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Das Geschenk

Es hatte am Morgen vor seiner Tür gelegen, als er die Zeitung holen wollte. Ein großes Paket, in hellblaues Seidenpapier gewickelt, umwunden mit einer breiten roten Schleife, erwartete ihn auf der Fußmatte. Es war nicht sein Geburtstag. Phil war ahnungslos, was sich darin befinden konnte. Einen Absender fand er nicht. Keine Karte, keinen Hinweis auf das, was es enthielt. Zur Vorsicht hatte er das Paket geschüttelt, nichts darin bewegte sich. Trotzdem spürte er eine Art Unwucht. Das Gewicht des Inhalts verlagerte sich mit jeder Bewegung.

Phil erinnerte die Aktion an die kindliche Auswahl eines Überraschungseis. Damals hatten seine Schulkameraden und er die Umhüllung hin- und her gedreht, in der Hoffnung, das zu erwischen, was in der aktuellen Sammlung noch fehlte. Phil hatte nie Ruhe geben können, ehe er alle Objekte kindlicher Begierde besaß, die er zu Armeen auf seinem Regal aufgereiht hatte. „Finger weg“, hatte - seiner putzwütigen Mutter zur Warnung - auf einem Schild davor gestanden.

Phils aktuelle Sammlung war komplett, zumindest für den Augenblick. Sie stand in einem geheimen Raum seines Kellergeschosses. Die Sammlung war umfangreich und jedes Exponat war mit Erinnerungen an ein außergewöhnliches Ereignis verbunden. Und diese Sammlung war geheim. Er verbarg sie eifersüchtig vor den Blicken anderer, die sie ihm streitig machen wollten. Auf Warnhinweise hatte er verzichtet. Heute putzte er den Staub fort.

Das letzte Sammlerstück hatte Nicole gehört. Nicole, mit ihren wunderbar langen und schlanken Beinen, die bei jedem Schritt schwungvoll einherschritten, sich ihrer Attraktivität bewusst bis in die letzte Zelle. Das lange blonde Haar hatte sie mit einer flüssigen Bewegung des Kopfes über die Schulter geworfen. Nicole. Heute Nachmittag würde er das Regal mit den Einmachgläsern fortschieben, sein Versteck betreten, sich auf den bequemen Sessel setzen und seine Sammlung mit der nötigen Muße betrachten. Das letzte Stück würde er in der Hand wiegen, doch berühren würde er es nicht. Zu seinem Schutz und damit niemand es verdarb, war es von Glas umhüllt. Eingegossen in die Ewigkeit.

Phil wandte sich wieder seinem Karton mit dem hellblauen Einwickelpapier zu. Er sah sich aufmerksam um und konnte nichts entdecken. Kein Überbringer war zu sehen. Lediglich Frau Schulz klebte hinter ihrer Gardine am Fenster des Reihenhauses. Das war nichts Ungewöhnliches. Phil winkte ihr freundlich, aber verhalten zu und sie erwiderte den Gruß. Dabei verzog sie keine Miene.

Phil hob das Paket vorsichtig hoch und ging ins Haus. Im Flur schaltete er das Licht aus. Bei den steigenden Energiekosten blieb ihm nichts anderes übrig, als im Halbdunkel dahin zu vegetieren. Er ärgerte sich über sich selbst, dass er das vorhin vergessen hatte. Er brauchte jeden Cent für wichtigere Dinge. Das viereckige Geschenkpaket trug er auf den ausgestreckten Armen vor sich her und stellte es auf dem Küchentisch ab. Er zog sich den Stuhl heran und ließ sich nieder, obwohl es ihm das Sitzen schwerfiel. Die gespannte Erwartung, was in dem Paket sein mochte, erhöhte seine Körperspannung um ein Vielfaches. Zur Sicherheit hielt er sein Ohr an das Paket. Man konnte ja nie wissen. Doch das Geschenk gab keinerlei Geräusch von sich.

Langsam und bedächtig zog er an der Schleife. Er war stolz auf seine Selbstbeherrschung. Sorgfältig zog er die Klebefilmstreifen vom Papier. Kleine hellblaue Rückstände lösten sich von der Oberfläche. Seine Mutter hatte ihn schmerzhaft gelehrt, dass man mit Geschenkpapier sorgsam umging. Für Phil machte das kaum Sinn. Er hatte nichts zu verschenken, wozu sollte er das Papier wiederverwenden? Der große, hellblaue Bogen fiel auseinander und gab den Blick frei auf einen Karton, der mit lauter kleinen roten Herzen bemalt war. In der Mitte der wie mit kindlicher Hand gemalten Motive klebte ein Organspendeausweis...]
 

Es handelt sich um eine Leseprobe. Der gesamte Text ist Teil  meiner eigenen Anthologie "Hinter Türen" unter der ISBN: 978-3-7309-1315-4, 3,99 Euro,  erhältlich bei Amazon und Bookrix

Impressum

Texte: Anja Ollmert
Bildmaterialien: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 28.03.2012

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