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Strandgut

Sam saß am Strand und beobachtete die Schiffe, die das aufgewühlte Meer durchpflügten. Sie zog sich immer wieder dorthin zurück, wenn es ihr schlecht ging. Ihre Freunde kannte das bereits. Dann saß sie mit nackten Füßen im Sand und wartete darauf, dass das allgewaltige Meer ihre Depressionen mit hinaus nahm. Ebbe und Flut. Flut und Ebbe. Wogende Wellen und schäumende Gischt.

Sam hatte ihn verloren. Pete. Er war in diesem Element zuhause gewesen. Trotzdem hatte er sein Leben genau dort verloren. Nicht an der Stelle, wo sie jetzt saß und in die Fluten starrte, aber ein Stück weit vor dieser Küste. Er war mit einem Kunden hinausgefahren zum Angeln. Der hatte ihn über Bord geworfen und das Boot gestohlen. Keine brauchbaren Hinweise für die Polizei. Pete war einfach verschwunden und niemals wieder aufgetaucht. Seitdem waren schon zwölf Monate vergangen und Sam saß noch immer allein im Sand, ohne Aussicht darauf, jemals zu erfahren, wo seine Leiche abgeblieben war. Fischfutter, vermutlich. Hatte jedenfalls der Kommissar lapidar gesagt, als er ihr mitteilte, dass man die Suche einstellen werde.

Ihre Freunde glaubten ebenfalls nicht an die Geschichte des mordenden Unbekannten. Pete und Sam hatten sich gestritten. Er wollte sich von ihr trennen. Aber Sam war sicher, dass Pete nie diesen Weg gegangen wäre. Fairness war sein oberstes Gebot.

Sams Blick lag starr auf der spiegelnden Oberfläche des Meeres und saugte sich an einem Gegenstand fest, der dort auf- und abtrieb und immer wieder in den Wellentälern verschwand. Das sah aus wie eine alte, grüne Flasche. Wieder jemand, der seinen Müll im Wasser entsorgt hatte. Sam schüttelte missbilligend den Kopf. Das Ding würde hinausgetrieben werden, denn die Ebbe hatte eingesetzt und das Wasser zog sich langsam aber sicher vom Strand zurück. Entgegen Sams Vermutung aber geschah etwas völlig Unerwartetes. Das Wasser zog sich zurück und nahm die Flasche nicht mit sich, sondern schien sie mit der sanften Gischt auszuspucken, sodass sie innerhalb weniger Minuten direkt auf dem Strand lag. Seltsam.

Sam erhob sich und trat näher. Das war keine normale Flasche. Im Innern sah sie einen zusammengerollten Zettel, auf dem Flaschenhals saß ein Korken. Eine Flaschenpost. Sam bückte sich und nahm sie auf. Der Korken steckte zwar fest, doch ein kleines Stück sah über den Flaschenhals hinaus. Sie zog daran, denn die Neugier hatte sie gepackt. Der Verschluss löste sich mit einem leisen „Plopp“. Sam drehte den Flaschenboden nach oben und schüttelte das Ding, bis ihr der Zettel in die Hand fiel. Gespannt auf die Botschaft rollte sie ihn auseinander.

"Liebe Sam",
las sie dort und riss vor Überraschung die Augen weit auf.

„Man wird dir weismachen, dass ich dich verlassen habe und mit unserem Boot von der Bildfläche verschwunden bin. Aber das ist gelogen. Es wäre nicht fair gewesen, sich so aus der Affäre zu ziehen. Noch kann ich dir nicht sagen, wer die Schuld daran trägt, weil die Beweise fehlen. Eins aber musst du wissen: Ich lebe nicht mehr. Behalte es für dich und sorge dafür, dass dich Tom begleitet, wenn du das nächste Mal am Strand bist. Den Rest übernehme ich. 
Von Herzen, Pete“

Sam hatte sich währenddessen in den Sand sinken lassen und kniete nun dort, unfähig, sich zu bewegen. Woher kam dieser Brief? Wenn Pete nicht mehr lebte, konnte er ihn unmöglich selbst geschrieben haben. Konnte es wirklich sein, dass diese Flasche seit einem Jahr auf den Wellen tanzte, um ausgerechnet heute angespült zu werden? Sam lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Und warum hatte Pete ihr nicht geschrieben, wer für seinen Tod verantwortlich war? Für die nötigen Beweise wäre die Polizei zuständig gewesen.

Langsam drang es in Sams Bewusstsein, dass man sie bei der Kripo mit ihrer Flaschenpost womöglich ausgelacht hätte. Aber was hatte Tom mit der Sache zu tun? Und zu welchem Zeitpunkt sollte sie mit ihm an den Strand kommen?

Tom war der beste Freund ihres Mannes gewesen. Sie kannten sich seit Kindertagen, hatten sich zusammen selbständig gemacht mit ihrem Bootstrip-Verleih. Tom hatte das Geschäft in Petes Sinn weitergeführt, glaubte Sam. Mit dessen Tod hatte er sicher nichts zu tun.
Doch der Inhalt der Flasche drängte sie dazu,  nach Hause zu gehen und Tom anzurufen. Von der Flaschenpost würde sie nichts sagen. Sie würde ihn einfach einladen, mit ihr am Strand zu picknicken. Da er sich schon lange um Sam bemühte, würde er die Einladung nicht ausschlagen.

Zwei Tage später war das Wetter angenehm warm, die Gezeiten stimmten in etwa mit denen überein, als Sam die Flasche gefunden hatte. Ein Anruf von Sam hatte gereicht. Tom würde mit ihr an den Strand fahren. Er glaubte an ein gemeinsames Picknick und seine Stimme war voller Begeisterung gewesen. Für Sam wurde deutlich, was Tom sich davon versprach.

Als sie kamen, stand die Sonne schon recht tief über dem Horizont. Sie plauderten in lockerem Ton über unverfängliche Dinge. Das Geschäft lief nach wie vor gut. Tom überwies ja auch regelmäßig das Geld, das Sam laut Testament zustand. Sie hatte ihr Auskommen und musste auf nichts verzichten. Manchmal hatte sie schon gedacht, dass es ein bisschen zu viel war, was Tom abzweigen musste, um seiner Verpflichtung nachzukommen.

Sie ließen sich im Sand nieder. Sam breitete eine Picknickdecke zwischen ihnen aus und schnell standen dort ein paar Köstlichkeiten, über die sie sich hermachten. Sie goss beiden aus einer Weinflasche ein. Kurze Zeit später blieb Sam das Hähnchenfleisch im Hals stecken.

„Es ist gut, dass du mich um ein Treffen gebeten hast!“, sagte Tom unvermittelt.
    „Warum, gibt es etwas zu besprechen?“ In wichtigen Belangen und bei Veränderungen in der Firma musste Tom sie um ihr Einverständnis bitten.
    „Ich wollte dir längst sagen, dass es nicht gut um die Firma steht“, bekannte der Mann.
    „Was soll das heißen?“ Sam reagierte irritiert.
    „Dass es für dich bald kein Geld mehr geben wird. Es sei denn, du willigst ein, mich zu heiraten.“ Aus Toms Mund klangen diese Worte völlig emotionslos.
    „Sag mal, du spinnst wohl? Das Geschäft stand gut da, als Pete verschwand.“  Sam war aufgesprungen und stand Tom empört gegenüber.
    „Von wegen. Du vergisst, dass das Boot mit ihm verschwunden ist. Allein die Unsummen, die ich für einen Ersatz ausgeben musste. Und es kommen immer weniger Touristen mit praller Brieftasche. Die goldenen Zeiten sind vorbei.“ Auch Tom war aufgesprungen. „Aber ich sagte ja: Heirate mich und ich sorge dafür, dass es dir an nichts fehlt.“
    „Das werde ich sicher nicht tun. Zunächst werde ich einen Betriebsprüfer engagieren, der die Bücher kontrolliert.“
    „Du misstraust mir?“ Tom brüllte inzwischen laut, doch auch Sam war nicht ruhig geblieben.
    „Und ob. Was soll ich sonst davon halten? Mein Mann ist tot, du verjubelst unser Geld und meinst, du könntest mich zu einer Ehe erpressen? Das kann nicht dein Ernst sein.“

Jetzt senkte Tom die Stimme und sagte leise:
    „Wenn du nicht auch spurlos von der Bildfläche verschwinden willst, solltest du mein Angebot annehmen. Ich werde dich nicht noch einmal bitten, meine Frau zu werden. Du hast deine Chance gehabt.“ Er machte einen Schritt auf Sam zu, fasste sie rüde bei den Handgelenken, drehte ihr die Arme auf den Rücken und schob sie vor sich her. Sam schrie um Hilfe, doch wer sollte hier in der Dämmerung an diesem einsamen Strand auf sie aufmerksam werden? Hier war niemand außer ihnen. Und obwohl sie darauf gehofft hatte, dass Pete sich zeigen würde, war nichts geschehen. Jetzt wusste sie, dass Tom für das Verschwinden ihres Mannes verantwortlich war. Diese Gewissheit brachte Sam keinen Zugewinn.

Der Mann, der mehr als einmal behauptet hatte, dass ihm etwas an ihr liege, stieß sie unsanft vor sich her. Tom hatte sich in Richtung des Strandaufgangs gewandt. Langsam aber sicher zwang er Sam vor sich den steilen Weg hinauf. Inzwischen hatte sie es aufgegeben, sich zu wehren. Tränen liefen über ihr Gesicht und Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sie ahnte, was Tom vorhatte. Jeder wusste, dass sie oft an den Strand kam, wenn die Depressionen zu stark wurden. Niemand würde in Zweifel ziehen, dass sie freiwillig die steilen Klippen hinuntergesprungen war.

Noch ein paar Meter, dann würden die Strahlen der untergehenden Sonne das letzte sein, was sie in diesem Leben sah. Sie hatte sich damit abgefunden. Gut, dass sie niemanden zurückließ. Dort standen sie nun, Sams Fußspitzen wiesen zum Meer hin, sie mühte sich, die Balance zu halten, aber was sollte das bringen? Hier war niemand außer ihnen. Hilfe würde nicht kommen.

Plötzlich atmete Tom zischend ein. Sam kannte den Grund dafür nicht. Er stand so dicht hinter ihr, dass sie sich nicht traute, zur Seite zu sehen. Dann würde sie sofort den Halt verlieren. Sie hörte ihn sagen:

„Was willst du? Wie kommst du hierher?“ Doch Tom erhielt keine Antwort. Er richtete seinen Monolog an einen Unsichtbaren.

„Ich werde Sam jetzt über die Klippen stoßen. Was willst du dagegen unternehmen? Du bist ein Geist. Du kannst nichts tun. Sieh das doch ein.“ Ein grausames Lachen brach sich in Toms Kehle Bahn. Sam verlor vor Schreck das Gleichgewicht und kippte wie in Zeitlupe über die bröckelnde Felskante. „Das war’s dann wohl“, dachte sie. „Pete hat mich mein Leben gekostet, als er mir auftrug, Tom hierher zu locken.“ Doch sie fiel nicht. Sie schwebte wie von Geisterhand bewegt in Höhe des Felsens, ein Stück davon entfernt.

Von dort sah sie, wie sich Tom an die Kehle griff und keuchte. Er rang mit einem Dämon. Schritt für Schritt wurde er näher an den Abgrund gedrängt, bis er schlussendlich abrutschte und fiel. Sein schriller Schrei klang sekundenlang zu Sam hinauf.

Sie aber spürte, wie sie auf festem Untergrund abgesetzt wurde und konnte schwören, dass ihr die Finger von Petes Hand sanft über die Wange strichen. Dann blieb sie allein zurück.

Toms Körper lag zerschmettert auf einem Felsvorsprung in der Tiefe. Die Flut kam und erste Wogen überspülten den Toten mit schäumender Gischt. Sam würde die Polizei rufen müssen. Doch erst ging sie zum Strand hinab und packte die Überreste ihres Picknicks zurück in den Korb. Sie riss einen Zettel aus ihrem Notizbuch und schrieb etwas darauf. Dann nahm sie die leere Weinflasche, gab den zusammengerollten Zettel hinein, verkorkte die Flasche und warf sie in hohem Bogen in die Flut. Ihr Dankeschön für den toten Pete.

Infos zur Autorin


Texte von Anja Ollmert - gratis und im Verkauf - finden Sie hier bei Bookrix als E-Book oder als Printversionen bei Amazon.

Sie sind herzlich eingeladen, die Autoren-Homepage unter www.anjaollmert.jimdo.com zu besuchen.

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.08.2013

Alle Rechte vorbehalten

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