlich doch kein Polarlicht.“
„Nein, damit hat es sich“, seufzte Tom.
Tag der Veröffentlichung: 12.09.2012
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