Juli im Bauch
Mein zweites Zuhause. Es machte sich ganz unbemerkt auf, diese Position für sich zu erobern.
Als Kind war ich mit meinen Eltern und meiner Schwester viel gereist. Im Alter von acht Jahren kam ich das erste Mal hierher. Es gefiel mir, doch außergewöhnlich beeindruckt war ich nicht. Wir verbrachten die Tage in einem alten Häuschen aus grauen Steinquadern, mit einem direkten Blick auf die Küste. Die Toilette befand sich in einem angrenzenden Schuppen. Anstelle der Wasserspülung gab es einen großen Plastikkrug, den man am Wasserhahn füllen musste um nachzuspülen.
Ich genoss die Strandaufenthalte und das Baden und Toben im kühlen Wasser, daran erinnere ich mich gut. Mit meinem Großcousin, von mir zärtlich Onkel Pierre genannt, verbinde ich die tiefsten Erinnerungen; das Herumalbern bei Tisch, die Grimassen, die er vorzugsweise schnitt oder das Messer, mit dem er die Miesmuscheln direkt vom Felsen schnitt und sie mir feierlich zum Probieren überreichte. Die Spaziergänge über Fels und Stein mochte ich weniger, denn häufig ging es steil bergauf und die Wege waren kaum befestigt.
Die Sehenswürdigkeiten hatten ihren festen Stellenwert auf einer Interessensskala von eins bis zehn. Doch schon als Kind liebte ich die Kontakte mit den Menschen vor Ort. Mit Händen und Füßen machten wir uns einander verständlich und es waren wie stets die Schimpfwörter, die von der fremden Sprache hängenblieben. Es war ein Sommer voller Freiheit und Weite, Sonne und Wind und ich genoss dieses wilde Land auf meine kindliche Art.
Es blieb nicht bei diesem einen Besuch. Unsichtbare und sichtbare Fäden verknüpften mein Leben in Deutschland mit dem in der Bretagne. Mehr als 30 Mal bin ich inzwischen dort gewesen und die Leidenschaft für Land und Leute gab ich in der Ehe – unbemerkt – an meinen Mann weiter. Heute ist für uns ein Sommer ohne dieses Land kein Sommer. Andere Ziele fassen wir nicht ins Auge, jedenfalls nicht ohne Notwendigkeit.
Doch wie ich die Bretagne sehe, was sie mir gibt und warum ich mich dort zuhause fühle, zeigt sich vielmehr in den Gedankenbildern, die ich zu malen versuchte, als ich diese Geschichte schrieb. Sie ist nur in ihren Emotionen für mein erklärtes zweites Zuhause autobiografisch, aber das schmälert meine Verbindung zur Côte d’Armor nicht. Der Bretone am Fluss mag stellvertretend gesehen werden für die vielen Menschen, die im Laufe meines Lebens dort kennenlernen durfte. Gelegentlich kamen sie tatsächlich auch aus Paris.
Es ist ein lauer Abend an der bretonischen Granitküste. Warm weht der Wind vom Meer her über die zerklüftete Landschaft, während sich ein blauer Sommerhimmel wie ein Zelt darüber spannt. Große Kiefern, die unvermittelt zwischen den steinernen Gebilden aus rosafarbenem Granit zu wachsen scheinen, prägen das Bild. Der karge Boden ist bedeckt von glühenden Eriken und leuchtend gelbem Ginster. Winzige Katen aus unregelmäßig behauenem Gestein ducken sich in dieser Vegetation – nur die schwarzen Dächer der einfachen Behausungen spiegeln weithin die letzten Sonnenstrahlen. Gelegentlich befindet sich auch ein Ziegeldach darunter, dass der Landschaft mit unterschiedlichen Rottönen warme Farbtupfer verleiht. Einige zarte Schleierwolken stehlen sich in das Himmelsblau und wandern selbstverliebt mit dem Wind ins Innere des Landes.
Der Tag war heiß, aber drückende Schwüle kennt dieser Landstrich nicht – nie ruht der Wind von See her, immer beeinflusst durch die starken Gezeiten des Atlantiks. Das Meerwasser ist erfrischend kühl und hat nur selten Badewannentemperatur – einige Kilometer entfernt jedoch umspült der Golfstrom eine kleine Insel und verändert mit seiner Wärme die Vegetation. Hier bestimmen seltene Palmen und Unmengen von blau - und weißblühenden Agapanthuspflanzen mit fast handballgroßen Blütenständen das dörfliche Bild. Allgegenwärtig ist in diesem Land die Blütenpracht der Hortensienbüsche, in zahlreichen Schattierungen von Weiß, Pink, Lila und Blau, die in langen Reihen Häuserfronten und Straßenverläufe zieren.
Dieses Land liegt ihr im Blut. Sobald sie die inneren Grenzen Frankreichs übertritt – jedes Jahr um die gleiche Zeit – spürt sie den Juli tief in ihrem Innern aufflackern. Ihre Freunde verstehen nicht, was sie immer wieder hierher zieht.
„Langweilt dich die Bretagne nicht?“, fragen sie, wann immer das Gespräch auf die sommerlichen Urlaubsziele kommt und sie stets den gleichen Ort auf die drängenden Fragen der anderen preisgibt.
„Ich brauche den Juli in meinem Bauch!“, antwortet sie eines Tages spontan und von den Freunden belächelt, aber genau das ist es, was sie fühlt, wenn sie durch die Gegend streift und dabei sogar nach einer kleinen Weile vergisst, welches Datum die herrlich ruhigen Tage tragen.
Und trotzdem spürt sie, dass diese Tage nicht ungezählt sind. Sie zerrinnen zwischen ihren Fingern wie der feine Sand, den sie händeweise aufnimmt und herabrieseln lässt, wenn sie frühmorgens am fast menschenleeren Strand sitzt und die Einheimischen beim Muschelsammeln für das Mittagessen beobachtet. „Coq“ heißen diese Meeresfrüchte, weil sie beim Öffnen der Schale dem Betrachter einen kleinen Hahnenkopf aus der Umhüllung entgegenstrecken.
Nur eines fehlt ihr hier an dieser Stelle noch mehr als in ihrer Heimat: ein Mensch, der die sie umgebende Stille mit ihr teilt. Danach sehnt sie sich im Jahreslauf nur selten – die Hektik des Alltags lässt solche Gefühle nicht zu. Aber hier, wo sie sich ganz auf sich selbst besinnt, spürt sie diese Lücke fast körperlich und außerordentlich schmerzhaft.
Der nächste Morgen treibt die junge Frau schon zeitig aus dem Bett. Sie lenkt den Blick aus dem kleinen Sprossenfenster ihres Feriendomizils nach oben, wo sich Wolkenberge in unzähligen Grauschattierungen zu ganzen Gebirgen auftürmen. Hier hängen die Alpen im Himmel, denkt sie. Regen fällt aus ihnen jedoch nicht und so beschließt sie zum Fluss hinunterzugehen, der hier das Land mit seinem breiten Bett durchtrennt und drei Kilometer entfernt ins Meer mündet.
Der Abstieg ist stets ein wenig mühsam, denn das Gefälle zum Tal hin ist stark und sie muss die Absätze ihrer Wanderschuhe fest in die Erde stemmen, damit sie nicht zu hohe Geschwindigkeit aufnimmt. So geht es einige hundert Meter hinab und obwohl sie den Fluss wegen des dichten Mischwaldes an den Uferhängen noch nicht sehen kann, ahnt sie ihn, denn dichte Nebelschwaden steigen wie Kochdunst aus seinem Verlauf in den Himmel. Noch wenige Schritte durch dichtes Unterholz und sie betritt den „Weg der Zöllner“, heute hell mit feiner Asche bestreut und als Wanderweg ausgewiesen, säumt er auf über tausend Kilometern Länge seit Jahrhunderten die Küste der Bretagne. Sie ist schon unzählige Streckenabschnitte entlanggewandert und entdeckte auf ihren Wegen verwunschene Buchten, kleine Schutzhäuser und sogar verfallene Bunkeranlagen der deutschen Wehrmacht in exponierter Lage, aber das Flusstal der Leguèr ist ihr das Liebste.
An diesem Morgen hört sie in der Ferne das Aufheulen einer Motorsäge, vermischt mit dem Kreischen der Möwen, die nach Nahrung suchend über dem Flussbett kreisen. Ein Kormoran ist skulpturengleich auf einem Stein erstarrt und wartet darauf, dass sich sein Frühstück direkt vor seinen langen spitzen Schnabel verirrt. Als er diesen ruckartig im Wasser versenkt um mit einem zappelnden Fisch darin wieder aufzutauchen, den er sogleich gierig verschlingt, erschrickt sie von der plötzlichen Bewegung. Der kleine Fisch tut ihr Leid und etwas angewidert von der rauen Wirklichkeit des „Fressens und Gefressenwerdens“ wendet sie sich um und sieht ihn neben sich stehen.
Er ist nicht mehr so ganz jung, aber alt kann man ihn auch nicht gerade nennen. Sein offenes freundliches Lächeln, das bis in seinen dunklen Blick hinein strahlt, ist mit ihrem auf Augenhöhe – die Bretonen sind im Allgemeinen eher von kleinem Wuchs. Er trägt eine einfache Jeans und eine Jacke aus dichtem, blauem Segeltuch. Sein dunkles Haar ist lockig und etwas verstrubbelt, als sei er gerade erst aus dem Bett gekrochen. Seine Füße stecken barfuß in einem alten Paar Turnschuhe.
„Kenavo“, sagt er offensichtlich gut gelaunt – was im bretonischen soviel wie „Hallo“ oder „Tschüss“ heißt. Er nutzt das Wort in diesem Fall zum Morgengruß.
„Également“, antwortet sie, aber mehr bringt sie nicht heraus.
Sie spricht ein recht gutes Schulfranzösisch, doch die kehlige Sprache der Bretonen hat sich ihr nie erschlossen. Er scheint die sprachliche Unsicherheit sofort zu bemerken und wechselt ebenfalls ins Französische. Und unerwartet entwickelt sich das Gespräch zwischen ihnen rasant, während sie in großem Einverständnis gemeinsam durch das Leguèrtal wandern.
In kürzester Zeit finden sie viele Gemeinsamkeiten heraus, wo ihnen die Worte fehlen, unterstreichen Gesten die Verständigung. Seine Liebe zur Bretagne ist ihrer sehr ähnlich. Obwohl er das Jahr hindurch in Paris lebt und arbeitet, kommt er in jedem Sommer hierher nach Hause. Und in diesem Jahr sollte das Juli-Gefühl in ihrem Bauch etwas ganz Besonderes werden und weit über den Sommermonat hinaus Bestand haben. Es würde endlich ihre Einsamkeit vertreiben, weil sie es mit ihm teilte. Diesem Juli würden noch unzählige weitere folgen.
Texte: Anja Ollmert
Bildmaterialien: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 01.04.2012
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