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Eine tödliche Begegnung

Wie es mir gelungen war, zu dieser Scheibenwelt zu reisen, hatte ich bereits in meinem ersten Bericht beschrieben. Nun schwebten wir unter dieser Welt, unter der Schildkröte, hindurch. Eigenartigerweise erlebten wir während dieser letzten Etappe einen wahren Sturzregen, der obendrein noch ziemlich streng roch. Ich war zu diesem Zeitpunkt in meiner Kabine und entging so dem Schlimmsten. Doch meine Mitreisenden, die sich auf dem Oberdeck aufhielten, hatten im wahrsten Sinne des Wortes voll ins Klo gegriffen. Sie mussten ihre Kleidung später entsorgen...

Kurze Zeit später flogen wir wieder über der Scheibe und setzten auf dem Ozean auf, der einen riesigen Kontinent umschloss. Einige wenige kleine Inseln lagen vor diesem. Die Drachen zogen uns in den Hafen der scheinbar grössten Stadt auf diesem Kontinent und landeten selbst auf einer grossen Freifläche in der Nähe. Sie waren dort die einzigen Drachen.

Bevor wir an Land gehen durften, bekamen wir den nächsten Schwall übergebraten. Der Chefstewart hielt eine scheinbar endlose Rede. Uns wurden einige Verhaltensregeln mitgeteilt und empfohlen, ein Hotel - möglichst weit vom Hafen entfernt - zu suchen. Erst in diesem Moment wurde uns allen klar: Wir hatten lediglich für die Passage zur Scheibenwelt (und hoffentlich auch zurück) bezahlt. Der gesamte Aufenthalt auf dieser Welt – immerhin drei Wochen bis zum Rückflug – war nicht inklusive. Dafür stand es uns offen, diese drei Wochen in dieser Stadt hier zu verbringen oder für eine Rundreise zu nutzen. Der Chefstewart empfahl die Rundreise, jedoch nur mit einem professionellem Führer. Unsere Hotels könnten uns da sicher weiterhelfen. Diese Welt hier hätte ihre eigenen Gesetze, die nicht wirklich human waren. Menschen gab es nur wenige auf dieser Welt. Da wären wir sicher für die Ratschläge eines guten Führers dankbar. Aber dies würde uns ziemlich schnell klar werden, war er der Meinung.

Nachdem sich der Tumult nach dieser Ansprache wieder gelegt hatte, bekamen wir alle einen Reiseführer und einen Stadtplan in die Hand gedrückt. Öffentliche Verkehrsmittel gäbe es hier nicht, man empfahl uns, lediglich die im Stadtplan gelb ausgezeichneten Strassen zu nutzen und auf jeden Fall die roten Bezirke zu meiden. Touristen wären ein neues Phänomen auf dieser Welt und ein Teil der Einwohner würde sich am Liebsten den gesamten Tag um uns kümmern. Zumal hier Jeder Jeden verstehen würde, dank eines sonderbaren Parasiten, den es nur auf dieser Welt gab. Und solange wir uns nicht mit einer der Zahnfeen einlassen würden, wären diese Parasiten ungefährlich und würden nach dem Verlassen dieser Welt ihre Wirkung verlieren. Die Gefahr, auf eine der Zahnfeen zu treffen, wäre jedoch ziemlich gering, diese würden sich eigentlich nur um Heranwachsende kümmern. Aus diesem Grunde sei Kindern und Jugendlichen die Reise zur Scheibenwelt versagt. Und übrigens - diese Stadt hiesse Newor Leans...

Die anschliessenden Einreiseformalitäten waren erstaunlich simpel. Nicht einmal unsere Pässe wollte man sehen. Wir wurden nach unseren Namen gefragt, die man geflissentlich in ein dickes Buch eintrug. Und unsere Kreditkarten mussten wir vorzeigen. Das war es schon. Der eigentliche Spiessrutenlauf begann, als wir das Hafengelände verliessen. Dort erwartete uns ein Riesenpulk an Möchtegernführern. Die Cleversten von uns sprinteten nahezu an ihnen vorbei, doch den Langsameren gaben sie keine Chance. Einige liessen sich auf diese Wesen ein, manche taten gut daran, die meisten von ihnen jedoch wurden gnadenlos ausgenommen. An mich hing sich ein Wesen in einem langen schwarzen Gewand und einem spitzen Hut. Als Spülwein, der Zauberlehrling, stellte er sich vor. Er war erstaunlich schnell und redegewandt. Obwohl ich ihm nicht antwortete, folgte er mir sicher ein halbe Stunde. Bis sich ein anderes Wesen mit ziemlich spitzen Ohren anbot, mich in seiner Kutsche mitzunehmen. Da es verdammt warm war und mein Koffer mit jedem Schritt schwerer wurde, gab ich nach und stieg in die Kutsche. Spülwind hinterher. Er nannte dem Kutscher genau das Hotel, welches ich mir vorher auf der Karte ausgesucht hatte. Vielleicht war er ja wirklich ein Zauberer, keine Ahnung.

Bevor ich an die Rezeption trat, gab mir Spülwein noch einen guten Rat: ‚Fragen sie nach einem Zimmer zur Strasse raus, am Besten im ersten Stock! Dort ist es zwar lauter, aber die Gefahr, dass man sie beraubt ist deutlich geringer.‘

Ein wirklich guter Rat, wie ich im Laufe meines Aufenthaltes herausfand. Die drei Zimmer eine Treppe zur Strasse raus waren die einzigen, in die nicht eingebrochen wurde. Alle anderen Zimmer wurden regelmässig geleert, manche mehrmals am Tage.

Spülwein trug mir noch mein Gepäck ins Zimmer und verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass er bei Einbruch der Dunkelheit wiederkommen würde, um mir den besten Platz zum Essen zu zeigen. Ein Trinkgeld wollte er nicht – ich solle ihn am Ende meines Aufenthaltes bezahlen. Diese Ankündigung machte mir Angst, deshalb wollte ich das Hotel unbedingt vor dem Sonnenuntergang verlassen...

Ich schaute mich in meinem Zimmer um. Es war geräumig, sauber und ordentlich, was mich erstaunte, erweckte diese Welt doch eher den Eindruck, irgendwann im Mittelalter stehen geblieben zu sein. Wofür es hier jedoch etwas zu teuer schien. Keine Autos, unbefestigte Strassen und in den Seitengasse warfen die Bewohner wohl all ihren Müll einfach aus dem Fenster. Entsprechend roch es dort. Fliessend Wasser hatte mein Zimmer offensichtlich nicht, aber einen kleinen Thron mit eingelassener und verschliessbarer Schüssel. Das Papier hing sorgfältig aufgerollt an der gegenüberliegenden Wand. Ich schob den Thron in die Nähe der Rolle und entdeckte dabei eine weitere Schüssel mit Krug auf einem kleinen Tischchen, auf dem sogar ein Handtuch lag. Das war ja wie im Selbstbedienungsparadies hier. An alles war gedacht. Jetzt musste ich nur noch den Schlüssel für meinen Thron finden, ergab es doch wenig Sinn, sich direkt auf den Deckel zu setzen. In diesem Moment wünschte ich mir Spülwein zurück, er hätte sicher gewusst, wo ich mit der Suche beginnen sollte. Doch er war bereits weg. Also schaute ich mir zuerst die Rolle an, und da lag er innen drin. Wo auch hätte er sonst sein sollen? Diese Rolle spielte halt zwei Rollen: die des kaiserlichen Schlüsselverwahrers und - nicht ganz so porentief rein - die einer hinterlichen Clementine. Ich stellte noch kurz die Kerze in die Türnähe und machte mich auf Entdeckungstour.

Die nähere Umgebung des Hotels war eine ziemlich ruhige. Später sollte ich begreifen, ich war im Vergnügungsviertel von Newor Leans gelandet. Hier fing das Leben erst weit nach Sonnenuntergang an. Zu dieser Zeit waren wenig Leute unterwegs, obwohl sich eine Kneipe an die andere reihte. Im ersten Moment zumindest war ich beruhigt. Ein Stück die Strasse rauf fiel mir eine auf, deren Erdgeschoss wie ein Tarnanzug angestrichen war, als wolle sie nicht erkannt werden. Die oberen Stockwerke waren dagegen mit knallbunten Brettern geschlagen.

Das interessierte mich. Vor dem Haus waren fast alle Tische mit Gästen besetzt, bis auf einen. Obwohl – über ihm schwebte eine Suppenschüssel und zwei Sanduhren standen drauf. Das wollte ich mir näher ansehen. Beim Näherkommen wurde eine schwarze Kutte mit spitzer Kapuze sichtbar, unter der mich zwei strahlendblaue Augen anblickten. Hinter dieser Kutte lehnte eine ziemlich zerbrechliche Sense an ihrem Stuhl. Dieses Wesen bot mir mit einer extrem tiefen Stimme an, Platz zu nehmen. Es war eh der einzige freie Stuhl hier. Also setze ich mich. Doch selbst aus dieser Nähe konnte ich kein Gesicht erblicken. Und das Schwert neben dem Stuhl erweckte auch nicht gerade mein Vertrauen.

‚Tourist?‘, fragte mich dieser Herr. Ich nickte.

‚Ah, deshalb kommen sie mir nicht bekannt vor, und sie können mich sehen.‘

‚Wieso? Werden sie von den Einwohnern hier nicht gesehen?‘ Er hatte mich neugierig gemacht.

‚Ja! Nur Kleinkinder, Katzen und Zauberer sehen mich – und Touristen.‘

‚Warum gerade Katzen?‘

‚Viele Katzen sind der Ratten Tod, und für Ratten bin ich nicht zuständig. Ich mag Katzen‘, die Suppenschüssel bewegte sich etwas, ‚und das Aroma dieser Knobel-Auch-Suppe.‘

‚Interessant! Aber was ist Knobel-Auch?‘

‚Da müssen sie den Koch fragen. Ich esse nie, komme hier jedoch gerne vorbei, um an dieser Suppe zu riechen. Dieser Platz ist immer für mich reserviert.‘

Eine Art Kellner erschien und fragte nach meinen Wünschen. Doch mein mysteriöser Gegenüber erklärte, dass ich mich als eingeladen betrachten solle und übernahm die Bestellung. Er orderte, ohne Rücksprache mit mir, diese Knobel-Auch-Suppe und einen kräftigen Kräutertee. Genau dies hatte ich selbst bestellen wollen: ‚Woher wussten sie, was ich wollte?‘

‚Es gibt hier keine Auswahl!‘

‚C’el á vis, so ist das Leben!‘, warf ich ein.

‚Aber ich bin Tod! Und wir sind hier in Teller Viv im Teller Viv. Und Seller Vih verkauft man ihnen hier nicht.‘

Diese Antwort irritierte mich denn doch: ‚Sie sind tot? Ich rede hier mit einem Toten? Und was ist Teller Viv?‘

‚Nein, mein Name und mein Beruf sind Tod!‘, er zeigte auf das Schild über der Tür, ‚Und diese Restauration nennt sich Teller Viv. Das ganze Viertel hier heisst Teller Viv. Von Seller Vih wiederum habe ich noch nie gehört.‘

‚Ahh, c’el à vis bedeutet in etwa so ist es halt... Soll das jetzt heissen, ich rede hier mit dem Sensenmann?‘

‚Ja, manche nennen mich so. Habe einen  verantwortungsvollen Job, ich helfe den Seelen der Verstorbenen den Weg in eine andere Welt zu finden.‘

Der Kellner brachte meine Bestellung. Diese Suppe roch wirklich ausgezeichnet, und schmeckte ebenfalls so. Die vielleicht beste Suppe, die ich bisher vorgesetzt bekam. Tee jedoch hatte ich schon besseren getrunken.

‚Wieso heisst die Suppe eigentlich Knobel-Auch-Suppe? Gibt es da eine Geschichte dazu?‘, wollte ich von meinem Gegenüber wissen.

‚So fängt das Knobeln an! Wer zehn der Zutaten richtig errät, erhält kostenfrei für den Rest seines Lebens täglich eine Schüssel voll. Bisher bin ich der Einzige, dem dieses Privileg zusteht – und dies nur durch Riechen.‘

Wie aus dem Nichts tauchte in diesem Moment Spülwein an unserem Tisch auf: ‚Hatte ich es mir doch gedacht. In diesem Hause landen fast alle Besucher am ersten Abend. Und sie haben bereits die Bekanntschaft mit einem unserer berühmtesten Bewohner gemacht. Klasse Leistung!‘ Und an Tod gewandt: ‚Wartest du etwa auf mich? Ich brauche dich heute nicht.‘

‚Nein! Diesmal nicht. Du weißt doch, dass ich gern auf dich treffe‘, erwiderte Tod. ‚Ihr habt euch also ebenfalls schon kennengelernt. Spülwein ist einer der besten Touristenguides auf der Scheibe. Gute Wahl! Er ist nahezu der Einzige hier, der sie echt vor mir schützen kann. Ich weiss garnicht, wieviele Leute er schon vor meiner Sense bewahrt hat. Aus diesem Grunde ist unser Verhältnis ein ziemlich spezielles. Ich mag ihn, er mich nicht. Er fügt meinem Leben eine Brise Abwechslung hinzu. Treffe ich auf ihn, weiss ich nie, wie es endet. Ich habe schon Sterbende verschont, nur wegen seiner traurigen Augen. Das ist immer wieder aufs Neue erfrischend.‘

‚Ich denke, die Bewohner dieser Welt können sie nicht sehen? Er sieht sie.‘

‚Richtig! Ausser Katzen, Kleinkinder und Zauberern! Er ist ein Zauberlehrling. Es ist nahezu das Erste, was sie in ihrer nie gesehenen Universität hier lernen. Und dabei ist er ein eher mieser Zauberer, aber wie gesagt ein guter Touristenführer.‘

‚Was heisst hier nie gesehene Universität?‘, warf Spülwein wieder ein. ‚Ich sehe sie, wenn ich hingehe. Und du bist auch schon bei uns gewesen.‘

‚Ja! Weil wir genau wissen, wo wir sie finden können. Doch frage mal die Anderen hier. Keiner von denen hat sie je gesehen.‘

‚Ach, hör doch auf! Sie befindet sich mitten in der Stadt und ist in einem riesengrossen Gebäude. So etwas kann keiner übersehen. Ich habe es damals auf Anhieb gefunden.‘

‚Weil du Zauberer werden wolltest. Frei nach dem Spruch: Wenn du deinen Eltern wehtun möchtest, und nicht homosexuell bist, werde Zauberer – oder Hexe.‘

‚Hier gibt es auch Hexen?‘, wollte ich da wissen.

‚Ja! Aber nur wenige, und die sind alle Autodidakten. Ich kann sie ihnen vorstellen, wenn sie Interesse haben.‘

‚Ja! Würde mich freuen.‘

‚Sind sie schon mal auf einem Pferd geritten?‘, fragte mich da Tod.

‚Nein!‘

‚Dann kann es ja losgehen!‘, und Tod stiess einen gellenden Pfiff aus.

Ein braunes Pferd kam ebenfalls aus dem Nichts zwischen all den Tischen auf uns zu. Tod schnallte sich sein Schwert um, schnappte sich die zwei Sanduhren, nahm die Sense und stieg auf. Er reichte mir seine knochige Hand und half mir ebenfalls auf das Pferd: ‚Ich habe noch zwei Jobs zu erledigen. Danach bringe ich sie zum Hexentanzplatz.‘

Und schon stieg das Pferd steil in den Himmel. Ich klammerte mich an Tod, obwohl: So richtig festhalten konnte ich mich an ihm nicht. Und ich bemerkte schnell: Der Himmel sollte immer über uns sein, nur dann scheint unsere Welt in Ordnung. Kommt es einmal umgedreht, erfasst uns eine panische Angst. Wir verlieren völlig die Orientierung. Mit diesem Gefühl in meinem Bauch jagten wir über den Himmel, meinem nächsten Abenteuer auf der Scheibenwelt entgegen.

(Ende des zweiten Berichtes)

Impressum

Texte: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Bildmaterialien: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Cover: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Lektorat: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Tag der Veröffentlichung: 13.08.2018

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Diese Scheibenwelt ist nicht die von Terry Pratchett!!!

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