Ganz oben stand Paul. Oben auf dem Dach des Bürogebäudes. Darin befand sich die Bankfiliale, bei der er seit Jahren beschäftigt war. Unter seinen Zehenspitzen spürte er die blecherne Abgrenzung der Dachplatte aus grobem Beton. Es war nicht so leicht, die Balance zu halten. Vorsichtig wippte er vor und zurück. Sein Blick fiel nach unten. Lächerliche 25 Stockwerke tiefer wimmelten Passanten wie geschäftige Ameisen durch die Straßen. Winzige Fahrzeuge, Matchboxautos gleich, wanden sich über schlangenförmige Straßen, wenn sie nicht wartend an den Ampeln standen, zum Ausruhen gezwungen.
Zwänge. Es waren immer die äußerlichen Zwänge, die das Leben bestimmten. Seines und das all der anderen Individuen dort unten. Von der Wiege bis zur Bahre nichts als Zwang. Kaum rutschte man auf den Knien, zwang das Leben einen auf die Füße. Kaum setzte man mühselig einen Fuß vor den anderen, hetzte man schon von Termin zu Termin. Manchmal hatte Paul seine Tochter Lisa bedauert. Vom Kindergarten zum Ballettunterricht, von der Grundschule zum Reiten, von der weiterführenden Schule zum Treffen der Sportmannschaft. Paul ahnte, was als Nächstes kommen würde. Vom Studium in den 14-Stunden-Job. Das Leben war einfach nicht so, wie man es sich ausmalte, wenn man noch Illusionen hatte.
Sein Blick wandte sich nach innen. Er war der geborene Workaholic. Er brauchte den Druck, hielt ihm stand, so gut er es vermochte. Doch nun war sein Akku leer, seine Initiative erloschen, seine Handlungsfähigkeit ausgebremst. Nun blieb ihm nur noch diese letzte Mittagspause. Paul fror in seinem dünnen Boss-Anzug. Die glänzende Baumwolle hielt nicht besonders warm. Ein Windstoß ließ ihn erbeben und er rang um sein inneres und äußeres Gleichgewicht. Es zog hier wie Hechtsuppe. Doch was machte es schon, wenn er sich erkältete? Es würde nicht mehr lange dauern. Er hatte es bald geschafft....]
Es handelt sich um eine Leseprobe. Erhältlich ist der gesamte Text in meiner eigenen Anthologie "Hinter Türen" unter der ISBN: 978-3-7309-1315-4, 3,99 Euro bei Amazon und Bookrix
Texte: Anja Ollmert, Beitrag für das Kurzgeschichten Turnier, Runde 4
Bildmaterialien: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 23.01.2013
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