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Meine Begegnung mit Baalbek

Am Abend des 28. Dezembers 1999 waren wir sanft in Beirut gelandet und sahen einem (fast) drei Tage dauerndem Aufenthalt in einer für uns spannenden neuen Welt entgegen. Es war mir gelungen, für einen Münchner Musiker zwei Konzerte in Beirut im Libanon zu arrangieren...

Für den 29. war für uns ein Tages-Ausflug nach Baalbek geplant. Als Jugendlicher hatte ich mal eine SciFi-Geschichte über die Terrassen von Baalbek gelesen und wollte diese seitdem mit eigenen Augen sehen. Irgendwann dazwischen war mir in einem Antiquariat sogar ein Foto dieser Tempelanlagen in die Hände gefallen. Dieses Bild hing schon jahrelang in einem Bilderrahmen an meiner Wand. Diese römischen Tempelanlage galt als die grösste ihrer Art ausserhalb Italiens. So etwas muss man doch mit eigenen Augen sehen, oder?

Zumal laut Reiseführer das Stadtgebiet seit etwa 8,000 v. Chr. kontinuierlich bewohnt ist. In der Zeit, in der das gesamte Gebiet zum alten Ägypten gehörte, wurde die Stadt Heliopolis genannt – entsprechend ihrem ägyptischen Vorbild. Sie scheint also bereits lange vor den Römern ein religiöses und kulturelles Zentrum im östlichen Mittelmeerraum gewesen zu sein. Nachgewiesen ist z. B., dass Alexander der Grosse 333 v. Chr. mit seinem Heer unmittelbar vor seiner Keilerei mit den Persern bei Issos mit seinem Heer in Baalbek eine Pause einlegte.

Umgekehrt hatte der Musiker einen ziemlich aktuellen Grund, nach Baalbek zu reisen. Fairuz, die ‚Mutter der libanesischen Nation‘ und eine der grössten lebenden Sängerinnen am östlichen Mittelmeer, lebt(e) in Baalbek. Er war eine grosser Fan orientalischer Musik und wünschte sich, sie einmal persönlich treffen zu können. Glücklicherweise kannte der Veranstalter in Beirut Jemanden, der Jemanden kannte – sie gehörte zu seinem Netzwerk, wenn auch nur ganz am Rande. Doch er hatte das Unmögliche geschafft und uns einen Termin bei ihr reservieren können...

Wir hatten also einen kleinen Schimmer davon, was uns erwarten würde. Als uns unser Guide und Fahrer am Morgen im Hotel abholte, flog wie ein gutes Omen ein kleiner Luftballon über den Parkplatz. Nach einer kurzen Einweisung zum Verhalten an den vielen Kontrollpunkten, die wir auf dem Weg nach Baalbek passieren würden, ging es endlich los. Er würde uns immer mit ausgemachten Code-Wörtern informieren, wessen Check-Point wir als Nächsten passieren würden – bei den Libanesen dürften wir scherzen, bei den Syrern sollten wir böse drein schauen und bei denen der Hisbollah war ein zurückhaltendes Verhalten angebracht – die würden kein Spass verstehen...

Kurz nachdem wir Beirut verlassen hatten, sahen wir das erste Flüchtlingslager. Und wir sollten unterwegs noch viele mehr zu sehen bekommen. Wie Wucherungen waren sie in der kargen Landschaft der Bekaa Ebene zwischen Libanon-Gebirge und dem Anti-Libanon in den Jahren des Bürgerkrieges gewachsen. Meist fast reine Zeltstädte, oft nur wenige Meter entfernt von leerstehenden Neubauten – errichtet von den ‚syrischen Besatzern‘, von denen man keine Hilfe annehmen wollte. Ein ziemlich bedrückender Eindruck von diesem zerrissenen Land...

Als wir in Baalbek eintrafen, informierte uns unserer Guide noch schnell, dass die Stadt von der Hisbollah kontrolliert wurde und diese in unmittelbarer Nähe ein Ausbildungslager betrieb. Wir würden deshalb sicher während der gesamten Zeit in Baalbek deren Schiessen hören. Baalbek an sich wäre jedoch einer der sichersten Orte in diesem Teil des Libanons. Solange wir uns angemessen verhalten würden, bestünde keine Gefahr für uns. In Baalbek wäre man an Touristen gewöhnt und würde diese mit Respekt behandeln. Ein wichtiger Hinweis folgte dennoch: Es war die Zeit des Ramadans, wir sollten keinesfalls in der Öffentlichkeit essen, trinken oder rauchen. Damit verabschiedete er sich vor dem Eingang zur Tempelanlage. Er wolle für uns ein Essen arrangieren. In zwei Stunden würde er uns wieder abholen und zu Fairuz‘ Haus bringen...

Wir hatten zwar schon vom Auto aus einen Blick über die Anlagen werfen können, doch was uns dort wirklich erwartete, darauf waren wir nicht vorbereitet. Durch eine schmale Gasse und eine Treppe kamen wir in den Innenhof der ehemaligen Festungsanlage, die im 12. Jh. durch die Araber unter teilweiser Nutzung der Tempel und deren Baumaterialien errichtet wurde. Diese Festung umschloss zwei der römischen Tempel des Tempelbezirkes, und schütze diese über die Zeit, weshalb sie wahrscheinlich auch erhalten blieben. Schon dort bekamen wir einen Eindruck von der Grösse der gesamten Anlage.

Vom ehemals grössten Tempel, Jupiter gewidmet, stehen heute nur noch sechs Säulen. Aber was für Säulen. 20 Meter hoch! Ich bin mir selten so klein vorgekommen. Obwohl nur diese eine Seite des ehemaligen Tempels noch steht, erkennt man sehr wohl, die gesamte Grösse des Bauwerkes: Die Fundamente, für welches die grössten während der Antike verbauten Steine verwendet wurden, sind noch weitesgehend erhalten.

Hinter diesen Säulen hat man einem hervorragenden Blick auf den ehemaligen Bacchus-Tempel. Bacchus war der Gott des Weines und des Rausches, was lag näher als dieses Gebäude - während der arabischen Zeiten ab dem 12. Jh. - als Palast zu nutzen? Dieses Gebäude ist – bis auf das Dach – noch erhalten und wird heute für internationale Konzerte genutzt...

Als wir das Gelände verliessen, wurden wir schon erwartet. Uns war nicht bewusst geworden, wieviel Zeit wir auf dem Gelände verbracht hatten. Unglaublich! Wir mussten nun zu Fuss bis zu Fairuz‘ Haus. Der gesamte Altstadt-Bereich von Baalbek kann von Autos nicht befahren werden. Es ist eine wirkliche Altstadt, die Gebäude sind teilweise bis zu zweitausend Jahre alt, die Gassen sind gerade einmal so breit, dass ein kleiner Eselskarren durchkommt. Der Musiker nahm seine Oud aus dem Auto und wir gingen los...

Fairuz wohnt(e) am ehemaligen zentralen Platz der Altstadt. Es ist ein grosses, zweistöckiges Haus mit einer Holzbalustrade an der Vorderfront. Wir wurden bereits erwartet und in ein grosses Zimmer im oberen Stockwerk geführt. Dieses war mit dicken Teppichen ausgelegt und wir sollten es uns schon einmal bequem machen. Da wir annahmen, sie würde sich auf den einzigen, fast thronhaften, Stuhl setzen, liessen wir uns vor diesem nieder. Und tatsächlich, sie setzte sich auf diesen Stuhl. Nach der Begrüssung fragte sie den Musiker, ob er wirklich derjenige sei, der ihr gemeldet worden war – was er bejahte. Doch so recht glauben schien sie ihm nicht. Er sollte ihr zum Beweis ein Stück auf seiner Oud vorspielen. Er wählte eines ihrer Lieder. Und nach seiner Einleitung begann sie mitzusingen. Puuhh! Ein Privatkonzert von Fairuz im kleinsten Kreise – das war mehr als ich mir vorher erträumt hatte. Anschliessend wurde uns Tee serviert – Fairuz ist Christin – und die beiden Musiker erklärten sich gegenseitig, dass man sich schon lange bewunderte. Es ist immer wieder eigenartig, mit zu erleben, wie so etwas ausarten kann. Die Beiden waren da keine Ausnahme...

Nach einer guten halben Stunde war unsere Audienz bei der ‚Mutter der libanesischen Nation‘ auch schon vorbei und sie verabschiedete sich von uns. Wir verliessen ihr Haus und gingen zum Auto zurück. Unterwegs trafen wir noch auf zwei offensichtlich Einheimische, die den Musiker ebenfalls erkannten. Mitten in Baalbeks Altstadt! Er fühlte sich natürlich super geehrt und lud sie zu einem seiner Konzerte in Beirut ein (Sie kamen tatsächlich am nächsten Abend!). Doch als er ihnen erzählte, was er vor Kurzem in Fairuz' Haus erlebt hatte, war es um sie geschehen. Fairuz hatte ihm die Ehre zukommen lassen und mit ihm gesungen. Eine grössere Ehre war für die Beiden nicht vorstellbar. Als er sich verabschiedete und ihnen die Hand reichte zum Gruss, standen den Beiden Tränen in den Augen...

Anschliessend ging es für uns ins Hotel Palmyra etwas ausserhalb der Stadt, gegenüber des Tempelbezirkes. Es ist eines der ältesten existierenden Hotels in der Welt. Schon Napoleon hat dort übernachtet und Agatha Christie, die eine ihrer Poirot-Geschichten dort spielen liess. Es ist ein relativ kleines Gebäude, mit einem grossen Garten, den man vom Speisesaal aus überblicken kann. In diesen wurden wir geführt. Unser Guide verabschiedete sich ein weiteres Mal von uns – Ramadan...

Ein Riesentisch war für uns gedeckt, mit einer Unzahl von kleinen und grösseren Schälchen, dazu eine Auswahl verschiedener Brote. Uns wurde erklärt, alles wären typisch libanesische Speisen, die man mit den Fingern unter Zuhilfenahme der Brote zu sich nahm. Auch die Klebrigen! Und es schmeckte verdammt gut. Den Plan, von jeder Schale zu kosten, konnte wir dennoch nicht umsetzen. Es war einfach zu viel. Einen Teil mussten wir unberührt zurücklassen. Während des Essens kamen wir mit dem Kellner ins Gespräch. Er erklärte uns, ebenfalls Christ zu sein und keine Probleme zu haben, anderen Leuten beim Essen zuzuschauen. Er würde bereits seit über 60 Jahren im Hotel arbeiten. Anfangs als Laufbursche, inzwischen hatte er sich zum Leiter des gesamten Service hochgearbeitet. Dann könne er ja sicher bald in Rente gehen, bemerkte mein Begleiter. Nein! Er könne sich das nicht vorstellen, das Hotel wäre sein Leben und sein Zuhause. In all den Jahren hätte er nicht mal fünf Tage gefehlt, weil er krank war. Auch wäre dieses Hotel immer offen gewesen, selbst wenn mal keine Gäste da waren. Zu tun gibt es hier ausreichend. Sich mal einen anderen Job zu suchen, käme für ihn nicht in Frage. Dafür wäre er nicht flatterhaft genug...

Als wir uns dann von ihm verabschiedeten, bat er uns noch, bei seinem Vater vorbei zu gehen. Der wäre der Chef der Rezeption!!! Doch vorher besahen wir uns die Fotos an der Wand des Ganges zur Rezeption. Alle zeigte sie ehemalige Gäste des Hotels, mit Unterschrift und Datum. Da waren Charles de Gaulle zu sehen, und Agatha Christie, Alain Delon und Ella Fitzgerald – eine endlose Reihe, die wir uns nicht alle merken konnten. Und in einer kleinen Bucht in der Wand – unter Glas – ein uraltes Gästebuch mit einem Eintrag von Napoleon! In diesem Hotel kann jeder Gast sicher sein, in seinem Zimmer hat wenigstens einer von diesen Leuten an der Wand einmal übernachtet...

Da konnte uns im Empfangsraum eigentlich nichts überraschen. Als Erstes entdeckten wir unseren Guide / Fahrer, der es sich auf einem Barhocker am Rezeptionsthresen gemütlich gemacht hatte und sich angeregt mit Jemandem dahinter unterhielt. Als wir näherkamen, entdeckten wir, mit wem. Da sass ein uraltes Männchen auf einem grossen, bequemen Stuhl – der Mann war bestimmt um die 100 Jahre alt, der Stuhl vielleicht ebenfalls. Bekleidet mit einer roten Livree, seine drei Härchen sauber gescheitelt und ein Monokel vor sein Auge haltend. Dies war sicher der Vater unseres Kellners. Beide, unser Guide und der alte Herr, lachten herzhaft über wohl alte Anekdoten, die sie sich erzählten. Wir wurden ihm vorgestellt und der alte Herr stand sogar auf, um uns zu begrüssen. Er rief einen jungen Mann, etwa Ende 20 / Anfang 30, und stellte ihn als seinen Urenkel vor, der ebenfalls im Hotel angestellt war, als Hausmeister...

Später im  Auto schlug uns der Guide vor, eine andere Route zurück nach Beirut zu nehmen. Direkt westwärts an ‚den Höhlen‘ vorbei. War uns ganz lieb, hatten wir doch so die Chance, mehr vom Libanon zu sehen.

Als wir aus Baalbek herausfuhren, hörten wir dann das Schiessen auf dem Trainingsgelände der Hisbollah. Irgendwie war es uns während des Tages nicht so richtig bewusst geworden. Dennoch überkam mich beim Verlassen der Stadt ein eigenartiges Verlust-Gefühl, als ob ich etwas Wichtiges zurücklassen würde...

Wir fuhren in Richtung des Qurnat as-Sawda, mit über 3,000 Meter Höhe Libanons höchster Gipfel. Im Winter wird in dieser Gegend Wintersport betrieben, es gibt Lifte und abgesperrte Pisten. Ich werde nie das Bild vergessen, welches sich uns dort bot: Ein arabische Familie, vorne der Vater, anschliessend drei oder vier Kinder, streng der Grösse nach, und am Ende die Mutter – alle in helle, wehende Kaftans gehüllt – fuhren eine dieser Pisten herunter. Es sah genauso aus, wie man sich so etwas vorstellt...

Auf halben Weg hinunter nach Tripoli hielt unser Guide wieder an und schlug vor, die Höhlen zu besuchen. Welche Höhlen? Wir ständen direkt am Eingang zu den Tropfsteinhöhlen, die im Altertum zu einer armenisch-othodoxen Kirche umgestaltet worden waren. Ein beeindruckendes Erlebnis! Eigentlich sah es nahezu vice versa aus: Als ob sich eine Kirche in eine Tropfsteinhöhle verwandelt hätte. Man muss diese Höhlen selbst sehen, um es zu verstehen...

Unten in Tripoli erlebten wir eine weitere kleine Überraschung: Nur 25 km von den Skipisten des Landes entfernt lagen die Leute bei 25 °C am Strand und sonnten sich. Der Libanon ist ein Land der Gegensätze auf kleinstem Raume, und dennoch: Wir hatten nicht eine einzige Zeder zu Gesicht bekommen, obwohl wir an diesem Tage bestimmt ein Drittel des Landes bereist hatten...

Impressum

Texte: 2018 & 2019, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Bildmaterialien: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Cover: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Lektorat: 2018 & 2019, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Tag der Veröffentlichung: 07.06.2018

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