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Das Linsengericht

Verdammt, Andrew konnte doch nicht wirklich glauben, dass Jackson das Erbe des Vaters ausschlagen und sein Testament zu Andrews Gunsten ändern würde. Schließlich war er, Jackson, drei Minuten früher zur Welt gekommen und der kleine Bruder hinkte ihm seit mehr als 25 Jahren hinterher. Er machte die ersten Schritte, Andrew kroch noch am Boden herum. Jackson lernte mit fünf Lesen und Schreiben, Andrew hockte bei der Hauslehrerin am Küchentisch und entzifferte mühsam seine Kinderbücher. Klar, dass sich die Zwillinge von Anfang an nicht mochten. Die Natur hatte zwei gänzlich verschiedene Menschen zu einer Zwangseinheit verdammt. Das zog sich wie ein roter Faden durch Kindheit und Jugend und machte auch vor dem Erwachsenenalter nicht Halt. Doch das ganze Theater hatte vor einigen Monaten begonnen...

 

Ein Infarkt hatte den Vater, Andrew Jackson Downing II. aus dem hektischen Arbeitsalltag gerissen. Eigentlich kein Wunder, war doch der Landschaftsarchitekt seit dem frühen Tod seiner Frau ein ausgesprochener Workaholic. Seine Firma, unter Vertrag bei der Stadt New York, kümmerte sich um die Neuanlagen im 350 h³ großen Central Park. Erwartungsgemäß gab es bei dieser Größenordnung immer Ecken, die umgestaltet werden mussten. Und wie immer war es dem Bürgermeister der Stadt ein Anliegen, dass Änderungen zügig umgesetzt und abgewickelt wurden. Schließlich war der Grünflecken das Aushängeschild der Stadt und Ziel zahlloser Bewohner und Besucher des Big Apple.

 

Die Zwillingsbrüder waren als 3. Generation mit ins Geschäft eingestiegen. Landschaftsarchitekt Jackson kümmerte sich um neue Entwürfe, Landschaftsgärtner Andrew setzte sie mit seiner Mannschaft um. Der Vater hingegen bemühte sich um Geschäftskontakte und koordinierte das Rahmenprogramm der 200-Mitarbeiter-Firma. Das Geschäft lief gut und die Brüder verdienten nicht schlecht. Der Vater machte in der Entlohnung seiner Söhne keine Unterschiede. Er fand das gerecht. Jackson hingegen fragte sich häufig, warum sein Bruder ihm ebenbürtig bezahlt wurde, wo er doch kaum etwas zu leisten hatte, als ein paar Mitarbeiter durch den Park zu hetzen. Er war der kreative Kopf des Ganzen. Saßen sie gemeinsam am Tisch, gab es nach kurzer Zeit Streit. So auch an diesem denkwürdigen Nachmittag. Obwohl seit ihrer Geburt klar war, dass er das Erbe antreten würde, war Jackson neidisch auf Andrew. Vielleicht, weil er den ersten Namen seines Großvaters erhalten hatte.

 

„Gib mal die Suppe rüber!“, sagte Andrew. „Du nimmst dir jetzt schon den dritten Nachschlag. Und du weißt genau, dass Tilly die Suppe meinetwegen gekocht hat.“

„Ja, weil sie dich schon seit Jahren verhätschelt und vertätschelt!“, erwiderte Jackson. „So wird aus dir nie ein echter Mann, Bruderherz.“

„Ach, aber du bist Manns genug für diese Welt? Du kannst ja nicht einmal auf etwas verzichten, das anderen gehört.“ Dabei spielte Andrew nicht nur auf die große Suppenportion an. Vor einigen Wochen hatte seine Freundin mit im Schluss gemacht und sich sogleich Jackson an den Hals geworfen. Er gab dem Bruder die Schuld an der Misere. Und jetzt war er kurz davor, aufzuspringen und dem Älteren an die Gurgel zu gehen. Voller angestauter Aggressionen schob er den Stuhl zurück, als Tilly den Raum betrat.

 

„Nun hört aber auf! Andrew, ich hab dir eine Schüssel gefüllt, die kannst du heute Abend leermachen.“

„Ja, der Suppenkaspar kriegt noch was mit nach Hause...“ Das konnte Jackson nicht auf sich sitzen lassen. „Du musst ihn noch mehr verwöhnen, Tilly. Dann kann keine Frau mehr mit dir mithalten. Aber vielleicht heiratet er ja dich? Nun, Andrew, wär das nicht eine gute Idee?“ Und bevor Andrew handgreiflich wurde, richtete sich Jackson zu voller Größe auf, damit er den Gedanken daran gleich wieder verwarf.

„Jungs!“, rief Tilly vorwurfsvoll. „Ihr seid doch erwachsen. Benehmt euch gefälligst!“

„Der Kleine kann sich nicht benehmen!“, äffte Jackson den Tonfall der Köchin nach.

„Ach komm, du warst zwar von Anfang an einen halben Kopf größer, aber wer weiß schon, wer von euch seine neugierige Nase zuerst in die Welt gestreckt hat.“ Kaum hatte sie das gesagt, schüttelte Tilly missbilligend über sich selbst den Kopf.

„Wie meinst du das, Tilly?“ Die Männer spürten, dass hier nicht die ganze Wahrheit im Spiel war. Scheinbar wusste die Köchin mehr, als sie bereit war, preiszugeben.

„Euer Vater klingelt gerade. Sicher möchte er auch noch etwas von der Suppe. Es ist wichtig, dass er wieder zu Kräften kommt, hat der Doktor gesagt. Es steht nicht gut um ihn. Ihr solltet mit dem Schlimmsten rechnen und eure leidigen Streitereien beiseite schieben“, sprach sie und ließ die Schwingtür zur Küche hinter sich zuschlagen. Beide erkannten das deutliche Signal, dass Tilly nicht zur Kommunikation bereit war.

 

„Wer hat dir denn das Märchen aufgetischt, mein Junge?“, flüsterte der alte Herr leise, als Andrew am späteren Nachmittag noch einmal zu Besuch kam. Doch Andrew spürte, dass dem Vater nicht wohl war als die Sprache darauf kam.

„Tilly mit der Suppe heute Mittag! Was hat es damit auf sich, Vater?“ Andrew drängte den kranken Mann nur ungern, doch er musste Gewissheit haben.

„Ich kann nicht darüber reden, Andrew. Nicht heute. Lass mich noch eine Nacht darüber schlafen, ja?“

 

Den Folgetag erlebte der Vater nicht mehr. Vielleicht war ihm das bewusst gewesen, als Andrew ihn verließ, doch er hatte das Geheimnis nicht ausgeplaudert. In den kommenden Tagen bedrängte Andrew daher die Köchin immer häufiger und in der Trauer um ihren Dienstgeber wurde sie irgendwann weich.

„Du warst so winzig. Die Hebamme hat angedeutet, dass du vermutlich die ersten Tage nicht überlebst, Junge. Und da war diese seltsame Klausel im Testament deines Großvaters. Da haben sie die Zeiten vertauscht, an denen ihr geboren wurdet. Das tat doch keinem weh, oder? Tilly schluchzte. Sie war das lebendige schlechte Gewissen, obgleich sie mit der Sache nichts zu tun hatte. Kaum war der letzte Satz gefallen, sprang Andrew auf und schrie:

„Du willst sagen, dass die Firma mir gehört, jetzt, wo Vater tot ist?“ Vor lauter Wut drehte er sich um die eigene Achse und suchte nach einem Ventil für den aufgestauten Hass auf Jackson, der sich aus Andrews Sicht das Erbe angeeignet hatte. Doch er sah nur einen Topf Linsensuppe, die auf dem Ofen köchelte. Tilly hatte ihn damit trösten wollen. Nun flog sie im hohen Bogen durch die Küche und Andrew tat das kein bisschen leid. Er wandte sich auf dem Absatz um und verließ das Haus. Morgen war die Testamentseröffnung. Er musste einen Plan für den Ernstfall haben.

 

Mr. Downing, Sie haben doch gehört, was ich gerade gesagt habe, oder? Die alte Klausel Ihres Großvaters ist auch im Testament Ihres Vaters von Belang. Sie lässt sich nicht aushebeln. Erbe ist derjenige von Ihnen, der zuerst auf die Welt kommt. Sollte dieser Erbe nicht überleben, fällt alles an eine gemeinnützige Organisation. An wen Ihr Bruder später die Firma übergibt, bleibt jedoch ihm überlassen, so wie ich das sehe. Sie sehen also, dass sich derzeit nichts für Sie gewinnen lässt. Als Angestellter in der brüderlichen Firma wird es Ihnen an nichts fehlen.“ Der Notar kannte Jackson nicht.

 

Zwei Jahre dauerte es, bis Andrew einen wasserdichten Plan ausgeheckt hatte. Auch Tilly kannte den Namen der Hebamme nicht. Sonst hätte sie ihn verraten, als er ihr damit drohte, sie mit dem Gemüsemesser von oben bis unten aufzuschlitzen. Sie hatte ihn nur mit weit aufgerissenen Augen angestarrt, als er seine Drohung wahrmachte. Nun ruhte sie unter einer neuen Steinbrücke, die er jüngst in „The great Lawn“ errichtet hatte. Ein wenig tat es ihm schon leid um Tilly. Schon wegen der Linsensuppe. Seither galt die Köchin als spurlos verschwunden.

 

Die Linsensuppe war das Stichwort. Er hatte Jackson zum Abendessen in sein Appartement gebeten und ihm eine deftige Suppe versprochen. Deftig war sie allerdings, reichlich gewürzt mit Hundspetersilie, die Andrew seit etwa einem Jahr an verborgenen Stellen im Park kultivierte. Man benötigte schon eine erhebliche Menge, um einen erwachsenen Mann zu töten. Erst recht, wenn die Suppe einen seltsamen Nachgeschmack bekam und der Delinquent sich vielleicht weigerte, genug davon zu sich zu nehmen. Andrew wollte sie ja nicht abschmecken. Auf die Hundspetersilie als gefährliche, heimische Giftpflanze, war er bei einem Besuch des Central Park Learning Centers eher zufällig gestoßen.

 

Viel komplizierter als all diese Vorbereitungen war es gewesen, Jackson von der Notwendigkeit zu überzeugen, das Testament nicht unreflektiert an das von Vater und Großvater anzupassen. Sie hatten beide bisher keine Nachkommen gezeugt. Wollte Jackson wirklich im Falle eines plötzlichen Todes riskieren, dass alles in den Fond für die Erhaltung des Central Parks fließen würde, während andere die Instandhaltung mit Handkuss übernehmen würden und die Firma Downing & Sons den Bach runterging?

 

Jackson wusste, dass er Andrew die Wahrheit über die Testamentsänderung eingestehen musste. Doch da nichts über einen guten Teller Linsensuppe ging, wollte er sich nicht den Appetit verderben lassen. Vermutlich würden sie danach nie mehr gemeinsam an einem Tisch sitzen und essen. Jackson ahnte ja nicht, wie recht er hatte...

 

Andrew streute auf seinen Teller reichlich Petersilie und das höllisch giftige Kraut, das ihr so ähnlich war, auf Jacksons. Dann goss er die heiße Suppe mit der Kelle darüber. Nun bloß nicht die Teller verwechseln, ermahnte er sich und balancierte beide zum Esstisch. Jackson saß bereits dort, den Löffel in der Rechten. Gierig wie immer, tauchte er ihn in den Eintopf. Bald würde er ihn abgeben müssen. Innerlich lachte Andrew über dieses Wortspiel.

 

„Ein neues Rezept, Bruderherz?“, erkundigte sich Jackson und verrührte Kräuter und Wurzelstücke der Hundspetersilie mit dem Linseneintopf.

„Ja, ganz neu. Ist mir erst kürzlich in die Hände gefallen. Lass es dir schmecken, Jackson!“

 

Die ersten Anzeichen einer Vergiftung kamen schnell. Die Schärfe, die ein Brennen im Mundraum verursachte, kam nicht von zu viel Pfeffer in der Suppe. Jackson trat kalter Schweiß auf die Stirn und sein Puls begann einen Wettlauf, den er nur verlieren konnte. Es fühlte sich an, als träten seine Augen aus den Höhlen und die Pupillen weiteten sich unnatürlich, sodass es zu Sehstörungen kam. Beim ersten Krampf fiel Jackson vom Stuhl Die Glieder zucken und er krümmte sich vor Schmerz. „Was ist das? Was hast du mir gegeben, An...drew?“, presste er hervor.

„Ich weiß nicht, wovon du sprichst, Jackson. Sicher ein Infarkt, wie bei Vater. Ich habe dir gesagt, du arbeitest zu viel. Es tut mir leid, Bruder. Warte, ich rufe die Rettung.“ Und er richtete sich auf, während Jackson sich an seinem Hosenbein festkrallte.

„Mir tut es nicht leid!“, keuchte Jackson atemlos.

„Was tut dir nicht leid?“ Andrew hielt in seiner Bewegung inne und ließ das Telefon sinken.

„Dass du keinen Penny bekommen wirst! Miller hat mich heute angerufen und gesagt, dass …“

„Dass was? Andrew zerrte den halbtoten Bruder am Kragen in die Höhe und schüttelte ihn.

„Dass die Klausel nicht... zu tilgen ist.“ Der Mann presste die letzten Worte mit größter Mühe heraus. Dann fiel der Kopf zurück und weit aufgerissene, tote Augen starrten vorwurfsvoll auf das gespiegelte Gegenüber, das nur einen halben Kopf kleiner war als der Tote.

 

Das Linsengericht hatte ganze Arbeit geleistet – doch es war vergebens.

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Bildmaterialien: Titelbild: Robert S. Donovan, „soul food“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Alle Bilder stammen aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2015

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