Ein viel zu warmer Wintertag – eine kurze Bekanntschaft
Susan warf einen Blick aus dem Fenster. Bis gestern hatten Eisblumen die einfach verglaste Scheibe geziert, heute blinzelte plötzlich die Sonne durch die Wolken. Es schien, als hätte die föhnartige Luft die Natur frühzeitig aus dem Winterschlaf geweckt. Winzige grüne Spitzen von Schneeglöckchen oder neugierigen Narzissen bohrten ihre Köpfe durch die Erdkrume. Blüten waren natürlich noch keine zu sehen. Dazu war es wirklich noch zu früh.
Ein Wintertag wie aus dem Bilderbuch, konstatierte Susan und spürte die Sehnsucht nach noch mehr Wärme in sich aufsteigen. Ihr nächster Blick fiel auf den Kalender. Das obere Blatt zeigte ihr den 10. Januar. Wie langsam die Zeit doch verging, wenn man tagtäglich allein war.
Kurz vor Weihnachten hatte Susan ihren Arbeitsplatz verloren. Für die anderen Menschen in dieser Stadt handelte es sich nur um eine Firma mehr, die den Existenzkämpfen der mageren Wirtschaftsjahre nicht gewachsen war. Für Susan bedeutete der Verlust des Jobs zugleich auch den Verlust jeglicher sozialer Kontakte.
Wenn sie morgens aufwachte, wünschte sie sich bereits das Ende des Tages herbei. Doch die Tage taten ihr diesen Gefallen nicht. Wie ein altes, ausgeleiertes Gummiband zogen sie sich in die Länge. Noch vor Monaten hätte Susan nicht gedacht, dass sie je zu den Konsumenten des TV-Programms mutieren würde, von ihr selbst früher despektierlich Hartz IV-TV genannt.
Heute war es ihre einzige Freizeitbeschäftigung, die sie sich leisten konnte. Ihre Angst, der alte Fernseher könnte eines Tages seinen Geist aufgeben, war größer als die Sorge, dass ihr Geld für die nächste Mahlzeit nicht ausreichen würde. Dann konnte sie immer noch in der Schlange der karitativen Suppenküche ihren Platz einnehmen. Es verhungerte sich nicht so schnell. Viel schneller starb man – zumindest innerlich – an Langeweile.
Heute jedoch verspürte Susan eine große innere Unruhe. Sie platzte bald vor Tatendrang. Das musste eindeutig mit der Witterung zusammenhängen. Und sie hatte sich schon beim Anblick des nahe liegenden Parks entschlossen, in der Weite das zu suchen, was sie zu Hause nicht finden konnte....]
Es handelt sich um eine Leseprobe. Der gesamte Text ist Teil meiner eigenen Anthologie "Hinter Türen" unter der ISBN: 978-3-7309-1315-4, 3,99 Euro, erhältlich bei Amazon und Bookrix
Texte: Anja Ollmert
Tag der Veröffentlichung: 14.03.2012
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