Jeannie lungerte auf der Straße herum. Stetig fiel der Regen in einem dichten Vorhang auf sie nieder. Der Unterstand der Stadtbahn reichte kaum aus, sich davor zu schützen, ganz egal, wie klein sie sich machte.
„Verdammt!“, schimpfte sie. Ihr Blick fiel auf Trudi, ihre Hündin, die sich mit angelegten Ohren unter den Drahtsitz der Haltestelle verzogen hatte. Sie lag inmitten einer Riesenpfütze. Von ihrem zotteligen Fell troff das Wasser. Genau betrachtet, hatte Trudi einen sehr unzufriedenen Gesichtsausdruck aufgesetzt, auch wenn sie selbstverständlich einen Fluch vermissen ließ.
Dieser Herbst meinte es nicht gut mit ihnen. Seit Tagen Dauerregen. Schlafplätze für Streuner mit Hund gab es sowieso kaum. Jeannie hatte die letzten zwei Nächte, die schon empfindlich kalt gewesen waren, im Vorraum einer Bankfiliale verbracht. Damit war nun Schluss. Einer von denen, die sich ihren Aufenthalt auf der Straße schön soffen, war gestern vor ihr dort gewesen. Am Morgen hatte sie gesehen, dass ihn die Bänker verjagten – er hatte vor den Geldautomaten gekotzt. Na, toll!
Auch die Tafel der Stadt war überfüllt mit Hartz IV-Familien, die von dem bisschen Geld längst kein anständiges Essen mehr auf den Tisch bringen konnten, auch wenn sie noch ein Dach über dem Kopf hatten.
„Hunger, Trudi?“, fragte sie einsilbig. Die Hündin hob den Kopf. Sie hatte immer Hunger. Wann war so ein großes Tier schon mal satt? Doch hier an der Haltestelle standen die Aussichten auf eine Mahlzeit schlecht. Sie würden vor dem Supermarkt Position beziehen müssen. Trudi wurde angeleint und Jeannie musste heftig ziehen, damit sich die Hündin erhob. Kein Wunder, es regnete Bindfäden. Bis die zwei den Eingang der Supermarktfiliale erreichten, waren sie noch nasser, falls das überhaupt möglich war. Die elektrische Tür öffnete sich im Sekundentakt. Jeannie hockte neben der Hündin und hatte frierend die Beine angezogen.
„Mama, da ist ein Hund! Der ist süß!“, ein etwa fünfjähriger Blondschopf zerrte an der eleganten mütterlichen Hand.
„Phil-Lukas, nun mach hier kein Theater. Sicher haben die beiden Flöhe. Du fasst mir das Vieh nicht an, hast du gehört? Außerdem müssen wir weiter…!“, zischte sie. Die Frau gönnte ihnen keinen Blick und stöckelte auf hochhakigen Schuhen davon. Der Kleine konnte kaum Schritt halten.
Wieder öffnete sich die Tür. Ein fetter Kerl kam heraus, auf beiden Armen trug er einen Karton voller Lebensmittel, so hoch beladen, dass ihm die Last den Blick versperrte. Prompt stolperte er über Jeannie. Eine Dose Erbsen fiel herab, kollerte klackernd über das Pflaster davon.
„Hey, was soll das?“ Der Typ rang mühsam um sein Gleichgewicht. „Musst du mit deinem Köter direkt im Eingang sitzen? Mach, dass du weg kommst. Jetzt kriechen die Penner schon zu unseren Füßen herum, sodass man drüber fällt.“ Der Dicke wurde richtig laut und unangenehm. Das rief den Filialleiter auf den Plan.
„Würden Sie sich bitte einen anderen Platz suchen und nicht in unserem Eingang betteln? Überhaupt, wie Sie aussehen. Und der Hund…!“ Das klang zwar nach außen hin höflicher, sagte aber nichts anderes aus, als die Ansage des Dicken.
Jeannie aber war froh, dass man sie überhaupt wahrnahm. Wie das geschah, war zweitrangig. Obwohl es da durchaus Unterschiede gab. Doch eines wollte sie nicht sein: unsichtbar. Wenn Menschen peinlich berührt an ihrer ausgestreckten Hand vorbeisahen. Oder wenn sie, wie vorhin, sogar zum Hindernis im Weg eines anderen wurde. Darunter litt sie. Ihr war längst klar, dass nur Geld die Welt regierte, dass sie mit leerem Portemonnaie und ohne Heim auch an Ansehen verloren hatte.
Sie standen wieder an der Haltestelle. Der Bus fuhr vorbei, ohne anzuhalten. Unsichtbar.
„Leider bewirkt das nicht automatisch, dass wir ins Geschäft spazieren und uns bedienen können, Trudi! Armut ist keine Tarnkappe. Sie sorgt nur für den Verlust von Ansehen“, stellte Jeannie bedauernd fest. Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Trudi drängte sich jetzt dicht an Jeannies Körper, sorgte dafür, dass der jungen Frau weniger kalt war. Die raue Zunge fuhr ihr liebevoll über das Gesicht. Zwei wache Augen blickten sie an, sahen ihr direkt ins Innere.
Und Jeannie erkannte: Wirklich verloren wäre sie nur ohne Trudi. Ihre Hand liebkoste das zottelige, triefend nasse Fell. Und mit einem Mal sahen die zwei ganz zufrieden aus.
Bildmaterialien: Coverfoto: GerdZ, „21st Century“, CC-Lizenz (BY 2.0) http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Alle Bilder stammen aus der kostenlosen Bilddatenbank www.piqs.de
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2014
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