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Tod eines Engels



Clara war lange gelaufen. Dieser Friedhof erschien ihr riesig und unübersichtlich. Hier wollte sie niemals begraben sein. Zwar sollte ihr Besuch der Höhepunkt ihres Italienurlaubs werden, aber das hatte persönliche Gründe. Ihre Großmutter war an diesem Ort beerdigt.

Sie hatte das Grab bisher nie besuchen können. Als Oma Angelica vor mehr als zwei Jahrzehnten starb, war Clara noch ein Teenager gewesen. Sie kannte die ferne Oma kaum. Nur zu besonderen Gelegenheiten hatten die Eltern die Reise ins Heimatland gewagt. Clara jedoch hatte nie mitgedurft. Man hatte sie in die Obhut der Nachbarsfamilie gegeben, denn die Reise war für ein Kind nicht nur anstrengend, sondern für drei Personen einfach zu kostspielig.

Es war heiß in Rom und die Sonne brannte um die Mittagszeit unerbittlich vom azurblauen Himmel auf die junge Frau hinab. Einige Gräber standen im barmherzigen Schatten, doch dort wuchsen kaum Blumen. Andere lagen in der prallen Sonne, durch die auch der Weg führte. Dort roch es moderig nach vergehendem Grün, der typische Geruch eines jeden Friedhofs, egal wo er sich befinden mochte. Die wenigen Sträuße in den Vasen ließen traurig die Köpfe hängen. Es war eines der Bilder, das sich in Claras Gedächtnis einbrannte und für immer mit diesem Urlaub in Verbindung gebracht werden sollte.

Die Einsamkeit des Ortes empfand sie mindestens ebenso bedrückend, wie die sengende Hitze. Fast erwartete sie, sich an den polierten Marmorplatten die Finger zu verbrennen, deshalb vermied sie jede Berührung im Vorüberschreiten. Ihr Blick fiel auf den Lageplan, den man ihr in der Verwaltung überlassen hatte. Darauf befanden sich Umrisse der Grabanlagen, gekennzeichnet durch eine festgelegte Abfolge von Zahlen. Das Grab von Oma Angelica trug die Nummer 3560. Der Friedhof war wirklich alt. Römischen Ursprungs waren die Anfänge allerdings nicht. Die Römer hatten ihre Toten in Mausoleen längs des Weges bestattet, der aus dem damaligen Stadtkern hinausführte. Sie mussten inzwischen längst innerhalb der Mauern der ewigen Stadt ruhen, während täglich Millionen von Fahrzeugen darüber rollten oder unzählige Touristen in Scharen darüber schritten. Kaum jemand von ihnen ahnte wohl, was unter ihm lag. Die Blicke gingen hoch hinauf zu den antiken Gebäuden, die vor Geschichte schier explodierten. Dabei war die menschliche Geschichte der zu den Füßen Begrabenen doch eng damit verknüpft.

In ihre philosophische Betrachtung versunken, hätte Clara fast einen letzten Abzweig verpasst. Sie besann sich jedoch rechtzeitig. Es war nicht mehr weit bis zu Oma Angelica. In ihrem Gedächtnis war die Beschreibung des Grabsteins verankert, die ihre Mutter ihr gegeben hatte.
Ein Engel sollte dort über einen steinernen Sockel gebeugt, den Tod der Liebsten betrauern. Eingebettet war das Grab in einen Teppich aus Efeu und Immergrün. Mutter hatte immer praktisch gedacht. Da es in Rom keine weiteren Angehörigen gab, musste die Pflege in fremde Hände gegeben werden, die doch niemand kontrollieren konnte.

Dort erhob sich der Grabstein. Clara blieb ehrfurchtsvoll einige Schritte entfernt stehen und nahm die Szene in sich auf, die sich ihr bot. Zwei lange schlanke Flügel hingen an den Seiten des Sockels traurig hinab. Man fühlte förmlich die Schwere, die in ihrer Trauer lag. Den Kopf lehnte der Engel mit der Stirn auf einen Unterarm. Ein paar vorwitzige Locken täuschten Bewegung vor, während der Rest der Figur in Trauer verharrte. Allein der linke Arm baumelte – Clara wunderte sich über dieses Verb, denn der Stein war starr – hinab und wies auf das Grab, als wolle er auf das Lebensende unter der Erdkrume verweisen.

Ein Kranz aus Lorbeer war in den Steinsockel gemeißelt. Innerhalb des steinernen Blattwerks konnte man nur winzige Spuren einer Gravur ausmachen. Dort musste der Familienname Di Lorenzo gestanden haben. Das Familiengrab der einstmals hochangesehenen und steinreichen römischen Familie thronte hier seit Jahrhunderten. In der Gruft lagen Urahnen, die schon auf dieser Welt gewandelt waren, als es mit Friedrich III. noch einen in Rom gekrönten Kaiser gegeben hatte.
Ermattet ließ Clara sich auf eine Bank, direkt gegenüber dem Denkmal, sinken. Sie musste zu Atem kommen, ehe sie die Tragweite ihres ersten Besuchs am Grab der Großmutter erfassen konnte.

Hinter ihr erklang eine krächzende Stimme:
„Posso essere di aiuto per voi?“ Eine sehr alte und verhutzelte Frauengestalt, die sich auf einen krummen Stock stützte und selbst Hilfe brauchen konnte, fragte Clara nach ihren Bedürfnissen.
„No, grazie tante“, kramte Clara in ihren Italienischbrocken nach passenden Begriffen für die unerträgliche Hitze. „Molto caldo.“
„Esattamente. Bene scottante. Buona giornata.“ Die Frau gab ihr Recht und verließ schlurfend den Weg, Richtung Ausgang gewandt.

Clara sank wieder in sich zusammen, den Blick starr auf das Engelsmonument vor ihren Augen gerichtet. Da, hatte sie nicht eben eine winzige baumelnde Bewegung der linken Hand aus Stein wahrgenommen? Sie fokussierte ihren Blick auf genau diese Stelle, doch es geschah nichts Auffälliges. Nun vibrierte stattdessen der Flügel an der gegenüberliegenden Seite. Ihn durchlief ein Zittern, das nur beim konzentrierten Hinschauen entdeckt werden konnte.
Clara fasste sich an die Stirn. Okay, sie schwitzte ein wenig, aber das war bei der Witterung kaum verwunderlich. Fieber hatte sie jedenfalls nicht. Sie blickte sich ängstlich nach allen Seiten um. Da stimmte doch was nicht. Sie wollte aufspringen und gehen, dorthin, wo die Menschenmengen sich durch die Stadt wälzten. Sie wollte hier nicht länger allein sein, mit all den begrabenen Toten und einem steinernen Engel, der sich gegen alle Naturgesetze bewegte.
 
Der Engel hob den Kopf. Er sah aus, als habe er geweint. Die vorwitzigen Löckchen, die sich aus der zu einem Knoten gewundenen Frisur gestohlen hatten, wippten wie schwerelos auf und ab....]

Es handelt sich um eine Leseprobe. Der gesamte Text ist Teil  meiner eigenen Anthologie "Hinter Türen" unter der ISBN: 978-3-7309-1315-4, 3,99 Euro,  erhältlich bei Amazon und Bookrix.

Impressum

Texte: Anja Ollmert
Bildmaterialien: Anja Ollmert, veränderte Fassung von: http://view.stern.de/de/original/Italien-friedhof-Engel-Rom-Trauer-Grabstein-on-1927569.html
Tag der Veröffentlichung: 03.06.2012

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