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Der letzte Versuch

 



Sven war voller Hass auf seinen Körper. Die Krankheit lastete schwer auf seinen Schultern. Er spürte, wie sie ihn immer tiefer niederdrückte, sodass er kaum noch erhobenen Hauptes durch das Leben ging. Sein Arzt hatte ihm gesagt, dass es Jahre dauern konnte, bis er unter den Folgen leiden würde, bis er ohne Hilfe keinen Schritt mehr würde gehen können. Aber diese Auskünfte halfen ihm nicht. Schon seit Monaten hatte er jegliche Hoffnung auf Besserung verloren. Es war nicht die Krankheit, sondern die Diagnose, die ihm zu schaffen machte.
Dabei hatte sein Leben bedeutungsvolle Dinge bereitgehalten. Stufenbester mit einem Stipendium für eine amerikanische Sportuni. Er hatte sich auf die Footballsaison vorbereitet, als er die ersten Anzeichen verspürte.
„Du bist mein größtes Sporttalent und ich lasse dich nur ungern in die USA gehen“, hatte der Trainer zu ihm gesagt. Dann kamen die ersten Ausfallerscheinungen. Unerklärliche Ermüdungszustände, seine Beine waren taub und teilweise hatte er das Gefühl, sie hätten sich allein aus dem Staub gemacht und ihn zurückgelassen. Das alles war vor der Diagnose gewesen. Sven hatte es auf den Stress vor dem Abschluss geschoben. Zu viele Prüfungen, zu viel Arbeit, zu wenig Zeit, sich auszuruhen.

Seine Freundin Lisa war eine hübsche Brünette, zärtlich, warmherzig und intelligent. Seit er sich so schlecht fühlte, konnte er ihre Anwesenheit nur noch mit Mühe ertragen. Wenn ihr mitleidiger Blick – und als solchen erkannte er ihren Gesichtsausdruck – auf ihm ruhte, dann hätte er kotzen können.
Er war zweiundzwanzig und sein Leben war mit einem Schlag und einem einzigen Wort vorbei. Multiple Sklerose. Er sah sich selbst im Rollstuhl, hinter sich eine Pflegeperson in weißem Anzug, die ihn durch die Gegend rollte. In seinen Vorstellungen war er unfähig, auch nur den kleinen Finger zu rühren. Die Pflegerin, es war ganz sicher eine Frau, denn welcher junge Mann wollte schon seine Zeit mit Kranken vergeuden, seit es keinen Zivildienst mehr gab, lächelte ihn an. In ihrem Lächeln aber las er das Dienstliche, die Verpflichtung, die Notwendigkeit, sein Geld mit hilflosen Kranken verdienen zu müssen.

Die Diagnose war anscheinend auch mit einer gehörigen Portion Zynismus verbunden. Kaum jemandem traute er zu, mit einem Menschen zu leben, der von dieser Krankheit betroffen war. Lisa würde ihn fallen lassen, da war er ganz sicher. Im Moment allerdings quälte sie ihn mit verschrobenen Ideen von Wallfahrten und Gebeten, die dafür sorgen sollten, dass er wieder gesund wurde. Was dabei wohl rauskommen sollte? Welcher Gott konnte den Menschen so etwas antun? Wer würde eine Krankheit schicken, gegen die kein Kraut der eigenen Schöpfung gewachsen war? Nein, an einen solchen Gott wollte er nicht glauben. Das sollte nicht der letzte Strohhalm sein, an den er sich klammerte. Das taten nur alte Frauen mit Rosenkränzen in ihren verschrumpelten und gichtknotigen Fingern.

Heute wollte Lisa vorbeikommen, bevor sie arbeiten musste. Sie hatte gerade ihre Ausbildung beendet und eine Festanstellung ergattert. Doch wer würde jemanden wie Sven in Zukunft beschäftigen wollen? Zukunft! Allein das Wort machte Sven wütend.
„Ich habe eine Überraschung für dich, Liebling.“
Sven hatte keine Lust auf dieses Gespräch. Der Frust machte ihm die Kehle eng und er brachte kein Wort heraus.
„Wir werden in den Urlaub fahren.“
Nun musste er doch reagieren. „Urlaub? Was soll ich im Urlaub? Such dir doch endlich jemand anderen, Lisa. Mit mir ist wirklich kein Staat zu machen. Bald wirst du mich schieben müssen, weil ich allein nicht mehr laufen kann. Du willst dir doch nicht dein Leben kaputt machen lassen von einem zukünftigen Krüppel?“
„Nun hör schon auf“, stöhnte die junge Frau. „Und keine Widerrede mehr. Wir werden in den Urlaub fahren und sehen, ob das mit uns beiden eine Zukunft hat. Wenn du dann noch immer in deinem Sumpf aus Selbstmitleid stecken bleiben willst, bitte. Aber erst machen wir diese Reise. Sieben Tage deines Lebens wirst du für mich wohl erübrigen können.“
Mein ganzes Leben hätte dir gehören können, wenn die Krankheit nicht wäre, dachte Sven verzweifelt.

Lisa schob zwei Fahrkarten über den Tisch. „Es ist alles bezahlt. Meine Oma hat uns die Reise finanziert. Also mach dir keine Gedanken.“
Svens Blick fiel auf das Ziel, das auf den Fahrkarten stand. „Lourdes“, stöhnte er. „Du spinnst wohl. Was soll ich in dem Kaff? Alte Frauen dabei beobachten, dass sie besser auf Knien die Straße herunterrutschen können, als ich? Ich hab dir schon tausendmal gesagt, dass ich an den Sermon nicht glaube. Kein Gott, der eine solche Krankheit zulässt, erlöst einen nach ein paar schönen Worten und Gebeten wieder davon. Punktum, ich bleibe hier.“...]

Es handelt sich um eine Leseprobe. Der gesamte Text ist Teil  meiner eigenen Anthologie "Hinter Türen" unter der ISBN: 978-3-7309-1315-4, 3,99 Euro,  erhältlich bei Amazon und Bookrix

Impressum

Texte: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 18.08.2012

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