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Es sind schon einige Jahre ins Land gegangen, seit diese Ereignisse mein Leben bestimmten, aber sie sind mir bis heute im Gedächtnis geblieben und vielleicht wird es Zeit, dass sie endlich den Weg aufs Papier finden.

Ich war gerade 30 geworden, stand mit beiden Beinen fest im Leben und ahnte nicht, dass mir in Kürze der sprichwörtliche Teppich unter den Füßen weggezogen werden sollte, so dass ich ins Trudeln geraten würde. Meine Tage waren angefüllt mit Aktivitäten. Drei Kinder wollten betreut, versorgt und erzogen werden und forderten dabei die übliche Aufmerksamkeit. Eine Aufmerksamkeit, die ich vielleicht auch für mich selbst hätte gebrauchen können. Nebenbei war ich ehrenamtlich recht beschäftigt mit meinem Kinderchor und allen möglichen anderen Aufgaben, die mich in Anspruch nahmen.

Als ich merkte, dass etwas mit mir nicht stimmt, beschloss ich es zunächst mit der Vogel-Strauß-Taktik und hoffte auf spontane Besserung. Heftiger Durst begann meinen Tagesablauf mehr und mehr zu bestimmen und zeitweise hatte ich das Gefühl in einer sengend heißen Wüste zu leben mit der Hoffnung auf eine Oase, die sich aber nicht zeigen wollte. Ich kippte literweise Wasser, Tee, Cola und andere Flüssigkeiten in mich hinein und dieser brennende Durst ließ sich trotzdem nicht löschen. Ok, dachte ich, du hast sicher einen beginnenden Diabetes. Wie ich darauf kam? Meine Großmutter gehörte auch zu der Gruppe der Diabetiker, die die Krankheit zunächst mit Tabletten bekämpften, bevor sie Jahre später insulinpflichtig wurde und man ihr beide Beine abnahm. Die Beine, die ich noch brauchte um meinen festen Stand im Leben zu haben.

Als ich an einem letzten Wochenende bemerkte, dass auch meine Augen ihren Dienst nicht so pflichtbewusst wie immer taten, fand ich es an der Zeit einen Arzt aufzusuchen. In meiner Vorstellung sollten ein paar Tabletten täglich sicher ausreichen um wieder Frau der Lage zu werden.
Doch ich irrte mich. Kaum war ich von der Blutabnahme wieder zu Hause, rief die Sprechstundenhilfe mich an, ich solle sofort zurück in die Praxis kommen. Welche Ängste das auslöste, können vielleicht alle verstehen, die schon einmal auf eine Diagnose gewartet haben. Fast 700 betrug mein Zuckerwert, als ich dort ankam. Eine Zahl – so versicherte man mir – die gefährlich nahe an den Werten für ein Zuckerkoma lagen.

Und da stand ich nun und musste schnell erkennen, dass mit ein paar Tabletten nichts zu machen war. Ich sollte ins Krankenhaus zur Diabeteseinstellung, aber da wollte ich absolut nicht hin. So versprach ich lieber, alles zu beachten, was der Arzt mir mit auf den Weg geben würde und täglich vier bis fünf Spritzen in meinen Bauch zu jagen – und was irgendwie noch schlimmer war: jeden Tag bis zu sieben Mal durch einen Stich in die Fingerkuppe meine Zuckerwerte zu überprüfen. Als ich heimfuhr, war meine Handtasche angefüllt mit Bergen von unbekannten und unheimlichen Utensilien und Nahrungsempfehlungslisten. Zu Hause saß ich erst einmal am Tisch und hatte alles vor mir aufgebaut. Systematisch arbeitete ich mich durch die Informationsflut und teilte am Mittag meiner Familie mit, dass ich von nun an was anderes essen müsste, als sie.

Im Kühlschrank stapelten sich von nun an Produkte, an die keiner außer mir drangehen sollte. Ich, die ich den Kindern beibrachte, dass sie alles miteinander teilen sollten, musste nun bestimmte Nahrungsmittel bunkern. Das widerstrebte mir am meisten.
Man kann sich denken, dass die Eingewöhnungsphase nicht leicht war und dass ich auch damit haderte, dass ausgerechnet ich in meinem Alter so eine Erkrankung haben sollte. Eine Autoimmunerkrankung, die begonnen hatte, Teile meines eigenen Körpers zu bekämpfen. Aber der Mensch ist durchaus in der Lage auch solche Situationen zu meistern, da ging es mir nicht anders. Da der Diabetes in erster Linie nicht lebensbedrohlich ist, werden viele mit schlimmeren Krankheiten denken, dass meine Ängste und Sorgen in dieser Zeit unbegründet und lächerlich waren.

Ich gebe zu, meine Welt ist nicht zusammengebrochen, aber sie hat sich doch grundlegend verändert. Heute bin ich den Umgang mit all dem medizinischen Zubehör längst gewöhnt. Trotzdem hasse ich es, wenn ich mich selbst bei einer Unterzuckerung nicht mehr im Griff habe, mich quasi nicht kontrollieren kann. Und im hintersten Winkel meiner Gedanken fürchte ich auch all die Folgeerkrankungen, die ein Diabetes langfristig bewirken kann. Wer weiß schon, wann die Fülle seiner Verfehlungen und Stoffwechselentgleisungen, wie man das nennt, ein solches Maß erreichen wird?

Was aber meine Welt in ihren Grundfesten erschütterte, geschah einige Wochen nach der Diagnose. Meine damals siebenjährige Tochter, die zwar aufmerksam zugehört hatte, wenn ich die Maßnahmen gegen die Krankheiten beschrieb, darüber hinaus jedoch keine Fragen stellte, rückte plötzlich damit heraus, was sie bedrückte. Sie stand vor mir und sah zu mir auf und ich merkte, dass es ihr nicht leicht fiel, diese eine Frage zu stellen.
„In den Arm nehmen darf ich dich aber noch Mama, oder ist der Zucker ansteckend?“ Die tiefgreifende Frage eines Kindes, das sich einer Veränderung gegenübersieht, die es sich nicht erklären kann, und doch Wochen braucht um diese Frage deutlich zu formulieren. Dass wir einander nach meiner Antwort fest in den Arm nahmen, versteht sich von selbst.

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Tag der Veröffentlichung: 14.03.2012

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