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Waupees großer Coup

Waupee saß am Flussufer und starrte in das trudelnde Rinnsal. Der zu einem sanften Bach eingetrocknete große Fluss war die Lebensader seines Stammes, der Cherokee-Indianer.
Einst war der stolze Fluss Ort der Zusammenkunft, Platz zum Ausruhen, Wasserholen, Baden und Wäschewaschplatz der Frauen gewesen. Heute erinnerte daran kaum noch etwas. Die Wassermengen seiner Erinnerung trug der Fluss schon seit Jahren nicht mehr. Es reichte nicht aus, um die Stammesmitglieder und die Tiere mit Trinkwasser zu versorgen, vom Wäschewaschen und Tränken der wenigen Felder ganz zu schweigen.

Waupee ahnte, dass sie weiterziehen mussten. Wo aber sollten sie ein neues Zuhause finden? Wo würden die Weidegründe und Felder nicht wie ausgetrocknete Webtücher vor ihnen liegen?
Wo würde das Flussbett seinen Namen noch verdienen? Die Weißen hatten sich ihre Fähigkeiten zunutze gemacht, die sie „Neue Technik“ nannten. Sie verantworteten den Wassermangel der Indianer, weil sie den Fluss gestaut hatten. Sie gruben ihnen förmlich das Wasser ab und überließen den Rothäuten nur dieses winzige Rinnsal, auf das Waupee hinunter starrte.

Plötzlich spürte er eine Hand auf der Schulter. Yaupee war hinzugetreten. Ihr Name, der so viel wie „schöne Blume“ bedeutete, war in der Aussage gerechtfertigt. Und doch war - außer ihr - von den einstmals schönen und zahlreichen Blumen des Tals nichts geblieben.
„Waupee, nun komm schon“, sagte sie. „Was starrst du die ganze Zeit in den trockenen Fluss? Du wirst ihn nicht mehr zum Leben erwecken können!“ Sie kannte die Gedanken des Häuptlings genau, weil er sie in den Nächten unter den Sternen mit ihr teilte.
„Ob wir die Weißen überzeugen können, uns das Wasser zurückzugeben?“ Es war, als stelle sich der Häuptling diese Frage selbst. Doch Yaupee antwortete ihm trotzdem:
„Niemals werden sie auf das Wasser aus den Bergen verzichten. Es ist eine willkommene Gelegenheit, uns die Jagdgründe zu nehmen und uns auf Wanderschaft zu schicken. Was glaubst du, was sie mit dir anstellen, wenn du in ihr Lager reitest und sie aufforderst, uns zu helfen? Wenn du zurückkehrst, dann tot über dem Rücken deines Pferdes. Was die Weißen einmal besitzen, geben sie niemals wieder aus den Händen!“
„Aber es gehört ihnen nicht. Es ist uns allen geschenkt. Manitu weiß das!“, der große Mann sprang empört auf und seine Augen blitzten wie die des weißen Falken, nach dem er benannt war. „Ich werde das nicht mit ansehen. Ich werde sie endlich zur Rede stellen. Allein!“

Yaupee kroch die Furcht den Rücken hinauf. Sie liebte den Häuptling, doch sie würde ihn nicht zur Vernunft bringen, wenn er diesen Entschluss gefasst hatte. Wie sollte er sich den Weißen nur auf Armeslänge nähern können, sodass ein Gespräch möglich wurde? Die Wachen würden ihn nicht vorlassen zur Kommandantur. Sie würden ihn gleich töten…
Je länger sie überlegte, desto aussichtsloser erschien ihr diese Unternehmung.
„Ein bewaffneter männlicher Indianer im Lager der Weißen? Das ist Selbstmord Waupee, das weißt du genau.“ Bei diesem Ausruf kam ihm eine Idee:
„Wer sagt, dass ich als Indianer ins Lager will. Ich werde mich als Weib verkleiden und den Kommandant dazu bringen, mir zuzuhören. Und du wirst mich ausstaffieren!“ Mit jedem Wort klang diese Idee besser als alle, die er je gehabt hatte. Yaupee schüttelte den Kopf.
„Das wird nicht gelingen. Du bist verrückt.“
„Ich muss es versuchen.“

Noch lange saßen die beiden am Flussufer und stritten miteinander, ob das die einzige Möglichkeit sei, das Land der Indianer zu erhalten. Was wollte er dem Kommandanten sagen, wenn er wirklich bis zu ihm vordrang? Er würde sterben, glaubte Yaupee und das Gespräch würde niemals stattfinden. Dann wandte sie sich ab und ging, um die nötigen Mittel zusammenzusuchen, die aus dem Häuptling eine halbwegs ansehnliche Indianerfrau machen sollten.

Mehrere Hände voll Wolle, Binden und ihre schönsten Kleider schleppte Yaupee ans ausgetrocknete Flussufer. Kräuter für das Bad, einen Trog, den zwei Jungen für sie heranschleppten, damit sie darin genug Wasser auffangen konnte, Farben für die Veränderung hin zum weiblichen Geschlecht. All das türmte sich vor dem großen Häuptling auf, während die Stammesmitglieder – angelockt durch die denkwürdigen Aktivitäten – im Kreis um Waupee und Yaupee herumstanden und tuschelten. Auch sie zweifelten längst am Verstand des weißen Falken, der ihr Häuptling war und aus dem seine Frau gerade eine Genossin machte.
„Ich werde allein gehen. Ich will bis zum Kommandanten gelangen, da kann ich niemanden gebrauchen, der mir ins Handwerk pfuscht“, bestimmte er. Die Männer des Hohen Rates warfen Blicke hinauf in die Wolken, wo sie Manitu vermuteten. Sie schüttelten die Köpfe. Das würde nicht gutgehen…

Mit der Schafwolle formte Yaupee ihrem Mann zwei feste hübsche kleine Brüste, die sie mit den Binden an seinem Oberkörper festband. Zum Glück war er zwar groß, aber schlank. Sie musste bei der Formung der Taille nur wenig nachhelfen. Den Lendenschurz wollte Waupee unter den Röcken lieber anbehalten. Vermutlich würde dieser kaum auftragen und das Becken des Häuptlings für den Betrachter als sehr fruchtbar präsentieren. Sie wusch ihm Oberkörper und Haare mit Kräuterwasser, kämmte seine Mähne und flocht sie zu lieblichen Zöpfen.

Je mehr er sich verwandelte, desto deutlicher hörte man das ein oder andere Kichern aus der Gruppe der Umstehenden. Dann begann Yaupee sein Gesicht zu schminken. Anders als die bekannte Kriegsbemalung glättete die Farbe seine leicht herben Züge, die sich langsam ins Frauliche wandelten. Die Kohlestriche auf und unter den Lidern verstärkten diesen Eindruck und am Ende, als sie die Lippen mit kirschrotem Läuseblut gefärbt hatte, war Waupee kaum mehr von einer Frau zu unterscheiden.
Sie streifte ihm eins ihrer schönsten, selbstgewebten Kleider über und gab ihm ein Tuch, mit dem er sein Haar züchtig bedecken konnte. Die Verwandlung war nahezu perfekt. Er wagte ein paar vorsichtig trippelnde Schritte, doch das wirkte so aufgesetzt, dass die anderen in unsicheres Lachen ausbrachen. Vielleicht war es doch besser, wenn er so ging, wie immer.
Sein Hüftschwung war überwältigend, fand Yaupee und grinste.
„Rede so wenig wie möglich“, riet sie ihm. Inzwischen konnte auch sie sich vorstellen, dass seine Idee nicht gänzlich chancenlos war. Ein Junge führte ein rassiges Pferd heran und reichte ihm die Zügel. Etwas unbeholfen wegen des ungewohnten Kleidungsstücks schwang sich Waupee in den Sattel und ritt davon.
Der ganze Stamm stand am Flussufer und starrte ihm hinterher. Yaupees Furcht kehrte zurück. Ob sie ihn je wiedersehen würde?

Bis zum Lager der Weißen waren es einige Meilen. Zeit und Muße genug, sich eine Strategie auszudenken, denn was er eigentlich vorhatte, dass hatte Waupee bisher nicht überlegt. Er musste bis zum Kommandanten vordringen. Ihn um den Finger wickeln und überzeugen, dass es falsch war, was die Weißen taten. Den Mann zu töten würde keinen Sinn haben – die Weißen ersetzten tote Machthaber schneller, als die Indianer sie beiseiteschaffen konnten.

Er näherte sich dem Fort. Das Tor war geöffnet. Anscheinend wiegten die Weißen sich in Sicherheit. Hätte er den ganzen Stamm hinter sich, dann wäre es ein Leichtes gewesen, ins Innere vorzudringen. Doch das waren Einzelsiege, die nur einen größeren Krieg brachten, so viel wusste er längst. Schritt für Schritt kam er auf die Wachen zugeritten, die ihn als das erkannten, was er darstellte: Eine junge Indianerin, die ihre Reize deutlich hervorgehoben hatte.
„Was willst du denn hier, Mädchen?“ flötete eine der Wachen. „Bist du auf Männerfang, oder was? Sind deine roten Brüder nicht Manns genug, dass du zu uns kommst? Hier wirst du viele paarungsbereite Hirsche finden…“
Waupee ignorierte den Mann. Es war besser, wenn er nur wenig sprach. Er kramte in seinem Kopf nach den Begriffen der ihm fremden Sprache und sagte dann langsam:
„Ich will zum Kommandanten. Ich muss ihm etwas Wichtiges mitteilen. Er wartet auf mich!“ Die gebrochene Sprache verschleierte ein wenig, dass ihre Stimme tiefer klang, als es bei einer Frau gewöhnlich der Fall war.
„Ah, der Chef hat dich bestellt?“, erwiderte die zweite Wache etwas anzüglich. „Typisch, der kriegt mal wieder das Beste ab.“ Er hatte wohl so seine Erfahrungen mit dem Kommandant. „Na komm schon durch. Dort vorne ist die Kommandantur. Sicher sitzt er schon auf der Bettkante…!“

Waupee antwortete nicht und ritt an ihm vorbei. An dem genannten Gebäude versuchte er, möglichst elegant vom Pferd zu gleiten. Fast wären ihm die Röcke hochgerutscht und die beiden Wachen pfiffen anerkennend bei dem Anblick, den seine muskulösen Waden boten.
Die Tür der Kommandantur öffnete sich und ein Mann schaute heraus. Mit Erstaunen im Blick trat er näher an Waupee heran und fragte:
„Wer bist du und was machst du hier, Frau?“
„Ich bin gekommen, um dich zu verwöhnen, weißer Mann“, säuselte Waupee und ließ das Tuch ein wenig vom Kopf gleiten. Darunter kamen seine glänzenden Zöpfe zum Vorschein. Mehr Überredungskunst brauchte der junge Häuptling nicht. Er wurde eingelassen.

Neben dem Schreibtisch des Kommandanten stand sein diensthabender Sergeant, den er mit wenigen Worten hinausschickte. Waupees Rechnung ging tatsächlich auf. Er drückte sich an dem Mann vorbei in Richtung Bett, das in einer Ecke stand. Das nahm dieser zum Anlass, um nach Waupees Arm zu greifen und gleich die Hand auf dessen Brust zu legen. Was er ertastete, schien ihm zu gefallen, aber es ließ ihn auch gedankenlos unvorsichtig werden.
Mit einer kaum sichtbaren Bewegung seines schlanken Körpers stand Waupee hinter dem Mann und presste ein Messer an seine Kehle.
„Ein Wort und du wirst in die ewigen Jagdgründe eingehen“, raunte Waupee ihm zu. „Setz dich hin.“ Der Kommandant folgte der Aufforderung und ließ sich auf der Bettkante nieder. Waupee hob die Röcke und brachte ein Seil zum Vorschein, mit dem er den anderen an das Bettgestell fesselte. Ein Tuch aus der Brusttasche des Kommandanten funktionierte er zu einem Knebel um. Dann setzte er sich neben ihn und begann, sein Anliegen vorzutragen. Ganz ruhig und vernünftig erklärte er, dass sein Stamm ohne Wasser nicht lange überleben würde. Er berichtete von den Auswirkungen, die die Maßnahmen der Weißen hatten. Er erklärte, dass er nicht wolle, dass man in Feindschaft miteinander lebte. Und am Schluss machte er klar, dass er mit dem Dynamit des Kommandanten die Stauung des Flusses sprengen würde. Und dass er wiederkommen würde, wenn die Weißen erneut in die Natur eingriffen.

Was er sonst noch sagte, oder wodurch er den Mann überzeugte, das wusste er am Ende selbst nicht so genau. Doch eins schien sicher: Da er den Kommandanten von seinen Fesseln befreite, bevor er ihn mit einem Korb voll Dynamit verließ, den er mit seinem Tuch verdeckt hatte, überließ er ihn nicht dem Gespött seiner Soldaten. Niemand würde wissen, dass er sich von einem Indianer hatte übers Ohr hauen lassen. Einem Indianer, der ihm ein schweres Versprechen abgerungen und ihn dafür im Gegenzug am Leben gelassen hatte. Solange er im Fort das Sagen hatte, blieben die Indianer trotz des unverschämten Sabotageakts an der künstlichen Staustufe des Flusses unbehelligt.

Weithin war in der folgenden Nacht die Explosion zu hören und als die Cherokee am Morgen ans Ufer des Flusses kamen, war daraus ein reißender Strom geworden. Eine Lebensader für Mensch und Tier. Sie lagen einander in den Armen und tanzten und lachten vor Freude, bis eine hübsche junge Indianerin auf einem rassigen Pferd angeritten kam, die sie umringten und deren Geschichte sie hören wollten.

Bis heute erzählen die Cherokee an ihren Lagerfeuern von Waupees großem Coup…

Impressum

Texte: Anja Ollmert
Bildmaterialien: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 01.01.2013

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