Der Patient vor ihm auf dem Tisch war von der weinerlichen Sorte.
„Können Sie nicht ein bisschen vorsichtiger zustechen?“, erklang die gequälte Stimme, als Torsten die dritte Nadel in seiner Haut versenkte. Er führte die winzigen sterilen Dinger immer schräg zur Oberfläche ein, wie er es gelernt hatte. Im Selbstversuch stach Torsten während seiner Ausbildung zum Akupunkteur tausende Male mikros-kopisch kleine Löcher in die eigene Epidermis. Nie verspürte er mehr als einen winzigen Einstich.
„Entschuldigung, ganz ohne Schmerz geht das leider nicht vonstatten“, erklärte er. „Aber Sie werden schnell spüren, dass Ihre Beschwerden nachlassen. Da ist so ein kleiner Stich sicher das geringere Übel.“
„Sie haben gut reden, junger Mann. Sie hängen ja auch am anderen Ende Ihrer Folterinstrumente!“ Wieder stöhnte der übergewichtige Mann auf und zuckte zusammen, als ihn die nächste Spitze traf.
„Sie müssen still liegen, Herr Kruse.“
„Mmmh“, brummte der Patient schlecht gelaunt.
Torsten sah auf die Uhr. Noch vier Stunden und fast die doppelte Anzahl Patienten. Es gab Tage, die glichen einem alten, zähen Kaugummi. Nach Feierabend war er mit Barbara fürs Kino verabredet. Sie wollte unbedingt diesen neuen Film mit Brad Pitt sehen. Was tat man nicht alles für seine Verlobte?
Wieder zuckte Kruse. Oh verdammt, jetzt hatte er tatsächlich falsch zugestochen. Er musste sich zusammenreißen und konzentrieren, bevor Kruse sich beim Chef beschwerte und er den Patienten los war.
Viereinhalb Stunden später verließ Torsten verärgert und erschöpft die Praxis. Das lag nicht nur am vollen Terminkalender. Barbaras SMS hatte ihren Anteil
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Anja Ollmert
Bildmaterialien: Titelbild: Jeffrey, „tourist in your town“, CC-Lizenz (BY 2.0)
Lektorat: ---
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Tag der Veröffentlichung: 23.04.2014
ISBN: 978-3-7368-0403-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle Leser, die neugierig sind auf die Auskopplung aus der Kurzgeschichtensammlung "Hinter Türen".