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Haben Sie auch so eine Nachbarin?
Meine schneidet ihre Hecke mit einem patentträchtigen Gestell, das sie mit Seilen an zwei Stehleitern befestigt. Eine Querlatte erlaubt ihr, die grünen Triebe der Nadelbaumhecke auf exakte Länge zu stutzen! Kein Zweiglein hat die Chance, dem jährlichen Rückschnitt zu entgehen und wenn es noch so vorwitzig seine Nadelspitzen über die Latte streckt. Das Schneiden der etwa siebzig Meter langen Hecke nimmt auf diese Weise allerdings den nicht unbeträchtlichen Zeitraum von wenigstens vier Werktagen in Anspruch. Manchmal – natürlich nur bei gutem Wetter - hängt die Frau von gegenüber einen Nachmittag lang über der Balkonbrüstung um sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Neben sich hat sie Kaffee und Kuchen und manchmal auch ihren Mann, der die Aktion ebenso interessant zu finden scheint.

Während der Zeit des regelmäßigen Schneefalls läuft meine Nachbarin zur Höchstform auf. Mit einem Streuwagen befährt sie den Gehweg vor ihrem Grundstück, immer von Westen nach Osten. Warum? Dieses Rätsel der Menschheit konnte ich bis heute nicht lösen. Wenn der Schnee sich im Streusalz löst, bleibt auf dem Weg eine dunkelgraue Spur zurück, die wie mit dem Lineal gezogen zu sein scheint.
Aber vielleicht ist das ja auch der Fall. Ich weiß nämlich gar nicht, ob sie wirklich einen Streuwagen benutzt. Vermutlich ist sie zeitgleich mit der ersten Schneeflocke, die in eiskalter Nacht hernieder sinkt, bei der Arbeit. Oder es treibt sie so früh am Morgen aus den Federn, dass vermutlich nur Frau Holle einen scheuen Blick auf ihr Tun riskieren kann.
Woher ich dann weiß, was ihre bevorzugte Arbeits-Himmelsrichtung ist? Ich kann es nur vermuten, denn ich weiß, dass sie das Herbstlaub und den Passantendreck des Frühlings stets in der genannten Richtung entsorgt.

Unlängst feierten wir in unserem Haus eine rauschende Silvesterparty. Alle eingeladenen Freunde kennen meine Nachbarin ebenfalls - und das muss nach dem weiteren Verlauf der Geschichte auch so sein. Wie sonst könnte man sich erklären, dass die Knallerei zur Begrüßung des neuen Jahres zwangsläufig auf dem Gehweg vor dem Nachbargrundstück ihren Standort fand?
Der beste Freund meines Mannes hatte mal wieder sein ganzes Taschengeld in Raketen und chinesisches Knallwerk investiert und so hielten wir uns über Gebühr in der kalten Neujahrsnacht auf, bis auch er endlich sein Pulver verschossen hatte. Ich glaube, die nahe Kirchturmuhr schlug schon zwei, als wir endlich völlig verfroren das Haus betraten und die Party dort fortsetzten. Nach ein, zwei Bier und den Pfützen aus den vernachlässigten Sektgläsern des Jahreswechsels, hatten viele den vor zwölf Uhr schwer erarbeiteten Pegelstand erneut erreicht und unser Freund Willi gestand munter, er habe der Nachbarin eine Überraschungstüte an die Klinke ihrer Haustür gehängt ...
Ich war wenig begeistert über diese großzügige Schenkung, enthielt diese Tüte doch wohl nur die Überreste unseres Feuerwerks, die den Weg zurück auf das Pflaster vorm Haus gefunden hatten. Und ich konnte mir schon vorstellen, dass der Verdacht direkt auf mich und meine Familie zurückfallen würde, und dass, obwohl wir völlig unschuldig waren. So beschloss ich also, noch einmal hinaus zu gehen und die Relikte der Luftschlacht schleunigst zu entsorgen, bevor sie am nächsten Tag von der geplanten Empfängerin gefunden würden. Und was sage ich Ihnen: Der Gehweg vor dem Nachbarhaus war wie geleckt. Kein noch so winziges Fetzchen des bekannten rotbraunen Papiers, das die Chinaböller umkleidet, keine Holzstange, kein Plastikhütchen, -tütchen oder Zündschnur waren zu sehen und auch an der Haustür war von Willis großzügigem Müll-Geschenk nicht die kleinste Spur zu entdecken.
Noch heute bin ich froh, dass besonders dumme Gesichtsausdrücke nicht auf den Gesichtern stehen bleiben, wie es der Volksmund mancherorts behauptet, denn in meinem Rücken schlug viermal die Kirchturmuhr.

Sie fangen an, sich über meine Nachbarin zu wundern? Das habe ich längst aufgegeben!
Kinder, die sich vor ihr Haus verirren um auf dem Weg Hüpfkästchen oder Gummitwist zu spielen, verjagt sie stets mit einer Mischung aus Niedertracht und Ignoranz, die ihresgleichen sucht. Wer einmal von ihr eingeschüchtert wurde, der geht einer Wiederholungstat wohlüberlegt aus dem Weg und wechselt vorsichtshalber die Straßenseite.

Am liebsten mag sie parkende Fahrzeuge, natürlich nur, wenn sie nicht dort am Straßenrand Halt machen, wo meine Nachbarin wohnt. Doch ich denke, sie liegt nur auf der Lauer und wartet auf den Moment, in dem ein harmloser Autofahrer sich ahnungslos fehlverhält. Schließlich hat man ja sonst nichts, worüber man sich aufregen kann.

Ihre Mülltonnen kontrolliert die Dame mit der Perfidie eines Wachhundes. Gelegentlich glaubte ich sogar, bellende Geräusche bei der Kontrolle vernommen zu haben. Vielleicht hatte jemand ein Kaugummipapier in ihrem Müllbehälter entsorgt, statt es auf ihren Gehwegbereich zu werfen.
Aber meine Nachbarin hat durchaus auch nette Seiten! Oft steht sie in ihrem Garten und füttert eine Schar fetter Tauben mit Spezialfutter aus einer großen Tüte. Nach ein paar sonnigen Tagen wartet die gefräßige Vogelschar dort pünktlich zum Essenstermin auf sie um sich nach vollzogener Mahlzeit auf den Gesimsen der umstehenden Häuser niederzulassen, und...? Genau, auch meine Fensterbänke und die Terrasse zieren verdächtig viele Spuren von Taubenkot.

Ihr liebstes Kind ist ihr Garten. Dort verbringt sie Stunde um Stunde. Selbst jetzt, wo mein Thermometer Temperaturen von mehreren Grad Minus anzeigt und ich am Kamin sitze und schreibe, sehe ich sie vom Fenster aus in ihrer Garage stehen und die letzten Krümel zusammenfegen, derer sie habhaft werden kann. Auch strömender Regen kann sie nicht von ihrer Passion abhalten. Wofür gibt es schließlich diese netten Überzieher aus Klarsichtfolie um die Frisur vor jedwedem Niederschlag zu schützen? Aber ihr Garten ist unbestritten ein herrliches Fleckchen Erde. Auch ich liebe den alten Obstbaumbestand, der mir im Herbst mickrige, faulige Früchte über den Zaun katapultiert, damit ich mit schöner Regelmäßigkeit hineintreten kann, wenn ich meinen Rasen betrete. Und ich brauchte eine ganze Weile um hinter die Ursache für ein lautes „Plopp..... Plopp......Plopp!“ zu kommen, mit dem zur Erntezeit das Fallobst mehrmals täglich den Weg in ihren Eimer findet. Den trägt sie beim Abschreiten des Grundstücks in der Hand, während die gummibehandschuhte andere die Früchte prüfend hin und her dreht um sie dann in jedem Fall und ohne Ausnahme mit ebendiesem „Plopp“ im besagten Eimer zu versenken.

Eines Nachmittags, es ist schon ein paar Jahre her, sah ich sie bei einer besonders interessanten Verrichtung. Sie stand in ihrer Garage, trug eine weiße Bluse und vor dem Gesicht einen medizinischen Mundschutz. Zuerst dachte ich an die Notoperation eines verletzten Eichhörnchens oder anderer tierischer Gartenbewohner. Dann durfte ich beobachten, wie sie alte, staubige Zaunlatten aus der Garage räumte und sie in verschiedenen Drahtkörben der Länge nach sortierte. Einige Tage später, ich pausierte gerade feierabendgerecht auf meiner Terrasse, warf sie eine Kreissäge an und stutze bis zum Einbruch der Dunkelheit alle Zaunlatten auf die Länge des Bestandes im Korb mit den kürzesten Modellen. Am nächsten Tag verschwanden die Latten zur weiteren Aufbewahrung wieder in der Garage.
Wenn Sie nun mutmaßen, aus diesen Latten wäre in naher oder ferner Zukunft ein neuer Zaun entstanden, muss ich Sie leider enttäuschen. Vor rund zwei Jahren kam eine Firma, riss den fast sechzig Jahre alten Zaun aus dem Boden und umrundete das Grundstück mit einem grünen, zwei Meter hohen Stahlgitterzaun. Bei einer Zaun-Gesamtlänge von etwa neunhundert Metern ein gewaltiges Unterfangen.
Ich tendiere noch heute manchmal dazu mich an diese wehrhafte Absperrung zu stellen und den mittleren Finger meiner rechten Hand hoch in ihre Richtung auszustrecken, wenn sie vorbeikommt – so habe ich es in der Fernsehsendung „Hinter Gittern“ schon oft beobachtet. Doch ich habe nachgedacht und davon Abstand genommen. Schließlich reicht es mir, wenn mein Garten auf einer Seite den Eindruck des Auslaufgeländes einer Justizvollzugsanstalt vermittelt – ich muss das nicht auch noch mit allen Konsequenzen durchziehen!

Ob die Frau meiner Phantasie entspringt, werden Sie sich jetzt vielleicht fragen? Nein, alles an ihr ist echt. Ihre keifende Stimme, die gelegentlich zu mir herüberdringt, ihr Rasenmäher, der mit Vorliebe an sonnigen Samstagmittagen seine durchaus sinnvolle Arbeit verrichtet, das Kratzen ihrer Gartenwerkzeuge auf den aschebestreuten Wegen, vornehmlich abends gegen zweiundzwanzig Uhr. Sie ist so echt, dass es mir oft schwer fällt, ihre Anwesenheit zu ignorieren, auch wenn ich mir die größte Mühe gebe.
Aber das eigentlich Bewundernswerte an meiner Nachbarin ist, dass sie woanders schläft. Das Haus, das auf dem mir benachbarten Grundstück steht, ist seit vielen Jahren unbewohnt und wohl auch unbewohnbar geworden, durch die lange Abwesenheit von wirklichem Leben in seinen Mauern.
Es hat dort vor einigen Jahren sogar schon einmal ein Einbrecher sein Glück gesucht und in der Nacht die Hintertür aufgebrochen. Aber ich glaube, eher war der Wahnsinn seine fette Beute, denn kurz nach dem Besuch der Polizei las ich in der Lokalpresse von dem kriminellen Unterfangen. Der infolge des Einbruchs entstandene Schaden an der maroden Hintertür war das einzige, was es zu vermerken galt.

Können Sie sich das Gesicht des Einbrechers vorstellen? Er muss wohl neu in unserm Ort gewesen sein, denn jeder hier weiß, dass die Rollläden nicht nur geschlossen gehalten werden, weil der Hauseigentümer im Urlaub ist. Was mag er wohl vorgefunden haben? Zentimeterdicken Staub, der seine Fußabdrücke dauerhaft festgehalten und kenntlich gemacht hat, besser als jenes Graphitpulver zur Sicherstellung diebischer Fingerabdrücke? Spinnweben, die sich in seinem Gesicht verfangen haben und deren Erbauern er geradewegs ins Netz gestolpert ist? Vielleicht auch anderes Getier, denn ich glaube nicht, dass ich in den vergangenen zwei oder drei Jahren meine Nachbarin das Haus habe betreten sehen. Vermutlich aber konnte er vor allem von Glück reden, dass die senile Bettflucht meine Nachbarin in der besagten Nacht nicht hierher getrieben hat.

Es muss doch Gründe dafür geben, dass sie sich lieber im Freien aufhält und keine Großwetterlage sie davon abhält, im Garten herumzuspringen. Ich finde es jedenfalls immer aufs Neue erstaunlich, dass ihr roter Kombi jeden Tag pünktlich die Straße heruntergerollt kommt und beim Öffnen der Fahrertür meine Nachbarin auf den Gehweg spuckt, damit sie ihre Arbeiten in Hof und Garten ausführen kann.
Ihr aber dient das Auto nicht nur zu diesem Zweck. Sie gebraucht es als Unterschlupf, wenn das Wetter es gelegentlich erfordert, dass man sich verkriecht. Zudem verbringt sie regelmäßig ihre Pausen in dem Faradayschen Käfig um sich mit Thermoskanne und in Pergamentpapier gewickeltem Butterbrot für das, was da noch auf sie zukommt, ausreichend zu stärken.

Ich schätze, Sie sind bei der Lektüre neidisch geworden auf das, was sich tagtäglich auf und vor unserem Nachbargrundstück abspielt. Sie haben Recht, über mangelnde Abwechslung kann unsereins nicht klagen und auch ich bin mehr und mehr zu der Feststellung gekommen: So eine Nachbarin braucht doch wirklich jeder! Sie sind nicht zufällig gerade auf der Suche nach einer vakanten Immobilie in bester Lage?

Impressum

Texte: Webmaus
Tag der Veröffentlichung: 18.04.2012

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