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Inselträume

Es war ihre erste Nacht, die sie ganz allein verbrachte. Es war die Nacht nach dem letzten gemeinsamen Essen, das sie für ihn zubereitet hatte - die Nacht nach dem furchtbaren Streit. Die Nacht, in der sie ihre Koffer gepackt und die Flucht ergriffen hatte. Sie erinnerte sich an Nächte mit ihm an ihrer Seite, in denen sie von endlosen Südseestränden geträumt hatte. Von der Zeit, als sie ihm das erste Mal begegnet war. Von zwei Verliebten, von ihm und ihr, wie sie durch den warmen Sand spazierten, der zwischen ihren nackten Zehen hochquoll, während sie tief darin versank. Von seinen Armen, die sie umschlungen hielten. Von Umarmungen, die sie sich als ewig andauernd erträumt hatte.

An sich wölbenden azurblauen Himmel erinnerte sie sich, der sich über ihr spannte, wie ein schützender Schirm, während seine Hand, mit Sonnenöl bedeckt, sie zärtlich massierend sanft über ihren Körper strich. Während sie sich erinnerte, bedeckten heiße Tränen ihr Gesicht. Ihr war klar, dass diese geheimnisvolle Insel ihr größter Traum war und bleiben würde. Schnell war die erste Verliebtheit abgeflaut. Sie hatte täglich mehr erkennen müssen, dass er nicht der Mann des Lebens, ihres Lebens sein konnte. Jeder Blick, den sie anderen Männern gönnte, hatte sein Misstrauen geweckt, es gesteigert ins Unermessliche. Schon bald spürte sie: Sie war seine Obsession.

Er war besessen von dem Willen, dass sie ihm gehörte. Zugleich gab es nichts, was sie ihm recht machen konnte. Millimetergenau ausgerichtete Handtücher im Bad, Hausschuhe, die paarweise an einer gedachten Linie vor dem Bett auf ihn warteten, schmackhafte Mahlzeiten, die er ausspie und deren Überreste sie vom Tischtuch vorwurfsvoll anzustarren schienen, wo er sie vor ihren Augen ausgegossen hatte. Und in den Nächten seine Hände besitzergreifend auf ihrem Körper, deutlich signalisierend, dass sie sein war.

Angst hatte sie beherrscht, sie gelähmt, bis am gestrigen Abend der Knoten geplatzt war. Ob er es geahnt hatte? Sie glaubte es nicht. Die letzte Mahlzeit war eine Hommage an sein Verhalten gewesen, versetzt mit dem schleichenden Gift, das ihr zufällig in der Garage in die Finger gefallen war. Damit hatte sie sein Lieblingsessen zubereitet, das Gift sorgsam untergemischt, geruch- und geschmacksneutral, wie es war. Der Totenkopf auf der schlichten Glasflasche hatte sie angegrinst, als sie es hinzufügte.

Er selbst hatte ihr diesen Ausweg angeboten, als er es im Regal deponiert hatte. Es war, als wollte er sie herausfordern und sie hatte diese Herausforderung dankbar angenommen. Den Hummer hatte sie fast liebevoll auf dem Teller arrangiert, dazu den Krabbencocktail, der ihr gesamtes Haushaltsgeld verschlungen hatte. Sie würde das Budget nicht mehr benötigen, hatte sie gedacht. Sie würde wieder ihr eigenes Geld verdienen, wenn er fort war. Und dann der Anblick, als er dem Hummer die Scheren brach und sich den Krabbencocktail damit in den Mund schaufelte, als habe er seit Wochen Hunger gelitten. An den Mundwinkeln quoll ihm die Mayonnaise hervor.

Da hatte sie sich nicht mehr beherrschen können. Sie hatte einen Streit vom Zaun gebrochen. Einen grauenhaften Streit, an dessen Ende sie die Koffer gepackt hatte und gegangen war. Erschöpft ließ sie sich in die Kissen des Hotelbetts zurücksinken. Langsam schlossen sich ihre Augen und sie wurde vom Schlaf übermannt. Der Traum kam leise.

Sie sah sich im Sand liegen auf der geheimnisvollen Insel ihrer aufkeimenden Liebe. Doch etwas war anders. Kein kühlender Wind strich sanft über ihre halbnackte Haut. Die Luft war schwer und drückend, von belastender Schwüle. Auch die Schatten der Palme, unter der sie ruhte, hielten die sengende Sonne nicht von ihrem Körper fern. Sie wollte sich aufrichten, sich zurückziehen und schützen. Ihr Köper aber befolgte keinen ihrer Befehle. Sie konnte sich nicht rühren.

Der Sand hüllte sie brennend ein, wie der Ton den gegossenen Stahl einer Glocke. In ihrem Innern brannte es ebenso heiß. Sie glaubte, dass ihr Blut langsam zu sieden begann. Das Blau des Himmels war gleißend und blendete ihre Augen. Doch auch ihre Lider reagierten nicht auf den Wunsch, sich zu schließen. Da beugte sich jemand über sie. Sie sah sein Gesicht, kühl wie eine Marmorstatue, gemeißelt wie von Michelangelo höchstpersönlich. Jede Falte in seiner Mimik prägte sich tief in den hellen Stein. Der Schatten, den er warf, fiel an ihr vorbei, versank in den Sandfluten, in denen sie steckte. Schutz vor der Hitze bot er ihr nicht. Grausam und kalt blickte er auf sie herab. Dann hob er eine Hand, bereit, damit über ihre verbrannte Haut zu fahren.

Sie erwartete die Berührung wie einen Schlag. Nur innerlich konnte sie zittern, kein Muskel ließ sich bewegen. Diese Angst, die er sie in Monaten gelehrt hatte, setzte sich schwer auf ihre Brust, lähmte ihre Fähigkeit zu atmen. Seine Finger trafen nun auf blanke Haut und es zischte leise. Sie sah kleine Dampfwölkchen von ihrer Brust aufsteigen, als wären Wassertropfen auf eine heiße Herdplatte getroffen. Doch er zuckte nicht zurück. Er fuhr fort, über ihre Arme und den ganzen Körper zu streichen. Die augenscheinlich sanfte Berührung wandelte sich in ein kraftvolles Pressen und Kneten der harten, steinernen Finger. Rote Striemen zeigten sich als Folge davon auf ihrem ganzen Körper und der Schmerz war nahezu unerträglich.

Ihr Gedanke an Flucht ließ sich nicht verwirklichen. Ihr Leib versagte den Gehorsam. Neben ihrem Kopf stand plötzlich ein Teller. Ein roter Hummer lag darauf und sie konnte nicht umhin, ihr Martyrium mit dem des gekochten Schalentieres zu vergleichen. Mit einer kraftvollen Bewegung brach er eine Schere, das Fleisch schaute heraus, so weiß und unschuldig wie ein Brautkleid. Neben dem Hummer sah sie ein Häufchen Krabbencocktail. Die kleinen Dinger schwammen wie winzige Insekten in der Mayonnaise. Mit der Hummerschere schaufelte er ihr den Cocktail in den Mund. Sie konnte nicht schlucken, ihre Reflexe versagten ihr den Dienst. Da presste er ihr die Faust auf den Adamsapfel und öffnete ihren Schlund ohne ihr Dazutun. Der Cocktail glitt hinab, während sie verzweifelte versuchte, ihn wieder auszuspucken. Sie schmeckte das Gift darin - insgeheim verwundert, dass sie es konnte - und als sie zu ihm aufsah, hatte sich die steinerne Maske in einen grinsenden Totenkopf verwandelt.

Sie war allein, als sie an den Folgen einer schleichenden Vergiftung starb. Keiner hatte gesehen, ob sich in ihrem Zimmer jemand anderes aufgehalten hatte. Die Zimmernachbarn hatten in der Nacht ein seltsames Stöhnen vernommen, als wenn jemand einen Alptraum träumte. Ihr Traum von der geheimnisvollen Insel hatte sie gefangen gehalten. Dass er am Vorabend die Teller vertauscht hatte, hatte sie in der Anspannung ihres Vorhabens nicht bemerkt. Seine Vermisstenmeldung hatte er schon am Morgen aufgegeben, ehe die Polizei bei ihm eintraf, um den schrecklichen Fund in einem einsamen Hotelzimmer zu melden.

 

Moona

Moona saß auf ihrem Bett und starrte wie versteinert aus dem Fenster. Da war er: Der schreckliche Vollmond, der ihr in böser Regelmäßigkeit die Nächte verdarb.
Ihre Mutter hatte sie nach ihm benannt. Was ihr dabei durch den Kopf gegangen war, konnte sich Moona bis zum heutigen Tag nicht erklären. Fragen konnte sie die Mutter nicht. Sie war in einer hellen Vollmondnacht mit dem Auto verunglückt, als Moona gerade sieben Jahre alt gewesen war. Auch der Vater hatte in dem Wagen gesessen und den Unfall nicht überlebt. Als die Polizei die Großeltern informierte, hatte sie - vor Angst und Kummer wie gelähmt - heimlich auf der Treppe gehockt und die Beamten belauscht. Von unerklärlichen Vorkommnissen und einem zerstörten Auto war die Rede gewesen. Es gab keinen Unfallgegner und keinen Grund. Doch die Eltern waren tot.

An diesem Tag begann Moona, den Vollmond gleichermaßen zu hassen und zu fürchten.
Und heute war er wieder da. Es half ihr nicht, die Fenster abzudunkeln, das hatte sie ausprobiert.
Im Geiste hörte sie die helle Stimme ihrer Mutter summen: „Guter Mond, du gehst so stille…“
Was sollte daran gut sein? Klammheimlich schlich er sich über das Firmament. Wenn den Vollmondnächten Wintertage folgten, stand er den ganzen Tag über am Himmel. Anderen fiel das nicht auf. Moona aber legte sich der blasse Schein des Mondes wie ein Stein aufs Gemüt. 

Moona hörte die Türklingel. Ihr fehlte die Motivation, sich zu erheben. Es klopfte an der Zimmertür. Sean steckte den Kopf durch den Spalt.
„Warum bläst du hier Trübsal?
Was sollte sie da antworten? Dass ihr der Mond Angst machte? Der Erzieher würde sie auslachen, wie alle, denen sie von ihren Ängsten erzählt hatte. Ihre Erfahrungswerte machten sie stumm.
„Komm runter, Keesha ist da und will dich besuchen und die anderen spielen gerade ein Partyspiel. Ihr könntet mitspielen.“
Der Erzieher ihres Wohnheims war in Ordnung, aber manchmal ein wenig nervig. Dass die Jugendlichen sich gelegentlich abschotteten, wollte er nicht akzeptieren. Und er würde keine Ruhe geben, bis er sie bequatscht hatte. Das kannte sie. Auch Keesha, die bis vor kurzem in der Wohngruppe gelebt hatte, würde sich lustig machen. Klar, sie waren Freundinnen, doch die Angst vor dem Himmelstrabanten hielt Keesha für eine der Schrullen ihrer besten Freundin. 

Stöhnend raffte Moona sich auf, den Blick auf den Himmel gerichtet, an dem der Vollmond sich rund und glänzend abzeichnete. Das Gesicht auf der blassgelben Scheibe war deutlich zu erkennen und beim Blickkontakt schien es sich zu einer bösen Fratze zu verziehen. Moona schüttelte sich. Die Angst saß ihr im Nacken. Sie ließ sich nicht durch eine einzige Bewegung vertreiben. Widerwillig ging sie mit Sean hinunter.
Dort saßen alle anderen laut lachend am großen Tisch der Küche und widmeten sich dem Partyspiel. Keesha war in die Runde eingestiegen. Sie gehörte noch immer hierher. Gerade stand sie auf einem Stuhl, wackelte mit den angewinkelten Armen, während die anderen durcheinanderriefen: „Ente.“
„Quatsch, das ist ein Huhn“ Die stumme Keesha reckte königlich den Hals und blickte von oben herab.
„Ein Schwan“, rief Tom. Keesha nickte lachend und ließ sich atemlos auf den Sitz zurückfallen. 

Moona stand abwartend in der Tür. Die anderen hatten sie noch nicht bemerkt. Da streckte die Freundin ihr beide Arme entgegen und umfing sie freundschaftlich. Sie drückte sie auf den freien Stuhl neben sich.
Keesha fuhr in dem Spiel fort. Sie war an der Reihe, eine Karte zu ziehen und hielt sie dem Nachbarn zur Rechten hin. Es war Fred, der aufstand und ein blasiertes Gesicht aufsetzte. Seine Züge verzogen sich zu einem breiten Grinsen. Die Augen blickten kalt und herzlos, fand Moona. Die anderen rätselten über die Lösung. Clown? Schauspieler? 

Fred deckte die Hälfte seines Gesichtes mit den Händen ab und ließ sie langsam darüber gleiten, bis die gesamte Fläche mit dem Grinsen erneut zu sehen war.
„Vollmond!“, schrie Tom. Moona zuckte zusammen. Sie wandte sich auf dem Absatz um und rannte in ihr Zimmer hinauf. Die anderen starrten ihr verständnislos hinterher. Nur Keesha wusste, worum es ging. „Schon gut, ich sehe nach ihr“, beruhigte sie die Gruppe und ging ebenfalls in das obere Stockwerk.
Leise klopfte sie an Moonas Tür. „Du solltest etwas gegen diese Angst unternehmen. Das ist nicht normal.“ Die Freundin lag auf dem Bett und hatte sich das Kissen auf das Gesicht gepresst.
„Ich kann nicht. Ich will ihn nicht mehr sehen. Er macht mein Leben kaputt. Ich hasse ihn!“
Dieser verstörende Ausbruch Moonas war für Keesha unerklärlich. Konnte Moonas Angst so groß sein? Sie saß da und streichelte der Freundin über die Schulter. Sie würde sich bald beruhigen. 

Moona erwachte in der Nacht. Hoch oben stand er am Himmel, obwohl er längst aus dem Sichtbereich ihres Fensters gewandert sein müsste. Er aber verharrte dort oben, wie festgeklebt. Er trug sein bösartiges Grinsen. Die Ebenen und Krater verdichteten sich zu diesen Zügen, die Moonas Herzschlag beschleunigten.
„Vergiss es, du entkommst mir nicht. Du trägst meinen Namen. Du gehörst mir allein.“ Es waren Worte, die nur in Moonas Geist laut wurden.
„Lass mich gehen!“, schrie das Mädchen. „Ich gehöre dir nicht.“
„Das werden wir sehen“, erwiderte der Mond aggressiv.
„Du wirst mich nicht bekommen. Du hast schon meine Eltern geholt“, schluchzte Moona verzweifelt auf.
„Und genau deshalb wirst du mir nicht entkommen“, waren die letzten Worte dieser Vollmondnacht. Bis zum nächsten Mal würde Moona Ruhe haben. Die hatte sie dringend nötig. 

Ein Monat zog dahin. Moona erholte sich von der schlaflosen und beängstigenden Zeit, verlor ihr hohlwangiges Aussehen und konnte doch die Ängste der letzten Nacht im Schein des verhassten Mondgesichts nicht vergessen.
In Gedanken strich sie die Tage im Kalender ab und ihr Gefühl sagte ihr, dass etwas geschehen würde, was keine Macht der Welt verhindern konnte.

Es war die Nacht vor dem Vollmond. Etwas kratzte an ihrer Tür und verlangte, eingelassen zu werden. Die Vorhänge waren in dieser Nacht weit geöffnet. Moona ertrug es nicht, wenn sie den Mond nicht beobachten konnte. Der Fensterblick war Fluch und Segen zugleich. Er war an seinem angestammten Platz und obgleich sein böses Grinsen noch nicht vollständig zu sehen war, erahnte sie es. Sie stand auf, ging rückwärts zur Tür und lehnte sich dagegen. Sie würde niemanden hereinlassen, so viel stand fest. Wer wusste, wen der Mond als seinen Stellvertreter geschickt hatte?

Langsam sank sie in die Knie, ihre Arme zitterten, sie fror heftig. Das kühle Zimmer und die aufsteigende Angst paarten sich und belasteten das Mädchen. Das Kratzen auf der anderen Seite der Tür ließ nicht nach, obwohl Moona die Hände flach auf die Ohrmuscheln presste. Irgendwann schlief sie in dieser unbequemen Position vor Erschöpfung ein. 

Am Morgen erwachte sie wie gerädert. Sie lag auf der Schwelle, die Tür war geöffnet. Wie das geschehen sein konnte, war für Moona unerklärlich. Ihr Nachthemd war hochgeschoben und klemmte unter den Achseln. Sie fühlte sich unangenehm feucht zwischen den Schenkeln und hatte keine Ahnung, was das bedeutete. Schnell richtete sie sich auf und sah sich auf dem Flur um. Hier gab es nur Moonas Zimmer. Früher hatte sie es mit Keesha geteilt. Damals war es ihr noch nicht so schlecht gegangen, wenn der Mond kam. Seit ihre Freundin aus dem Heim in eine eigene kleine Wohnung gezogen war, wurde es von Monat zu Monat schlimmer. 

Moona schauderte mit ihren bloßen Füßen auf dem gefliesten Boden im Bad. Sie ließ das Wasser der Dusche heiß durch die Brause laufen und warf ihre feuchte Nachtwäsche in den Korb in der Ecke. Sie würde am Abend ein neues Nachthemd tragen. Das gebrauchte Hemd roch seltsam. Heißes Wasser strömte über ihren Körper, der ebenfalls einen unbekannten Geruch verströmte. 

Als Sean an die Tür klopfte und sie aufforderte, sich zu beeilen, war ihre Haut bereits verschrumpelt. Sie roch nach dem billigen Duschgel, das sie sich vom knapp bemessenen Taschengeld gegönnt hatte. Die Kernseife des Heims verabscheute sie. Sie drehte das Wasser ab und als sie im Bademantel den Flur betrat, war Sean verschwunden. Sie steckte die geballte Faust, die etwas umschloss, tief in die Tasche. Es wurde Zeit für das Frühstück. 

Der Tag verging viel zu schnell und die gefürchtete Vollmondnacht näherte sich mit Riesenschritten. Moona war heute unglaublich erschöpft. Ihr Körper trug der Nacht auf dem Fußboden Rechnung. Als es Schlafenszeit war, verkroch sie sich unter der Decke und presste sich wie gewöhnlich das Kissen aufs Gesicht. 

„Ich krieg dich, du gehörst mir. Du weißt es!“, erklang die Stimme in ihrem Kopf. Bösartig und angsteinflößend Sie erschien Moona viel lauter als sonst. Sie wollte das Kissen nicht fortnehmen. Das Grauen war zu groß. Sie musste nicht aus dem Fenster sehen, um zu erkennen, dass der Vollmond heute seinen angestammten Platz verlassen hatte. Sie wusste, dass das verzerrte Mondgesicht direkt über ihr hängen würde. 

Als sie allen Mut zusammennahm und einen Zipfel des Kissens vorsichtig beiseite schob, sah sie das schmierige Grinsen. Sean blickte ihr direkt in die Augen und flüsterte heiser: 
„Du wirst mir niemals entkommen.“

Moona hatte sich geschworen, dass er nicht Recht behalten sollte. Fest presste sie sich das Kissen aufs Gesicht , hielt mit aller Willenskraft die Luft an. Ihr Peiniger zerrte an dem Kissen, aber sie ließ nicht los. 

Als man sie am Morgen tot unter dem Kissen fand, erklärte man sich den seltsamen Selbstmord mit der unerklärlichen Angst, die das Mädchen seit Monaten beherrscht hatte. In ihrer Lunge befanden sich Spuren von Baumwollfasern und Gänsedaunen. Sie hatte sich selbst mit dem Kissen erstickt, auch wenn das nahezu unmöglich schien. Die Erklärung blieb schlüssig, bis der Pathologe in Moonas geballter Faust den Slip fand, den sie in der Nacht zuvor getragen hatte. Die genetische Spur darauf ließ nur einen einzigen Schluss zu. 

In der nächsten Vollmondnacht blinzelte der Mond sanft auf Moonas Grab hinunter. Sein Lächeln war freundlich und ein kühler Wind wehte darüber hinweg. Und wer genau hinhörte, der vernahm, wie der Wind säuselte: „Guter Mond, du gehst so stille...“

Die schwarze Witwe

Bella saß an ihrem Schreibtisch. Sie hatte sich wie so oft am Abend in ihr Refugium zurückgezogen. Das lag in erster Linie daran, dass Bernd ihre Anwesenheit immer weniger wahrnahm. Sie war zu einem Möbelstück geworden, dafür hatten die vergangenen 29 Jahre gesorgt. Bella gab sich selbst durchaus ihren Anteil an diesem unerträglichen Zustand. Immer hatte sie versucht, ihrem Mann alles Recht zu machen. Die Lieblingsspeise am Abend, wenn er heimkam, stets frischgebügelte Hemden, die sie ihm am Morgen aus der Vielzahl auswählte, jede Art von Bequemlichkeit und Sparsamkeit, kaum einmal eigene Ansprüche, die Bella stellte. So war die Sprachlosigkeit zwischen ihnen das Ergebnis eines fast dreißig Jahre währenden Stillhaltens.
„Hätte ich es doch gewagt, einmal aufzubegehren“, sinnierte Bella vor sich hin. „Jetzt ist es vermutlich zu spät. Die Chance ist vertan.“

Während sie sich der Melancholie ihrer Überlegungen hingab, fiel ihr Blick auf ein winziges Spinnennetz in der Zimmerecke. Sie erschrak unwillkürlich. Hatte sie nicht am Vormittag alle Ecken des Hauses penibel gereinigt? Bernd hasste Staub und verabscheute Spinnen geradezu.
Wie hieß noch gleich diese Angst vor Spinnen?
Bella zog das Internet zu Rate. „Arachnophobie“, las sie leise vom Bildschirm ab, als die Suchmaschine ihr das Ergebnis präsentierte.
Sie las dort auch, dass etwa 10 % der deutschen Bevölkerung unter dieser Art der Angst litt. Eine wahrhafte Bedrohung war dafür scheinbar gar nicht nötig – allein die Vorstellung, sich einer Spinne Augen in Auge gegenüberzusehen, reichte aus, um die Ängste auszulösen.
Ok, da stand auch, dass Frauen davon häufiger betroffen waren, als Männer. Ihr Bernd war wohl eine Ausnahme. 

Etwas verächtlich sanken Bellas Mundwinkel herab. Er hatte sich auch so im Laufe der Zeit als Weichei erwiesen. Den starken und unbeugsamen Mann gab er nur in den heimischen vier Wänden. Im Büro saß er still und emotionslos hinter seinem Schreibtisch, widersprach weder dem Chef noch den Kollegen, die ihm häufig genug ihren Anteil an Arbeit zuschusterten. Bernd wehrte sich nie. Seinen Frust lud er stattdessen bei Bella ab. 

Bellas Finger auf der Computermaus ließ die Seite der Suchmaschine herabscrollen. Ihr Blick ankerte an einem Wort, das etwas in ihr auslöste. Es folgte ein Klick auf den Link und sie tauchte seltsam fasziniert in den erklärenden Text des Internetlexikons ein.
[… erkannte man schon im 15. Jahrhundert den Tarantismus, eine durch den Biss der europäischen schwarzen Witwe (Latrodectus tredecimguttatus) ausgelöste Krankheit, bei der die Betroffenen unter Halluzinationen und Zuckungen des ganzen Körpers leiden. Erleichterung verschaffte man den Kranken mit einer Schwitzkur oder fragwürdigen Behandlungsmethoden mit tierischen Exkrementen. Besonders zu erwähnen ist, dass die Tanzform der Tarantella dazu geschaffen wurde, den vom Spinnenbiss Betroffenen mit den veitstanzähnlichen Bewegungen Linderung von ihren Leiden zu verschaffen...]

Bella grinste. Bernd hasste es, zu tanzen. Veranstaltungen, bei denen man mit Musik und einer Tanzfläche die Teilnehmer zu Bewegung und Spaß einlud, waren somit seit Jahren absolut ausgeschlossen. Wie wäre es, wenn sie Bernd um den Tisch und durch das ganze Haus tanzen lassen würde? Sein Blutdruck würde in schwindelnde Höhen klettern. Auf Bellas Gesicht zeichnete sich eine gewisse Nachdenklichkeit ab, während sie den Text weiterverfolgte.
[… Alpha-Latrotoxin ist der Hauptbestandteil des Giftes, das der Biss der schwarzen Witwe überträgt. Daraus resultieren neuromuskuläre Entladungen, Kopfschmerzen, Bluthochdruck und Krämpfe, die in Einzelfällen und bei entsprechender gesundheitlicher Vorbelastung durchaus tödlich sein können. Da der Spinnenbiss nur selten erkannt wird, werden Patienten fast immer falsch behandelt…]

Bella nutzte die halbe Nacht, um im Internet zu recherchieren. Als Bernd ins Bett ging, hatte er nur kurz den Kopf zur Tür hereingesteckt.

„Was ist mit dir?“, hatte er sich unwirsch erkundigt, ob sie nicht auch ins Bett käme.

„Ich bin gleich so weit. Ich muss hier noch etwas nachschauen, dann komme ich.“ Bella hatte keine Lust auf seine Annäherungsversuche, die ihm abends plötzlich das bringen sollten, was er am Tag nicht haben konnte: Befriedigung. Das Spiel hatte sie nun lange genug mitgespielt…
Die Tür schloss sich hinter Bernd und es wurde still im Haus. Bella warf einen Blick auf die Uhr. Zeit genug, um eigene Pläne zu verfolgen.

Zunächst starrte sie gebannt auf das Video einer Spinne, die sich putzte und ihre sechs Beine nacheinander an den Beißwerkzeugen vorbeiführte, um daran herum zu knabbern. Die hochauflösende Kamera hatte Bilder geschossen, die den Eindruck vermittelten, dass Bella wenige Zentimeter vor der Spinne hockte. Gab es wirklich Menschen, die das für ein Hobby hielten? Bella schüttelte sich angewidert. Die Spinnen, denen sie bisher begegnet war, machten ihr zwar keine Angst, aber sympathisch waren sie ihr auch nicht und eine Spinne zum Haustier zu erwählen, war ihr bisher noch nicht in den Sinn gekommen. Und das lag nicht an Bernds Phobie.

Doch sie wollte sich von ihrem eigentlichen Ziel dieser Nacht nicht ablenken lassen. Endlich hatte sie eine Seite gefunden, auf der schwarze Witwen zum Verkauf angeboten wurden.
„Achtzig Euro?“, murmelte sie. „Dafür reicht das Haushaltsgeld niemals.“
Sie stand auf und ging ins Wohnzimmer. Dort lag – Bügelfalte auf Bügelfalte – die Hose, die Bernd heute getragen hatte. Morgen würde sie wieder bügeln müssen. Bernd trug keine Hose zweimal hintereinander, denn die Falten in den Kniekehlen drückten in seine empfindliche Haut, so behauptete er. In der Hosentasche steckte wie erwartet das Portemonnaie ihres Mannes. Regelmäßig musste sie es ihm am Morgen hektisch mit den Händen rudernd auf dem Weg zur Garage nachtragen. Es war die einzige Nachlässigkeit, die man Bernd in seiner Ordnungsliebe vorwerfen konnte. Ja, die Kreditkarte war an ihrem Platz, daneben ein Zettelchen mit dem Pin-Code. Gut, dass Bernd ein schlechtes Zahlengedächtnis hatte.

Das Online-Geschäft war schnell abgewickelt. Trotz der seltenen Gattung hatte man ihr eine Lieferung per Express versprochen. Morgen Mittag würde die Spinne in einem artgerechten Karton bei Bella und Bernd Einzug halten. Ein Terrarium benötigte Bella nicht. 

Nun wurde es Zeit, ins Bett zu gehen. Bella rieb sich müde die Augen und begab sich ins gemeinsame Schlafzimmer. Bernd lag wie seit Jahren schon auf dem Rücken. Sein Mund war halb geöffnet, die Zunge stand ein wenig hervor. Er schnarchte laut auf, als Bella den Raum betrat. Sie ahnte, dass ihr trotz der Müdigkeit eine weitere schlaflose Nacht bevorstand. Mit einem tiefen Atemzug legte sie sich nieder und träumte mit offenen Augen von besseren Zeiten.

Der Postbote trug die kleine Kiste mit ausgestreckten Armen vor sich her und läutete. Auf dem Paket war die Abbildung eines Insekts zu sehen, das ihm nicht wirklich sympathisch war. Doch er glaubte, dass in der kleinen Kiste nicht das war, was er vermutete. Was sollte die nette Frau Kaminski schon mit einer Spinne anfangen?

Bella öffnete ihm und auf ihrem Gesicht zeigte sich ein vorsichtiges Lächeln. Sie nahm die Kiste entgegen.

„Danke, Herr Burger. Sie sind aber wieder einmal besonders pünktlich heute.“ Ihre zwanglose und freundliche Art ließ den Postboten die beängstigende Abbildung auf der kleinen Kiste vergessen.

„Ja, heute geht mir das Austragen zügig von der Hand, Frau Kaminski. In der Ferienzeit ist doch weniger los. Zumindest sind weniger Rechnungen in der Post. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag. Bis morgen dann.“

„Den werde ich haben, danke sehr. Bis morgen, Herr Burger.“ Bella schloss die Tür. Sie platzte fast vor Neugierde und Ungeduld. In weniger als einer halben Stunde würde Bernd aus dem Büro kommen. Ob sie ihm noch was Nettes kochen sollte?

Bernd war pünktlich wie immer. Auch seine Laune war so schlecht wie nach jedem Arbeitstag. Sein Kollege hatte es wie immer verstanden, ihm den Großteil der unangenehmen Aufgaben auf den Schreibtisch zu transferieren. Im Gedanken daran, bekam er schon wieder einen hochroten Kopf vor lauter Ärger. Das war nicht gut für seinen Blutdruck.
Er betrat das Haus, rief nach Bella, damit sie ihn bedauerte und ließ sich dann schwer in das Sofa fallen. Bella war heute ungewohnt verständnisvoll. Sie trat hinter die Sofalehne und massierte mit beiden Händen seine Schläfen.
Bernd atmete tief ein und aus.

„Was gibt es zu essen? Hoffentlich nicht schon wieder Eintopf?“ Er nörgelte schon, bevor Bella antworten konnte.

„Ach, Liebling, bleib noch ein wenig sitzen und entspann dich. Das mit dem Essen hat doch Zeit.“ Bernd schloss die Augen und sah die Spinne nicht, die sich langsam aber sicher zu ihm abseilte und Sekunden später auf seiner Schulter landete. Bernd bemerkte davon nichts. Er folgte Bellas Rat und versuchte, sich zu entspannen. Schon spürte er, dass seine Frau ihre Hände zurückzog. Vermutlich ging sie in die Küche und kümmerte sich endlich um das Abendessen. Bernd machte sein verdientes Nickerchen.
 

Nach einer Weile öffnete er die Augen. Das Licht fiel grell in seine Pupillen. Er sah Sterne vor seinen Augen aufleuchten,

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Anja Ollmert
Bildmaterialien: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 12.02.2013
ISBN: 978-3-7309-1315-4

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