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Melanie

Melanie wusste, dass diese Aufräumaktion überfällig war. Seit Monaten, ach was, seit Jahren drückte sie sich, wenn es darum ging, auf dem Dachboden etwas zu suchen. Nur wenn sie eine Kiste mit Krimskram unterbringen wollte, wagte sie sich die steile Treppe hinauf.
Sie öffnete einfach die Dachluke und schob den Karton über die Kante hinein. Inzwischen brauchte sie mehr Kraft um all das, was sich um die Luke herum angesammelt hatte, mit jeder neuen Kiste weiter nach hinten zu schieben.
Heute war das Wetter schlecht und ihr Terminkalender leer.
„Keine Ausrede mehr“, dachte Melanie, schnappte sich eine Rolle mit Müllsäcken und einen Wischeimer. Das Wasser schwappte beim Treppensteigen hin und her und sie musste aufpassen, dass es sich nicht über ihre Füße ergoss.
Die Treppe zum Dachboden war steil und schmal. Melanie musste den Eimer hoch über ihrem Kopf halten, damit sie durch die Luke passte. Sie setzte ihn auf die Kante, auf die sie schon zahllose Kartons gestellt hatte und schob ihn vorsichtig nach hinten. Sie drückte sich an der entstandenen Lücke vorbei und erreichte die oberste Stufe. Geschafft! Sie atmete erleichtert auf.
Vorsichtig sah sie sich auf dem Speicher um. Gut, sie wusste, dass sie hier oben viel unnützes Zeug gebunkert hatte, dass es so viel war, erstaunte sie jedoch.
„Du liebe Güte. Das kann nicht alles von mir sein.“ Insgeheim war sie davon überzeugt, dass einige Gegenstände vor ihrem Einzug in das kleine Haus hier oben gelagert worden sein mussten. Da stand ein alter Kleiderschrank mit einem riesigen Spiegel, davor eine antiquierte Frisierkommode, die ihr fremd war. Vor ihrem Einzug hatte sie den Dachboden mit der Maklerin besichtigt. Zu diesem Zeitpunkt war er leegefegt und nichts hatte herumgestanden. Wer hatte das ganze Zeug hier herauf geschleppt. Das konnte nicht von allein hierher gelangt sein.
„Ich werde morgen nochmal die Maklerin anrufen, dass sie den Kram hier abholen lassen soll. Die wird wissen, wo das alles herkommt“, sie vergaß, dass seit ihrem Einzug fast fünf Jahre vergangen waren. Vermutlich würde die Frau sich nicht an Melanie erinnern, geschweige denn, was sich zum Zeitpunkt des Verkaufs auf dem Speicher befunden hatte.
Melanie krempelte die Ärmel ihrer Bluse hoch und machte sich ans Werk. Kiste um Kiste öffnete sie und untersuchte deren Inhalt. Alles, was sie nicht mehr brauchen würde, stopfte sie in einen der großen Müllsäcke und warf diese prall gefüllt durch die Luke hinunter in die erste Etage ihres kleinen Hauses. Sie reduzierte die Anzahl der Kartons nach und nach und stellte fest, dass sie einige davon gut in diesem monströsen Kleiderschrank würde unterbringen können.
Mit dieser Idee konnte sie sich anfreunden, doch erst hieß es, sich den Weg dorthin freizuschaufeln. Wer wusste schon, was in dem Schrank sein würde. Vielleicht war er voller Müll und es kam ihr alles entgegen, wenn sie die großen Flügeltüren öffnete. Sie spiegelte sich bei Näherkommen in dem von blinden Flecken gezeichneten Spiegel des Schrankes. Was sie sah, gefiel ihr nicht. Ihre dunkelblonden Locken waren wirr und verstaubt. Auf ihrer Nase und einer Wange machten sich dunkle Schmutzflecken breit und gaben ihr ein flecktarnähnliches Aussehen. Mit dem Handrücken wischte sie darüber und machte alles noch schlimmer.
„Was soll’s. Es sieht mich zum Glück keiner“, überlegte sie laut. Die Schranktüren quietschten beim Öffnen und gaben den Blick auf ein verstaubtes Inneres frei. Vor der Lagerung stand definitiv die Säuberung des Ungetüms, stellte sie fest.
Sie bahnte sich den Rückweg und holte ihren Wischeimer. Mit einem feuchten Tuch reinigte sie die staubigen Holzflächen und fuhr mit ihren Fingern in jeden Winkel und über jedes Ablagebrett. Den Eimer stellte sie auf Augenhöhe ab und wusch den Lappen aus, um die Prozedur zu wiederholen. Da passierte es: Der Eimer verlor die Balance und kippte um, das Schmutzwasser verteilte sich in Windeseile im ganzen Schrank.
„So ein Mist! Ich bin echt zu dumm und ungeschickt“, lamentierte Melanie. Dabei hatte sie sichergestellt, dass der Eimer weit genug auf ebener Fläche gestanden hatte. Sie verfluchte ihre Ungeschicklichkeit und ließ sich widerwillig auf die Knie sinken, um das Wasser aufzunehmen.
„Wer keine Arbeit hat, der macht sich welche“, stöhnte sie. Die Rückwand war von oben bis unten mit Wasser bespritzt und als Melanie mit dem Lappen an den Ritzen entlangfuhr, bewegte sich ein lockeres Brett deutlich hin und her.

Der Schrank war anscheinend instabil. Sie überprüfte das Brett noch einmal, als es sich löste und den Blick auf ein Fach freigab, das offensichtlich geheim war. Und es war etwas darin. Ein kleines, rotes Buch

, das wirkte, als habe jemand es von Hand eingebunden. Gelbliches Papier, von dem ein scharfer Geruch nach Schimmel oder etwas anderem ausging, entströmte den Seiten, als sie das Buch aufschlug.
Was sie sah, ließ sie zusammenzucken. Ein Totenschädel war wie von kindlicher Hand zu Papier gebracht worden. Darunter kreuzten sich zwei große Knochen, als habe jemand eine Piratenflagge gezeichnet. Entsetzt schlug Melanie den Einband zu. Staub stieg aus dem Buch auf, der sie zum Niesen brachte. Warum das jemand hier versteckt hatte? Sicher lag es seit Jahrzehnten in diesem Schrank und hatte keinerlei Bedeutung.
Sie legte das Buch zur Seite und kümmerte sich um das Wasser. Es wurde ohnehin höchste Zeit, dass sie hier fertig wurde...]


Es handelt sich hier um eine Leseprobe. Den ganzen Mini-Thriller finden Sie in der 1. Edition der Anthologie "Thrill before you die", einer Gemeinschaftsproduktion von Mitgliedern der Thrilling stories.
Auch erhältlich in meiner eigenen Anthologie "Hinter Türen" unter der ISBN: 978-3-7309-1315-4, 3,99 Euro bei Amazon und Bookrix

Impressum

Texte: Anja Ollmert
Bildmaterialien: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 06.05.2012

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