Das Schloss an der Loire
Verdammt! Eine unachtsame Bewegung mit dem Leuchter hatte ausgereicht, dass ihr flüssiges Kerzenwachs über den Handrücken lief und dort ein brennendes Rinnsal hinterließ. Vor Schmerz ließ sie den Leuchter auf die steinernen Stufen der Wendeltreppe fallen, wo er laut scheppernd landete und sein Licht sogleich verlöschte. Nochmal verdammt! Jetzt stand sie in völliger Finsternis dort. Caro versuchte, die Schwärze der Tiefe unter sich mit einem suchenden Blick zu durchdringen. Sie wusste, wie ausgetreten die Stufen waren und dass jeder tastende Schritt ins Ungewisse sie zum Stolpern bringen konnte.
In jeder anderen Nacht wäre das kein Problem gewesen. Heute aber war sie allein in dem alten Gebäude. Sie, das deutsche Au-Pair-Mädchen, in einem Schloss an der Loire. Ihr Zögling, auf den sie seit Beginn ihres Aufenthaltes achtgab, war heute bei der Großmutter zu Gast, seine Eltern auf Geschäftsreise. Caro war allein zurückgeblieben. Alle dienstbaren Geister der Familie mit dem adligen Stammbaum wohnten im Dorf. Auch die Köchin, die Caro von allen Angestellten am wenigsten mochte. Deshalb waren die Ducs, wie Caro sie heimlich nannte, auch auf das Rund-um-die-Uhr-Au-Pair-Mädchen angewiesen.
„Pas de Problème“, hatte die knapp Zwanzigjährige auf die Frage geantwortete, ob sie eine Nacht allein in dem Gemäuer bliebe. Von Natur aus couragiert, fürchtete sich Caro nicht vor fünfzehn leeren Zimmern und der Verantwortung für das Haus. Schließlich war es umgeben von einem breiten Wassergraben. Sie konnte ja notfalls die Zugbrücke einholen, wenn jemand Einlass begehrte, hatte sie erwidert und dem Duc zugezwinkert. Da ahnte sie noch nicht, dass sich in dieser Nacht nicht einmal der fahle Mond am Himmel blicken lassen sollte. Nun, da sie voller Angst durch das dunkle Haus schlich, wäre ihr selbst die Köchin als Gesellschaft recht gewesen.
Zunächst hatte sie die Geräusche für eine zufällige Randerscheinung gehalten. Irgendetwas knarrte und quietschte in diesem alten Kasten doch immer. Doch schnell wurde ihr klar dass sie nicht mehr allein im Haus war. Woher die Geräusche kamen, konnte Caro nicht deutlich genug lokalisieren. Sie wusste nicht, ob der Eindringling vor oder hinter ihr war. Doch sie würde sicher nicht stehen bleiben, um das herauszufinden.
Vorsichtig setzte sie die bloßen Füße auf die Stufen unter sich und riss sich die Sohlen trotzdem an dem rauen Felsgestein auf. Ihre Hand hatte sie auf die Steinsäule im Zentrum der Treppe gepresst, um Halt zu finden. Wenn sie jetzt fiel, gab es keine Rettung für sie, denn irgendetwas war ihr auf den Fersen und würde sie einholen. Sie spürte einen kühlen Windzug, hörte, wie die schwere Eichentür am oberen Ende der Treppe ins Schloss fiel. Caro war froh, dass die Kerze durch ihre Unachtsamkeit erloschen war. Jeder Lichtschein hätte dem Verfolger verraten, was sie tat, doch so tappte auch er im Dunkeln umher. Caro hoffte darauf, dass er ihre Unsicherheit teilte und ebenso vorsichtig seinen Weg suchen musste.
Die Minuten dehnten sich zur Unendlichkeit. Endlich erreichte sie die Küchentür, senkte in Zeitlupe die Klinke hinab und schob sich durch die Lücke, die beim Öffnen entstand. Das leise Knarren der Tür klang in ihren Ohren viel zu laut. Für den Verfolger würde es ein Leichtes sein, die Tür ebenfalls zu finden. Sollte sie das Licht einschalten oder würde sie ihm die Sache damit zu leicht machen? Dass ein Fremder hier eingedrungen war, ging auf ihr Konto, erkannte sie plötzlich. Sie hatte die großen Türen zur Terrasse offenstehen lassen, weil ihr am frühen Abend ein laues Lüftchen um die Nase gezogen war. Es hatte sie danach gedrängt, den Muff der Jahrhunderte wenigstens für ein Weilchen aus dem Gemäuer zu vertreiben. Das hatte sie nun davon! Dreimal verdammt! Doch ihre Selbstvorwürfe würden sie der Lösung des Problems keinen Schritt näher bringen.
Caro durchsuchte das Durcheinander ihrer Gedanken. Da war doch noch der Käsekuchen, den sie für den Kleinen am Vormittag nach Mamas Rezept gebacken hatte. Louis mochte ihn nicht und so fehlte nur das Stück, das Caro selbst, in einem Anflug von Heimweh, gegessen hatte. Dieser Kuchen sollte ihr das Leben retten. Sie würde ihn eine Schrittlänge entfernt von der Küchentür am Boden platzieren. Wer auch immer beim Betreten der Küche mit dem Fuß darin landete, würde hoffentlich ausrutschen und stürzen. Der Plan war nicht perfekt, aber einen anderen hatte sie leider nicht.
Der Kuchen stand nun auf den Fliesen in der hochherrschaftlichen Küche. Caro hatte sich hinter der Arbeitsplatte der großzügigen Kochinsel versteckt. In der Hand hielt sie ein Tranchiermesser. Sie wusste, dass sie es im Ernstfall niemals gegen jemanden richten würde, aber ihr Angreifer musste immerhin damit rechnen. Doch zunächst hoffte Caro auf die Wirkung des Kuchens. Langsam senkte sich die Klinke und die schwere Tür schwang auf. Caro spürte es, auch wenn sie nicht einmal die verbrannte Hand vor Augen erkannte. Und sie hörte die Geräusche tausendfach verstärkt. Zunächst tapsende Schritte, wie barfuß, dann das Aluminium der Tortenform, wie sie über den Fliesenboden ratschte, einen rauen Aufschrei des Entsetzens, Füße, die wie im Tanz um das Gleichgewicht ihres Besitzers stritten und einen dumpfen Schlag, gefolgt von einem schmerzerfüllten Stöhnen. Dann hörte Caro nichts mehr.
Sie verharrte im Dunkeln, bis sie die Ungewissheit nicht mehr aushielt. Caro kroch zum Lichtschalter, der nah bei der Kochinsel lag und streckte den Zeigefinger lang aus, bevor sie ihn herabsenkte. Die grelle Deckenbeleuchtung flammte auf und blendete sie. Zunächst sah sie deshalb kaum mehr, als zuvor in völliger Dunkelheit. Aus dem Blitzlicht schälte sich die Silhouette einer am Boden hockenden Gestalt, die sich die schmerzhafte Kehrseite rieb, während Käsekuchenspritzer Teile der blankpolierten Küchenzeile bedeckten.
„Merde alors!“, hörte sie die Köchin fluchen. Noch am Morgen hatte sie es abgelehnt, den Käsekuchen des Mädchens zu probieren. Deshalb wollte sie in der Nacht heimlich ein Stück stehlen. Doch das war gründlich danebengegangen. Ihre nackten Füße waren mit der Quarkmasse überzogen. In der linken Hand hielt sie die Gesundheitsschuhe, die sie vorsorglich ausgezogen hatte, um keinen Lärm zu machen. Unglücklich sah sie aus und tat Caro fast ein wenig leid. Aber eben nur ein wenig und weil sie einen Hang zum Slapstick hatte, lachte Caro das ansteckendste Lachen, das man in einem Schloss an der Loire jemals gehört hatte.
Tag der Veröffentlichung: 03.09.2016
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