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Immer wieder versuchte jemand, ihn zu erreichen. Er kannte ihre Wörter und Phrasen, doch er konnte ihren Sinn nicht erkennen. Er war eingesperrt in sich selbst, gefesselt an sein Ich. Er konnte sich selbst nicht entkommen. Autismus

nannten sie das, was ihn gefangen hielt. Dann sprangen sie vor ihm herum und ihre Worte wurden lauter und lauter. Dabei konnte er sie doch hören.
„Iihhgrrrr!“ ,war Pauls einzige Äußerung. Damit zeigte er, wie sehr ihn ihre Versuche grausten, mit ihm zu kommunizieren. Und auch Pauls Lautstärke wuchs, mit jedem neuen Versuch der anderen, seine Barrieren zu durchbrechen. Seine Mutter war die einzige, die er ab und zu verstehen konnte. Sie war aber auch die einzige, die ihn verstand.

Manchmal wusste Paul nicht, was besser war: So zu sein wie sie, oder in seiner eigenen Welt verhaftet, mit diesem Begriff Autismus behaftet zu sein. Es war nicht nur die Sprache der Umwelt, die ihn ängstigte, es waren auch ihre Berührungen. Seine Therapeuten nannten es „Körperkontakt“.

Und dann kribbelte es unangenehm auf seiner Haut, wie tausende der Tiere, die in ihrer Sprache Ameisen genannt wurden. Ob sie ahnen konnten, dass sie ihm Schmerzen bereiteten? Dass ihre Fingerspitzen wie das Gift waren, dass die Tiere im Angriffsfall auf dem Gegner versprühten? Das hatte nichts von freundlichem Entgegenkommen. Es war Abwehrmechanismus pur.

Überhaupt, die Therapeuten. Sie ließen es nicht zu, dass er für sich blieb, dass er sich tief in sein Innerstes zurückzog. Jede einzelne Therapiestunde war darauf ausgerichtet, ihn hervorzuholen, sein Innerstes nach außen zu krempeln, wie diesen alten Pullover, den er gern trug.

Paul und Mutter – das war eine Einheit. Sie durfte ihn anfassen, wenn auch nur vorsichtig. Bei ihr konnten seine Krallen eingefahren bleiben, die er bei den anderen katzengleich einsetzte. Schon, als er noch ganz winzig gewesen war, war sie sein Schutzschild. Und sie war es bis heute geblieben, Heute war er der große Paul, dem sie ihr ganzes Leben gewidmet hatte.
Der Paul, der ihr Angst machte, weil er ihr Kind bleiben wollte, weil er nur sie brauchte und nichts anderes, nie etwas anderes gebraucht hatte. Doch, seine Bücher, die die Welt zu ihm brachten, die brauchte er wohl. Mama schaffte sie bergeweise zu ihm. Sie hatte ihn auch gelehrt, sie als Werkzeuge zu nutzen. Sie hatte ihn davon abgebracht, sie in die kleinsten Bestandteile zu zerfetzen. Und durch sie hatte er erkannt, dass sie seine Freunde waren. Sein Tor zu dieser Welt, die ihm sonst fremd blieb.

Als Mutter neulich sagte:
„Paul, wir werden zu den Delfinen fahren.“ Da wusste er sofort, wovon sie sprach. Sie meinte diese schillernd glänzenden Tiere, deren Gesichtsausdruck ihm so wohltat. Die zu lächeln schienen und so freundlich dreinblickten. Wasser war ihr Element, sie sprachen eine unglaubliche Sprache, darüber hatte Paul viel gelesen. Und wenn er in der Fernsehsendung seiner Kindheit diesen Flipper herbei schwimmen sah, dann gluckste er freudig und begrüßte ihn wie einen Freund, auf den er lange gewartet hatte.
Das hatte er im besten Sinne wohl auch.
„Du weißt doch, dass Flipper zu weit fort ist“, hatte Mama erklärt. „Ich kann mir eine solche Reise nicht leisten. Ich habe nicht das Geld dafür, Paul." Und sie hatte ihm einen Plüschdelfin geschenkt, den er liebte.
„Du weißt doch, dass Paul zu Flipper will?“, hatte er geantwortet...]
 
Es handelt sich um eine Leseprobe. Der gesamte Text ist erhältlich in meiner eigenen Anthologie "Hinter Türen" unter der ISBN: 978-3-7309-1315-4, 3,99 Euro bei Amazon und Bookrix

Impressum

Texte: Anja Ollmert
Bildmaterialien: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 03.12.2012

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