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Musik des Lebens

Tom war Straßenmusiker geworden, ohne es selbst zu wollen. Ok, Musik war sein Leben, deshalb hatte er das Fach Konzertgitarre studiert. Doch wenn er geahnt hätte, dass ihn seine Musik hierhin führen würde, hätte er eine andere Wahl getroffen.

Stöhnend erhob sich Tom aus der unbequemen Sitzposition am Boden. Sein Steißbein schmerzte, ihm war kalt und ungemütlich. Er legte die Gitarre im Instrumentenkoffer ab und griff in den Hut, der direkt daneben stand. Die wenigen Geldstücke darin waren feucht vom stetig fallenden Nieselregen, der den ganzen Morgen begleitet hatte. Ob das für eine Tasse Kaffee und ein belegtes Brötchen reichte?

Erst jetzt bemerkte er das junge Mädchen, das ebenso nass war wie er selbst. Lungerte sie vielleicht schon länger vor seinem Platz herum? Tom hatte keinen blassen Schimmer. Wenn er Musik machte, versank er völlig in der Flut der Töne, die er erzeugte. Dann hatte er keinen Blick für das, was um ihn herum geschah. Er würde nicht einmal bemerken, wenn jemand in seinen Hut hineinlangte. Doch jetzt, wo er Blickkontakt aufgenommen hatte, trat das Mädchen zögerlich näher an ihn heran.

„Hi, ich bin Sylvie!“ sagte sie mit einer etwas rauchigen, aber durchaus angenehmen Stimme zu ihm. Als wäre nichts Besonderes dabei, streckte sie ihm die Hand einladend entgegen.

Tom – selbst nicht kontaktscheu – verunsicherte die Offenheit der Unbekannten. Seine Umgangsformen brachten ihn dazu, ihre ausgestreckte Rechte zu ergreifen. Kaum dass sich ihre Fingerspitzen berührten, fühlte er einen elektrischen Schlag, der ihm bis in den entferntesten Nerv fuhr. Hektisch ließ er Sylvies Hand los und schüttelte seine eigene, als habe er sich verbrannt.

„Du bist wohl ein wenig geladen?“, sagte er.

„Was meinst du damit?“ Ob sie das gar nicht gespürt hatte?

„Ach, nichts.“ Sicher hatte er sich das nur eingebildet. Mal sehen, ob sie jetzt damit herausrückte, was sie von ihm wollte.

„Du spielst echt klasse. Ich hör dir schon seit einer Weile zu. Du bist mit deiner Gitarre fast verwachsen, oder? Ist jedenfalls mein Eindruck.“

„Ist meine Erste gewesen. Ein Geschenk meiner Großmutter. Musik ist mein Leben, wenn man das so sagen kann.“ Mehr sagte er dazu nicht.

„Darf ich sie trotzdem mal anfassen? Ich hab früher auch gespielt.“ Ihr sehnsüchtiger Blick fiel auf den offenen Gitarrenkoffer. „Hab ewig keine in der Hand gehabt…“

Er sah sie aufmerksam an. Erst jetzt sah er, dass sie recht teuer gekleidet war. Hochhackige Schuhe, eine elegante Strumpfhose unter dem geschäftsmäßigen Kostüm. Sie passte nicht hierher, fand Tom. Sie wirkte nicht, als würde sie sich mit seinem Instrument davonmachen. Trotzdem zögerte er einen winzigen Moment. Dann bückte er sich, reichte ihr die Gitarre und sagte:

„Aber schön vorsichtig. Eigentlich geben Musiker ihre Instrumente nicht aus den Händen.“

Mit dem Fuß stieß das Mädchen den Koffer an, sodass der Deckel zuschlug. Dann nahm sie auf dem improvisierten Hocker Platz. Ihre Finger strichen über das Griffbrett, bevor sie fest zupackte. Der Akkord, den sie anschlug, klang wie ein weinerliches Wimmern, als habe sie jemandem die Kehle zugedrückt, der sich verzweifelt unter dem Griff wand, sich aber nicht befreien konnte. Toms erster Impuls war, ihr die Gitarre aus der Hand zu reißen. Doch er bezwang sich und schalt sich einen Dummkopf. Das Regenwetter hatte ihm das Hirn vernebelt...]

 

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Tag der Veröffentlichung: 20.03.2013

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