Wenn man jemanden liebt, lässt man ihn gehen. Dieser Satz hallte in meinen Gedanken wieder. Er sagte ihn mir so oft. Er verstand meinen Schmerz nicht. Er wusste nicht, wie es ist zu lieben. Er konnte nicht lieben. Genauso wie er meine Mutter nicht lieben konnte. Er war Schuld. Er trieb sie in den Tod. Doch nun wird dafür bezahlen was er ihr und mir angetan hat. Es reichte mir nicht ihn nur zu töten. Ich wollte das er leidet, genauso wie ich und meine Mutter unter ihm gelitten haben. Seine Schreie erfüllten mich mit purer, gewissenloser Freude.
Das Blut rann ihm über den Schädel. Er schrie. Ein Messer steckte ihm bereits in der Hand und nagelte sie auf den Schreibtisch. Mit dem anderen ritzte ich ihm ein Wort auf die Stirn. „Liebe“. Seine schreie waren wie Musik ihn meinen Ohren, doch trotzdem konnte ich nur an ihn denken. Vor zwei Wochen sah ich ihn das erste mal wieder. Er saß da und redete mit einer mir nicht bekannten Frau. Sie sah gut aus – für eine Frau. Er hat sich kaum verändert. Seine blauen Augen glänzen immer noch wie damals. Seine Haare waren jedoch nun Schulterlang. Er sieht immer noch gut aus, besser als ich. Die beiden unterhielten sich lange. Ich schätze sie ist seine Freundin. Für die Mädchen war er schon früher ein Leckerbissen. Schon früher wollten alle Mädchen aus unserer Klasse mit ihm ausgehen. Die Frau die an dem Tag mit ihm am Tisch saß heißt Emily. Sie kommt aus New England und ist wohl mit ihm zusammen eingeflogen. Sie wartet auf mich im Nebenraum. Eigentlich ist sie ja ganz hübsch. Ihr Gesicht bleibt unversehrt. Ob es ihr bei mir wohl gefällt? Sie wartet schon eine ganze Weile und wird sich fragen wo ich mit dem Tee bleibe. Ich habe sie engagiert mein Haus zu verkaufen. Natürlich wird es nie soweit kommen.
Als ich zu ihr ins Zimmer gehe lächelt sie mich freundlich an. Doch ihr Blick sagt mehr.
Ben hat sich mit ihr wohl nicht die treuste Freundin ausgesucht. Sie mustert mich von Kopf bis Fuß.
Ben heißt er übrigens. Er hat mich damals verlassen. Wahrscheinlich kam er danach nur noch mit Leuten wie ihr zusammen. Arrogante Heuchler.
Doch egal. Er war eh schon einer von ihnen.
Damals als er nach New England zurückging, verschwand mein letztes bisschen Zuneigung zu ihm.
Ich fing an durch die Hölle zu gehen.
Meine Mutter meinte immer, liebe verginge nie man vergesse sie nur. Ich dachte immer, ich hätte verstanden was sie damit meinte, doch ich irrte mich.
Sie hieß Maja. In der Nachbarschaft konnte man es kaum glauben: Die wunderschöne, liebevolle und beliebte Maja Mellert, meine Mutter?
Einige fragten sich nur, wie eine so tolle Frau, wie meine Mutter nur so eine „Missgeburt“ wie mich zur Welt bringen konnte. Andere hingegen sagten, es läge nicht an mir, dass ich so geworden bin, sondern an meinem Vater. Wieder andere gaben ebenfalls meinem Vater die Schuld, doch im Grunde waren sie nur neidisch auf ihn, weil er meine Mutter hatte.
Doch eines haben sie alle gemeinsam – die Stimmen meiner Vergangenheit – sie alle waren der Meinung ich bin Missraten. Sie alle gaben meinem Vater die Schuld an Majas Unglück und später auch an ihrem Tod.
Sie starb sehr früh, ich war damals gerade 5 Jahre alt geworden. Bis dahin galten wir in der gesamten Kleinstadt als Beispiel für eine mehr oder weniger perfekte Familie. Das Wörtchen „Perfekt“ steht hierbei in Klammern, denn auch als meine Mutter noch lebte, war mein Vater nicht der beliebteste in dieser Gegend. Doch Mama und ich hielten immer zu ihm. Zumindest bis er sie umgebracht hat. Er hat sie so weit gebracht! Hätte er sie nur einmal weniger geschlagen, hätte sie vielleicht noch etwas gutes im Leben gefunden! Sie meinten es war Selbstmord, doch ich sage, dass er sie umgebracht hat! Sie hatte doch gar keine andere Wahl mehr. Das einzige was sie je wollte, war doch eine glückliche Familie und was bekam sie von ihm?! Nichts weiter als Prügel und Demut. Ich fand sie, an einem Samstagnachmittag, als ich gerade aus dem Nachbarhaus nach Hause kam. Doch es war schon zu spät. Als ich Zuhause eintraf war sie bereits Tod. Ihre Pulsadern waren durchtrennt, dass Blut kauerte sich in Lachen zusammen. Ihr Blick war leer. Trotz all dem Blut und der Tatsache das sie bereits nicht mehr am Leben war, wirkte sie befreit. Sie hinterließ mir einen Brief, indem sie versuchte mir alles zu erklären. Doch ich mache ihr keine Vorwürfe. Sie konnte einfach nicht mehr. Sie fand einfach keine Kraft mehr für uns beider weiterzukämpfen. Ich wusste schon damals, dass es die Schuld meines Vaters war. Es hätte nicht so kommen müssen. Doch als ich versuchte dies zu erklären, wollte niemand mir glauben. Sie alle haben mich „überhört“, sie alle hielten es für irgendwelche Wahnvorstellungen, den Tod meiner Mutter betreffend. Sie alle wussten nicht, was er ihr schon vorher angetan hat. Danach verlief alles sehr träge. Niemand kümmerte sich um mich. Niemand sagte mir, dass alles wieder gut werden würde, also fing ich gar nicht erst an das zu glauben. Ich wusste, es würde nie wieder gut werden. Und auch wenn ich eine kleine Zeitspanne meines Lebens, dass Gefühl hatte mich getäuscht zu haben, behielt ich doch Recht. Ein Jahr später lernte ich Ben kennen. Ich hatte mich sehr zurückgezogen und keine Freunde mehr, doch mit ihm änderte sich das. Zumindest bis zu dem Tag an dem ich sein Haus leer vorfand. Damals war ich gerade 15. Mein Vater machte sich in diesem Jahr ebenfalls aus dem Staub, also zog ich zu meinen Großeltern, doch diese starben beide. Meine Großmutter starb noch im selben Jahr. Ein Jahr darauf starb dann auch mein Großvater. Die Eltern meines Vaters lebten schon länger nicht mehr, also kam ich ins Heim. Bis ich volljährig war. In meinem Leben wurde ich also schon oft genug verlassen. Zuerst von meiner Mutter, dann von Ben, von meinem Vater und schließlich auch von meinen Großeltern. Von meinem Vater habe ich es ja schon damals nicht anders erwartet, aber von Ben war ich enttäuscht. Wie konnte er nur?
Ich war 15 und er 16, als er ging . Wir gingen zusammen in die 9. Klasse eines deutschen Gymnasiums. Ich scherte mich nie darum, wie die anderen über mich dachten. Es war mir bei allen ziemlich egal, außer bei Ben. Ich wollte nie, dass er die Meinung der anderen teilt. Ich hätte das nicht verkraftet und er enttäuschte mich nicht. Er hielt immer zu mir, verteidigte mich und bot mir seine Freundschaft. Ja, er war mein aller bester Freund. Ich konnte immer zu ihm und mit ihm sprechen. Er begrüßte mich immer mit einem freundlichen Herz erwärmenden Lächeln. Ich liebte ihn, mehr als alles andere, mehr als meinen Vater. Mehr als mein eigenes Leben. Ich liebte ihn so sehr, dass es schon schmerzte.
Doch dann verschwand er. Einfach so. Es war ein Montagmorgen und ich wartete wie jeden morgen vor der Schule an unserem Treffpunkt...,
doch er kam nicht.
Ich machte mir Sorgen und lief zu ihm nach Hause. - Das Haus stand leer.
Die Realität versetzte mir einen Schlag ins Gesicht. So ließ mich auf die erste Treppenstufe des verlassenen Hauses nieder. Meine Brust schmerzte, es fühlte sich so an, als ob hunderte von kleinen Nadeln in mein Herz stachen. Er war weg. Ließ mich allein. Wieso? Meine Sicht verschwamm und ich bemerkte, wie viele kleine Tränenperlen sich ihren Weg nach unten erkämpften. Ich wimmerte eine Weile vor mich hin, bis ich mich entschied endlich aufzustehen und zu gehen. Jedoch nicht zur Schule. Ich rannte in den nahestehenden Wald und setzte mich auf einen Baumstamm. Ich konnte nicht mehr und ließ meinen Tränen freien lauf und so verweilte ich einige Minuten. Die Minuten wurden zu Stunden. Meine Augenlider waren schwer und ich war erschöpft. Irgendwann beschloss ich nach Hause zu gehen. Es war bereits Nachmittag. Vor meiner Haustür hielt ich inne und dachte nach. Wie ich diesen Ort hasste, mehr als alles andere. Ich zog die Hausschlüssel aus meiner Hosentasche, schloss die Tür auf und beeilte mich, sofort die Treppen zu meinem Zimmer hinauf zu steigen. Ich schloss die Tür ab, ließ mich auf meinem Bett nieder und schlief. Ich wollte weinen, doch es ging nicht mehr. Ich war zu müde. So versank ich in dem Traum, der mich noch Jahre verfolgen sollte;
Um mich herum standen Kirschbäume, die Sonne schien und ein leichter Windstoß wehte einige Kirschblüten weg. Das alleine war schon merkwürdig an dem Traum, denn schon damals hasste ich diese Bäume. Ein Albtraum in Rosa. Alles war harmonisch und für die meisten wahrscheinlich wunderschön. Ich näherte mich einem der großen Kirschbäume und erkannte einen blonden Jungen. Er hatte breite Schultern und war ziemlich groß. Ich ging einige Meter näher und blieb dann hinter ihm stehen. „Ben?“ fragte ich und legte ihm eine Hand auf die rechte Schulter. Er drehte sich um und Meerblau traf auf Giftgrün. Er sah mich emotionslos an und sagte kein Wort. „Alles in Ordnung, Ben?“ Er verzog keine Miene und schritt an mir vorbei. „Ben.. Ben! Warte doch!“ schrie ich ihm hinterher. Doch er schaute nur über seine Schulter in meine Richtung und lächelte. Ja, er lächelte, jedoch nicht freundlich sondern eher, als wäre er dem Wahnsinn nahe. Dann verschwand er. Auf einmal veränderte sich das Bild meines Traumes. Die Kirschbäume hatten keine Blüten mehr und die Sonne wurde von starken Gewitterwolken verdeckt. Unbehaglich wäre wohl das richtige Wort. Das zarte Rosa der Kirschblüten auf den Boden wurde zu einem ekelerregendem Olivgrün und die ganze Atmosphäre war grau und trostlos.“
Ich riss meine Augen auf und rief immer wieder seinen Namen. Warum? Ben... ?
Warum?
Tag der Veröffentlichung: 19.06.2012
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