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Stan saß früh in seiner Kanzlei, die Füße auf dem Schreibtisch. Nur einen Augenblick Luft holen, den letzten Fall dabei abstreifen, wie ein ungeliebtes Kleidungsstück und sich dann neuen Ufern zuwenden, mehr hatte er nicht im Sinn. Der Mann, den er verteidigt hatte, war schuldig gewesen, doch mit Stans Hilfe hatte der Richter ihn freigesprochen. Was nun geschah, dafür war Stan nicht mehr zuständig. Er hatte seine Aufgabe erfüllt – und war dabei wie immer erfolgreich gewesen.
Ob er ein schlechtes Gewissen hatte, weil er den Mann entgegen seiner Überzeugung, dass er schuldig war, aus dem Verfahren gepaukt hatte? Eine Frage, die sich Stan im stillen Kämmerlein nicht zum ersten Mal stellte. Nein, lautete die Antwort. Er hatte sich schon vor Jahren aller Skrupel entledigt. Es musste Männer und Frauen wie ihn geben, damit das Rechtssystem funktionierte. Und wenn sie gut waren, dann entging mancher Verbrecher eben auch seiner gerechten Strafe.

Das Telefon auf Stans Schreibtisch klingelte und riss ihn aus seinen Überlegungen. Ein Blinken zeigte an, dass es Jessica, seine Sekretärin war.
„Guten Morgen, Sir“, begrüßte sie ihn. „Ich habe hier ein Telefonat. Eine Frau, die gerade auf einer Polizeiwache sitzt. Sie steht unter dringendem Mordverdacht. Soll ich durchstellen?“
„Nicht nötig. Ist es ein bekannter Name?“, fragte Stan. Inzwischen hatte er die Wahl seiner Klientel und konnte sich auch finanziell die Rosinen herauspicken. Oder zumindest mussten die Fälle für die Publicity was bringen.
„Nein Sir, eine Mrs. Miller, ein Allerweltsname. Sie soll ihren Mann getötet haben und versichert immer wieder ihre Unschuld. Den Pflichtverteidiger hat sie abgelehnt und den Beamten Ihren Namen genannt.“

Das war eigentlich ein Fall, wie Stan ihn stets den kleineren Fischen unter den Kollegen überließ. Heute aber reizte ihn etwas daran. Ein unerklärliches Gefühl drängte ihn dazu, sich der Frau anzunehmen. Ein wenig verwundert über diese heftige Emotion schüttelte Stan den Kopf.
„Ich kümmere mich darum. Notieren Sie bitte das Revier, Jessica. Ich mach mich gleich auf den Weg.“

Längst saß Stan in seinem Rover, kämpfte mit dem hohen Verkehrsaufkommen und konnte doch nicht verhindern, dass seine Gedanken abschweiften und den Verkehr nur am Rande wahrnahmen. „Miller? Ich glaube nicht, dass mir der Name was sagt.“ Stan sprach mit sich selbst, niemand konnte ihn hören.
Auf dem 16. Revier hatte man die Frau festgesetzt. Julia Miller, 33, verheiratet, bzw. jetzt wohl verwitwet, wie Stan mutmaßte. Sie kam aus einem New Yorker Vorort und galt als zurückhaltende und nette, unauffällige Hausfrau. Das waren die wenigen Informationen, die Stan bisher von Jessica erhalten hatte. Noch ein Block und Stan hatte das Polizeirevier erreicht. Er parkte den Wagen und betrat das Gebäude. An einer Barriere, die die Beamten vom Rest der Welt trennte, kam er zum Stehen. Dahinter stand ein Bär von einem Mann. Der Beamte sollte sich wohl Respekt verschaffen, so wie er dort stand und den Eintretenden aufmerksam entgegenblickte.

„Na, meinen Respekt hat er“, dachte Stan. „Saunders“, stellte er sich vor. „Ich will zu Mrs. Miller, die befindet sich in Ihrem Gewahrsam. Man hat mich telefonisch informiert, ich bin der Anwalt der Familie.“ Es konnte nie schaden, ein wenig zu übertreiben, fand Stan.
Der Beamte klappte die Theke hoch und ließ Stan passieren.
„Mrs. Miller befindet sich im Verhörraum, Sir. Bitte folgen Sie mir.“
Vor einer Tür mit Sichtfenster stand ein weiterer Beamter des Morddezernates. Stan stellte sich noch einmal vor.
„Ihre Sekretärin hat Ihr Erscheinen bereits avisiert, Mr. Saunders. Sie haben nun Gelegenheit mit Ihrer Mandantin zu reden.“
„Was wird ihr vorgeworfen?“, fragte Stan.
„Sie wurde heute Morgen in ihrem Haus angetroffen, direkt neben der Leiche ihres Mannes. In ihrer Hand befand sich eine Stichwaffe, sie war blutüberströmt. Derzeit gehen wir davon aus, dass sie ihren Mann nach einem Gerangel erstochen hat. Sie selbst macht bisher keine Aussagen zum Tathergang. Ihre Putzfrau hat uns informiert. Das einzige, was sie wiederholt, ist Ihr Name, Mr. Saunders.“ Der Beamte klang schon jetzt so, als habe er keine Zweifel an der Schuld der Frau und als wäre die Indizienkette bereits so dicht geknüpft, dass die Verurteilung eine logische Folge war.
Stan nickte nur und betrat allein den Raum. Dann schloss er die Tür hinter sich. Sein Blick fiel auf eine gebückt dasitzende Gestalt. Die Beamtin, die zur Bewachung der Verdächtigen stumm an der Wand saß, übersah er.

Das Häuflein Elend am Tisch zog seinen Blick magisch an. Die langen blonden, leicht strähnigen Haare fielen wie ein dichter Vorhang vor das Gesicht. Als sich der Blick nun hob und auf Stan richtete, traf es ihn wie ein Blitzschlag, den er nicht erwartete. In seinem Innersten zerbarst etwas, wie nach einem Granattreffer und ließ ihn aufgewühlt zurück. Wie konnte man das nennen? Ihm wurde abwechselnd heiß und kalt und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Trotzdem machte er einen Schritt auf die Frau zu und reichte ihr die Hand.
Es kostete ihn unglaubliche Selbstbeherrschung, seinen Namen zu nennen. Als sich ihre Finger berührten, jagte ein Stromstoß durch seine Hand, bis ins Herz hinauf. Schon zog sie die Hand wieder zurück. Stan war erfüllt von jähem Bedauern. Sie ließ ihm keine Möglichkeit, den nötigen Abstand zu wahren. Den professionellen Abstand, den er als Anwalt benötigte, um seine Arbeit gut zu machen. Es gab nichts Unprofessionelleres, als sich in eine Mandantin zu verlieben, doch Stan erkannte, dass er innerhalb weniger Sekunden im Begriff war, genau diesen Fehler zu begehen. Er war jedoch nicht bereit, einen Rückzieher zu machen. Ob er wollte oder nicht, er musste diese Frau retten. Er musste ein einziges Mal etwas tun, das für ihn und einen anderen Menschen wichtig war, und dabei war die Frage nach Schuld oder Unschuld zweitrangig.

Schwer ließ er sich auf den Platz fallen, der ihrem Stuhl gegenüberstand. Er versank in ihrem tiefen und leidvollen Blick, in fast waidgrünen, unschuldigen Augen. Nur mühsam gewann er seine Fassung und erkämpfte sich die Oberhand über seine Sprache zurück.
Ein Räuspern war dazu unerlässlich. Dann keuchte er fast, als er sagte:
„Stan Saunders, ich bin Ihr Anwalt, gnädige Frau! Wir müssen darüber sprechen, was geschehen ist.“
„Mein Mann ist tot.“ Mehr sagte sie nicht. Kein Wort darüber, dass sie die Mörderin war oder dass sie ihn tot aufgefunden hatte. Stan hatte keine Wahl, er musste tiefer bohren, musste ihren inneren Widerstand brechen. Musste unangenehme Fragen stellen. Noch nie hatte er sich über die Emotionen seiner Klienten Sorgen gemacht. Er hatte klar strukturiert gehandelt und dabei alle Gefühle beiseitegeschoben. Mit einem Mal wollte ihm das nicht mehr gelingen. Er war doch nicht wirklich dabei, sich in eine Mörderin zu verlieben? In eine nahezu stumme Mörderin noch dazu?

„Man hat Sie bei Ihrem toten Mann gefunden. Sie hielten die Tatwaffe in der Hand.“ Stan hatte keine Ahnung, wie er die Tatsachen vorsichtiger hätte ausdrücken können. Das, was er sagte, musste gesagt werden. Er durfte keine Fehler machen, welche die Polizei und die Behörden später seiner Mandantin zur Last legen konnten.
„Mein Mann ist tot. Mein Mann ist endlich tot.“ Sie schien in diesem Gedanken gefangen zu sein, auch wenn sie mit diesem einen Wort einräumte, dass sie über den Tod des Ehemannes nicht entsetzt war. Das machte die Sache nicht leichter.
Stan sah sich um, ob die Wachbeamtin wirklich jedes Wort gehört hatte. Diese blickte aufmerksam zu ihm zurück. Die Abgeschiedenheit, die der Raum vorgab, war trügerisch. Stan bemühte sich, das nicht zu vergessen.

Vor ihm rang die Verdächtige – es fiel ihm nicht leicht, sie in Gedanken so zu nennen – die Hände. Ruhelos verschränkten sich die Finger immer wieder ineinander, verbogen sich, wurden geknetet und gerieben, wie unter Zwang. Ihr ganzer Körper schien sich zu winden, als suche er unbewusst nach einem Ausweg aus einer bedrückenden Umklammerung.
„Er hat mich gequält.“ Wieder war es nur ein einzelner Satz, den sie hervorbrachte. Die Züge waren starr und verstärkten doch die Schönheit ihres Gesichts. Stans Finger wären liebend gerne über diese sanfte Linie gefahren, hätten ihr Trost gespendet.
Sie blickte ihn jäh an und schob ihre Ärmel hoch über die Handgelenke. Darauf sah er Wunden in verschiedenen Heilungsstadien. Wunden, die von brennenden Zigaretten und Messerschnitten stammen mussten....]

Es handelt sich um eine Leseprobe. Der gesamte Text ist Teil  meiner eigenen Anthologie "Hinter Türen" unter der ISBN: 978-3-7309-1315-4, 3,99 Euro,  erhältlich bei Amazon und Bookrix

 

Impressum

Texte: Anja Ollmert
Bildmaterialien: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 11.09.2012

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