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Singe laut, wenn du in den Keller musst

Das Gedicht von Heinrich Heine inspirierte mich zu einer Kurzgeschichte, die beim 19. Wettbewerb der "Thrilling Stories" ein paar Lorbeeren gewann. Lesen Sie deshalb hier zunächst das Gedicht eines großen Literaten: 

 

Mein gar zu dunkles Leben

 

In mein gar zu dunkles Leben

Strahlte einst ein süßes Bild;

Nun das süße Bild erblichen,

Bin ich gänzlich nachtumhüllt.

 

Wenn die Kinder sind im Dunkeln,

Wird beklommen ihr Gemüt,

Und um ihre Angst zu bannen,

Singen sie ein lautes Lied.

 

Ich, ein tolles Kind, ich singe

Jetzo in der Dunkelheit;

Klingt das Lied auch nicht ergötzlich,

Hats mich doch von Angst befreit.

 

 

Sie kniet vor ihrem Bett, als wolle sie beten. Sie kniet dort, weil sie das Gefühl hat, dass ihre Füße sie keine Sekunde lang mehr aufrecht halten und ihr Gewicht tragen können. Zwar fühlen sich auch die Knie an wie Pudding, aber da der Boden nicht so weit entfernt ist, wird in dieser Haltung nicht allzu viel geschehen können. Leise summt sie ein Kinderlied vor sich hin. Das, von dem Männlein im Wald. Wie sie ausgerechnet darauf kommt, weiß sie nicht. Vielleicht, weil sie sich in einem dunklen Wald genau so fühlen würde, wie in diesem Raum, in den er sie kurzerhand abgeschoben hat. Doch die Geschichte beginnt viel eher. Das hier ist nur das Ergebnis ihrer Odyssee. Das Ende der Fahnenstange. Der Schlusspfiff im Endspiel. Jedenfalls nicht das Licht am Ende des Tunnels. Die Aussichten sind düster. Sie sprudeln in einem Pool aus Angst, quellen über und laufen über den Rand des Beckens. Sie droht, darin zu ertrinken.

 

Als Betty zwölf ist, trifft sie ihn zum ersten Mal. Die Mutter, seit kurzem vom Vater getrennt, hat keine Lust, mit dem Mädchen allein zu bleiben. Das pubertäre Gehabe Bettys scheint abzufärben. Immer öfter ist die Mutter schlecht gelaunt, Dann fliegen die Türen oder das gute Geschirr. Im Schrank stehen höchstens noch drei Tassen. Und sie keift, was das Zeug hält. So laut und lange, dass Betty die Fäuste auf den Ohren ballt, um die schrillen Töne nicht hören zu müssen.

 

Irgendwann beginnt Betty, ein Lied zu singen. Sich hinter eigenen Tönen zu verschanzen, die wohlklingen in den Ohren. Die nicht das Trommelfell zum Zerreißen bringen. Doch das alles ist nicht mehr als eine kleine Flucht. Ein paar Monate lang funktioniert Bettys Strategie. Dann tritt er in ihr Leben. Die Mutter ist verliebt – himmelhochjauchzend singt sie nun Lieder von Sonnenschein, Wochenende und ewiger Treue. So kitschig, dass es trieft. Betty fragt sich bald, ob ihr Geschrei nicht erträglicher war. Aber der Neue ist ganz nett. Wenn er kommt, hat Mutter keine Zeit mehr, sich um Betty zu kümmern. Die Liebe hat Vorrang. Wen interessieren dann Hausaufgaben und Haushaltspflichten? Bettys Mutter jedenfalls nicht.

 

Außerdem scheint es, als würde er sich in Zukunft um alles kümmern, was nötig ist. Die Mutter wird verwöhnt wie nie in ihrem Leben. Auch Betty kann und will nicht meckern, als er mit einem mp3-Player oder den neusten Turnschuhen um die Ecke kommt. Vorher war das Geld knapp. Nun fährt Mama einen Mini und es ist gar nicht mehr peinlich, wenn sie Betty ab und an von der Schule abholt. Sie reden von Hochzeit und Nachwuchs. Ein Geschwisterkind für eine Dreizehnjährige? Das produziert zwei Einzelkinder in einer Familie. Patchwork halt. Ist doch heute normal.

 

Er hat viel Geduld. Es dauert lange, bis er sich traut. Doch sein Verhalten ist zielführend. Er räumt den Keller frei. Ist ständig im Baumarkt. Die Mutter freut sich über den fähigen Handwerker im Haus, dem keine Arbeit zu viel wird. Sie singt noch immer. Dauer-Gute-Laune ist mit ihm eingezogen. Betty kann nicht sagen, dass er sie manchmal in den Keller hinunterruft, damit sie ein Brett für ihn hält. Auch nicht, dass seine Hände sie dabei immer wieder berühren. Schon gar nicht, wie unangenehm es Betty ist. Sie schweigt und summt ein kleines Lied. Das Thema Hochzeit scheint verschoben. Für Betty macht das keinen Unterschied.

 

Der Keller ist fertig. Niemand sieht den zusätzlichen Raum, den er geschaffen hat. Er hat ihn gut verborgen. Die Mutter kennt den Kellerraum nur im Chaos, nimmt nicht wahr, dass ein paar Quadratmeter zu fehlen scheinen. Hinter einer gemauerten Wand steht eine Liege. Seidig glatte Laken bedecken das Ding. Die Mutter ist unterwegs und bringt sein Geld unters Volk. Er ist sehr großzügig mit finanzieller Zuwendung. An diesem Nachmittag lernt Betty ihn kennen. Ihn und sein Versteck, das er gut vorbereitet hat. Es hat keinen Sinn, ihn anzuschreien oder um Hilfe zu rufen. Dazu ist sie nicht in der Lage.

 

Monate später. Die Mutter ist auf eine Kreuzfahrtreise gegangen. Sein finanzieller Spielraum scheint unendlich zu sein. Betty hat keine Ferien. Natürlich nicht. Und sie kann sich auch nicht beklagen über den Stiefvater, der ihr doch alles gönnt, was die Jugend von heute haben will. Alles, außer ihre Unberührtheit. Ihre Unschuld. Die hat er schon und er hat sie teuer bezahlt. Nicht so teuer wie Betty, wenn man es genau nimmt. Seit Tagen lebt sie in der Kammer. Er hat sie krank gemeldet und wenn er geht, verschließt er die Tür. Doch Betty ist es lieber, wenn er lange nicht wiederkommt. Sie kniet hier – vor der Pritsche mit den seidenen Laken - und singt das Lied vom Männlein im Wald. Wie lange schon, das weiß sie gar nicht.

 

Als sich der Schlüssel im Schloss dreht, kommt die Angst wieder hoch. Sie bahnt sich ihren Weg durch die Zeilen des Liedes hindurch, das Betty wie ein Mantra intoniert. Ihren Kopf hat sie erschöpft auf den Rand der Liege sinken lassen. Wenn sie nur wüsste, wie lange die Mutter schon fort ist. Sie hat die Zeit aus dem Blick verloren. Ihre Kraft reicht nicht mehr, um ihn anzusehen, wenn er eintritt. Sie reicht nur noch für das kleine Lied, zu dessen Takt sich das Mädchen sanft hin und her wiegt.

 

Eine Frau betritt den Raum. Es ist nicht die Mutter. Die ist in der Karibik. Die Frau trägt eine Uniform. Sie zieht Betty hoch, die nun endlich zu schreien beginnt. Die ihrer Angst Luft macht und nicht wissen will, wie die Uniformierte und ihre Kollegen in den geheimen Keller kommen. Sie hört wie durch einen Nebel davon, dass er mit dem Auto gegen eine Mauer gefahren ist. Dass er nicht sofort tot war. Dass er noch von seinem, nein ihrem Versteck im Keller gesprochen hat. All das hört sie durch des Waldmännleins Ouvertüre. Verstehen kann sie es nicht. Sie wird das Lied noch lange singen, bis endlich etwas zu ihr durchdringt. Doch es wird heilsam sein, wenn sie es anstimmt. Immer dann, wenn die Angst zu übermächtig wird und sie einem gewaltsamen Tod an der Mauer nicht traut.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 05.01.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Dieses Buch siegte im 19. Wettbewerb der Bookrix-"Thrilling Stories" Gruppe

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