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Der Tod ist kein Statist

Der Tod ist kein Statist

 

Ich torkle verschlafen durch die Wohnung. Es ist Sonntagmorgen. Sieben Uhr und viel zu früh für Besuch. Als ich das Klingeln ignorieren will, habe ich ein komisches Gefühl in der Magengegend. Also raffe ich mich auf und tappe barfuß durch den Flur. Ich presse mein linkes Auge an den Türspion. Rechts bin ich ohne Brille blind.

 

Da draußen steht ein Typ im schwarzen Anzug. Sieht aus wie ein Gerichtsvollzieher. Haben die sonntags nicht frei? Meine Neugier auf den Fremden wächst, aber ich lege die Kette vor. Man kann ja nie wissen. Die Tür öffnet sich einen Spalt breit, bevor meine Hand die Klinke herunterdrücken kann. Das muss ich wohl geträumt haben.

 

„Ja, bitte?“, sage ich mit fragendem Unterton und gähne dabei. Der Mann kann ruhig wissen, dass er mich geweckt hat. Obwohl das sicher am Bademantel unschwer zu erkennen ist.

„Nicole?, Nicole Obermaier?“, will er wissen.

„Ja, steht doch auf der Klingel.“

„Kann ich hereinkommen?“ Er flüstert fast, als wolle er um die Uhrzeit Rücksicht auf andere Hausbewohner und deren Sonntagsruhe nehmen. Nun, bei mir ist er ja auch nicht so zimperlich gewesen.

„Womit kann ich Ihnen helfen? Sie müssen schon sagen, was Sie um diese nachtschlafende Zeit bei mir wollen und wer Sie sind.“ Die Neugier bringt mich nicht dazu, nachzugeben und ihn einfach hereinzulassen.

„Gestatten, Tod!“, erklärt er kurz und bündig. Ich muss schlucken.

„Sie sind hier falsch!“, presse ich durch meine vor Schreck zusammengebissenen Zähne. Er rollt einen Zettel auseinander, den er zusammengeknüllt in der Hand gehalten hat.

„Nein, steht hier. Nicole Obermaier, sechsunddreißig“, er blickt mir aufmerksam ins Gesicht, um seine Einschätzung zu verifizieren, „Bodenbacher Straße 12, dritter Stock.“

„Nun, so weit liegen Sie richtig. Doch wer hat Sie geschickt?“

„Wollen wir das wirklich zwischen Tür und Angel besprechen?“, fragt er.

 

Widerwillig gebe ich nach und will die Kette entfernen. Auf dem Weg nach oben erstarre ich. Die Kette hängt längst rechts in der Halterung am Türrahmen, bevor ich sie berühren kann. Er drückt sich an mir vorbei und geht ins Wohnzimmer. Dort nimmt er ungefragt in meinem Lieblingssessel Platz.

 

„So, jetzt mal Butter bei die Fische!“ Ich ergreife die Flucht nach vorne. „Was wollen Sie von mir. Ich will ja gar nicht davon reden, dass Sie mich geweckt haben. Doch Ihre Todesnummer finde ich wenig originell. Arbeitsloser Schauspieler?“, frage ich kurz und blicke ihm direkt ins Gesicht. Er sieht aus wie jemand, den man auch dann nicht wiedererkennt, wenn er einem schon vorgestellt wurde. Sein Gesicht würde in jeder Menschenmenge verblassen. „Oder Statist?“, erkundige ich mich, weil er noch immer nicht antwortet.

 

„Der Tod ist kein Statist!“, erklärt er lapidar.

„Nun machen Sie sich doch nicht lächerlich. Wer hat Sie geschickt? Sollen Sie mir Angst machen oder halten meine Freunde das für einen guten Scherz?“ Langsam reicht mir sein Auftritt.

„Freunde?, erwidert er. „Haben Sie denn welche?“

„Jetzt werden Sie mal nicht unverschämt.“ Meine Stimme kippt ein wenig, als ich das sage.

„Es ist die Wahrheit und die klingt unangenehm in den Ohren. Ich bin gekommen, um Ihnen bei Ihrer Bestandsaufnahme behilflich zu sein. Kurz vor Ultimo, sozusagen.“

„Ich stelle mir den Tod anders vor.“ Mehr fällt mir im Augenblick zu seiner offenen Art nicht ein. Ich gebe zu, dass es schmerzt, was er über die Nichtexistenz meiner Freunde gesagt hat.

„So vielleicht?“, will er wissen. Plötzlich trägt er statt des Anzugs einen langen schwarzen Mantel. Über seiner Schulter blinkt ein rostiges Gartengerät, das wie eine mittelalterliche Sense anmutet.

„Der Schnitter!“, entfährt es mir und ich halte mir die Hand auf den Mund, als könnte ich die Bemerkung so zurückholen.

„Genau!“, sagt er.

„Und Sie wollen WAS?“

„Eine Bestandsaufnahme. Mit Ihnen.“ Er spricht in dem geduldigen Ton, den man normalerweise für ein Kleinkind bereithält. Oder für die andere Altersklasse, die den Verstand am Eingang ihrer Pflegeeinrichtung abgegeben hat. Entschuldigung, jetzt werde ich zynisch.

„Nun, heute steht zwar allerhand auf meinem Freizeitprogramm, aber das gehört ganz sicher nicht dazu.“ Vielleicht kann ich ihn loswerden, wenn ich mich nur zickig genug anstelle. Doch mein Plan misslingt, das wird mir schnell klar.

„Sie können Ihrem Schöpfer auch entgegentreten, ohne dass Sie Bilanz gezogen haben. Mir ist das herzlich egal. Ich mache hier nur meinen Job.“ Er lässt die Sense – es ist tatsächlich eine – neben sich auf den Teppich fallen. Rostpartikel zeichnen einen scharfen Bogen auf meiner hellen Auslegeware.

 

Ich lasse mich auf das Sofa fallen und ringe nach Luft. Muss sich mein Asthma ausgerechnet jetzt melden? Irgendwo in der Tasche des Bademantels ist das Spray. Meine Hand bekommt es zu fassen, bevor mich die Panik überwältigt. Ich schließe die Lippen um das Plastikrohr und drücke auf die Flasche. Der widerliche Geschmack von Kortison erfüllt meinen Mund, doch schon Sekunden später fällt mir das Atmen leichter.

 

„Keine Sorge, ein Asthmaanfall ist schlimmer“, tröstet er mich. „Wenn es auf das Ende zugeht werden Sie nichts mehr spüren. In Ihrem Fall geht das völlig schmerzlos vonstatten.“

„Wie können Sie das wissen und warum ist das in meinem Fall so, wie Sie es beschreiben. Was unterscheidet mich von anderen?“ Das Reden ist immer noch anstrengend. Bis zur vollen Wirkung benötigt das Kortison mindestens eine halbe Stunde.

„Es gibt nichts und niemanden, der Sie an das irdische Leben bindet. Da fällt das Sterben in der Regel leichter. Es gibt natürlich auch Ausnahmen, aber so wie ich das in Ihrer Akte gesehen habe...“ Er verschweigt mir, was in meiner Akte gestanden haben soll. Vor allem schweigt er sich darüber aus, wo es diese Akte gibt. Käme ich doch nur ans Telefon heran. Ich muss die Polizei informieren, dass sich ein Irrer in meiner Wohnung aufhält und mich mit dem Tod bedroht. Mein Blick fällt auf das Handy, das vor ihm auf dem Tisch liegt.

„Die Polizei wird Ihnen nicht glauben!“ Scheinbar kann er Gedanken lesen. „Und wenn wir zwei heute nicht einig werden, komme ich solange wieder, bis das hier geregelt ist. Mit Das hier meint er wohl mein baldiges Ableben. Ich versuche es auf einem anderen Weg.

„Sie wollen also mein bisheriges Dasein mit mir besprechen. Müssen Sie die Bilanzen für Ihre Abteilung schriftlich niederlegen oder reicht unser Gespräch aus?“

„Sie sollten die Sache ernst nehmen, Nicole. Heute haben Sie die Möglichkeit, darüber zu entscheiden, wie es mit Ihnen weitergeht.“

„Aber das scheint doch klar zu sein. Wenn Sie diese Wohnung verlassen, werde ich tot sein. Was gibt es da noch zu entscheiden?“

 

„Wenn wir dieses leidige Vorgeplänkel abkürzten, wären wir schon einen Schritt weiter, sagt der Mann im schwarzen Mantel. „Erstellen wir doch eine Liste... Pro und Kontra, sozusagen.“ Er lehnt sich zurück. Ich werde ihm keinen Kaffee anbieten, nicht einmal, wenn er jetzt die Füße auf meinen Tisch legt.

„Was haben Sie in den letzten sechsunddreißig Jahren geleistet? Wem haben Sie geholfen? Für wen waren Sie der rettende Anker?“ Ich weiß, was ich geleistet habe, aber ob das auf seine Liste passt? Ich bin mir da nicht sicher.

„Ich kann den Anfang übernehmen, Nicole. Vielleicht verstehen Sie dann, wie ich das meine.“ Während er beginnt, mein Leben in Fakten aufzulisten, hebt er einzeln die Finger. Er hat sich die Kontraliste ausgesucht.

„Da wäre Ihr Beruf. Sie sind beim Finanzamt, nicht wahr?“

„Ich sorge dafür, dass der Staat seine hoheitlichen Aufgaben wahrnehmen kann, indem ich die Finanzierung derselben sichere.“ Er ist nicht der erste, vor dem ich meinen Beruf verteidige.

„Sie kassieren arme Bürger ab. Sie sind gnadenlos, wenn es um die Vorlage von Quittungen geht. Sie sind regelkonform und sehen niemals, wo Sie auch ein Auge zudrücken können. Wie vielen Menschen haben Sie schon den Gerichtsvollzieher auf den Hals gehetzt, wenn sie um Stundung ihrer Schulden gebeten haben?“

Vor meinen Augen erscheint der kleine Installateur, den ich letzte Woche nach Hause geschickt habe. Weil seine Verbindlichkeiten nicht beglichen wurden, hatte er seine Umsatzsteuer nicht zahlen können. Der Betrieb stand somit vor dem Aus. Aber mir waren die Hände gebunden. Ich konnte nicht anders handeln. Der Tod nickte.

„Genau, ich denke auch gerade an die Firma Schaller. Begreifen Sie, worauf es mir ankommt? Herr Schaller hat sich einen Strick genommen, dabei war er erst fünfunddreißig.“ Er schüttelt missbilligend den Kopf. „Aber Sie wissen jetzt, worauf ich hinaus will, Nicole?“, fragend legt er den Kopf auf die Seite. „Wie sieht es mit Ihren sozialen Kontakten aus?“

„Habe ich!“, sage ich kurz angebunden.

„Sprechen Sie von Peter, den Sie Ihrer besten Freundin ausgespannt haben, bevor Sie ihn dann wie eine heiße Kartoffel haben fallen lassen, als es ernst wurde? Oder vielleicht die Nachbarin, die Sie kürzlich gebeten hat, auf ihren Kleinen achtzugeben? Sie hatten gerade etwas Besseres vor. Es lief eine Folge von The Biggest Loser, nicht wahr? Aber vielleicht meinen Sie ja auch Ihre Kollegin Christina, der Sie den letzten Urlaub versaut haben?“

„Was wollen Sie denn eigentlich von mir? Mindestens Peter müsste dann auch auf der Abschussliste stehen. Wenn der sich nicht in seiner Beziehung zu Sarah gelangweilt hätte...“ Ich spüre, dass meine Ausrede vor den Augen des Todes keinen Bestand hat.

 

„Lassen wir das. Was ist mit Ihrer Empathie für andere? Wann haben Sie jemandem geholfen, der Ihre Hilfe nötig hatte?“

„Letztens, der alten Frau Kramer, als sie mit den schweren Taschen nach Hause kam.“ Ich bin froh, endlich etwas Gutes zur Diskussion beitragen zu können.

„Das war vor drei Monaten!“, erklärte der Tod.

„Seither habe ich sie nicht wieder getroffen.“

„Das ist kein Kunststück!“, erwiderte der Sensenmann. „Frau Kramer ist vor drei Wochen verstorben. Man hat sie in ihrer Wohnung gefunden, wo sie drei Tage lang um Hilfe gerufen hat. Das ist die Wohnung direkt unter Ihnen. Sie haben nicht einmal mitbekommen, dass Frau Kramer abgeholt wurde.“

„Waren Sie bei der auch?“ Ich kann nicht anders und kichere morbide.

„Nein, ich war nicht im Dienst.“ Der Tod starrt mich an. Ich spüre, dass ihm meine Reaktion nicht gefällt. „Gibt es denn noch etwas, das Sie zu Ihrer Pro-Liste hinzufügen können? Auf der Haben-Seite sieht es mau aus.“

„Sie werden es nicht gelten lassen, schätze ich.“ Ich führe ein einsames Leben, schere mich nicht um andere und will einfach nur in Ruhe gelassen werden. Dass mir dieses Verhalten zum Nachteil gereichen könnte, hat ich bisher nicht bedacht.

„Stimmt. Nicole, Sie hätten es besser machen können, aber Sie haben Ihr Potenzial nicht genutzt.“ Er kann Gedankenlesen.

„Dann ist es also vorbei?“ Mir kriecht die Kälte den Nacken hoch. Winzige Härchen stellen sich auf und ich schüttle mich.

„Was wünschen Sie sich noch?“, fragt der Tod. Er ist sicher, dass ich mir nicht wünschen werde, verschont zu bleiben.

„Ich möchte nicht im Bademantel sterben. Und ich möchte nicht drei Tage tot in der Wohnung liegen, bevor man mich findet.“

„Frau Kramer hatte nicht so viel Glück!“

„Dafür war sie auch schon achtzig.“ Der Tod nickt.

 

„Gehen Sie duschen und machen Sie sich hübsch. Ich warte hier so lange auf Sie.“

 

Ich stehe auf und gehe ins Bad. Ich weiß, wann ich verloren habe.  

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Tag der Veröffentlichung: 16.09.2014

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