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Skandal im Kino (3. Dezember 1930)

Graf Isch wartete in seinem Luxus-Schlafabteil darauf, endlich sein Abendmahl im Speisewagen einnehmen zu dürfen. Vor drei Minuten hatte sich der Zug vom Gare d’Orsay unweit des Montparnasse in Bewegung gesetzt. Da würde er wohl noch eine gute Stunde warten müssen, so lange dauerte es gewöhnlich nach der Abfahrt bis der Speisewagen geöffnet wurde. Noch fuhren sie durch Paris, so dass es sich wegen der frühen Dunkelheit durchaus lohnte, aus dem Fenster zu schauen. Da fiel sein Blick auf die zerstörten Bilder auf dem zweiten Bett des Abteils. Es tat ihm in der Seele weh, wenn er an die Ereignisse vor drei Tagen dachte. Diese Bilder waren im Grunde unersetzlich gewesen. Er hatte zwar Ersatz für diese bekommen, doch es war nur ein Ersatz...

Nach einer langen Zugfahrt von Barcelona war er während des späten Nachmittages des ersten Dezembers in Paris angekommen. Senor Bunuel hatte einen seiner Freunde gesandt, um ihn vom Bahnhof abzuholen. Man hatte für die geladenen Gäste das gesamte Hotel Istria gemietet, sogar Man Ray hatte sich erweichen lassen, für eine Woche bei Freunden unterzukommen. Senor Bunuel war die Premierenwoche für seinen zweiten Film viel zu wichtig, als dass er auf die ihm wichtigen Leute aus seiner Heimat hätte verzichten wollen.

Nachdem ihm die Bewegung (der Surrealisten), vor allem der harte Kern um Andre Breton, Philippe Soupault und Louis Aragon, seinen ersten Film ‚Der andalusische Hund‘ nach anfänglicher Begeisterung wegen des grossen kommerziellen Erfolges übelgenommen hatte, war es ihm nun besonders wichtig, denen zu beweisen, er kann auch anders. Nur keiner aus der Bewegung konnte wirklich sagen, was sie eigentlich von einem surrealistischen Werk kommerziell erwarteten. Nach der Uraufführung dieses ersten Filmes waren sie ja selbst begeistert an Senor Bunuel und Salvador Dali herangetreten und hatten sie in ihre Bewegung aufgenommen. Doch als der Film noch Wochen nach der Uraufführung weiterhin vor ausverkauften Häusern gezeigt wurde, bekamen sie es wohl mit der Angst zu tun und warfen den Zweien den Ausverkauf der Bewegung vor. Während dieser Auseinandersetzung nannten einige aus der Bewegung Salvador Dali zum ersten Male Avidas Dollar, wie ihm Max Ernst unter dem Siegel der Verschwiegenheit gesteckt hatte, weil er seinen Stolz auf den Erfolg ausgiebig zeigte. Senor Bunuel dagegen gelang es, sie von seinem Ärger darüber zu überzeugen, auch auf Kosten seines Freundes Dali. Im Hintergrund jedoch nutzte er seine neuen Möglichkeiten wegen des Erfolges, um Geldgeber für seinen zweiten Film zu gewinnen. Obendrein bot er anderen Mitgliedern der Bewegung Rollen im Film an. Max Ernst war am Ende begeistert dabei.

Senor Bunuel war es gelungen, so viel Geld für seinen Film zusammenzutragen, dass er sogar die neueste Technik einsetzen konnte. Sein Film hatte Ton, dies war erst seit kurzem im grösseren Rahmen möglich. Sogar das grössere ‚Studio 28‘ konnte er sich mieten, um den Film sechsmal aufführen zu lassen. Im Foyer und dem Zuschauerraum des Kinos hatte er eine Ausstellung surrealistischer Werke hergerichtet. Für diese hatte Graf Isch Bilder seiner Freunde mitgebracht. Sehr zu seinem Bedauern inzwischen...

Bei der ersten Aufführung gab es keine Zwischenfälle, alles war perfekt organisiert. Aber im Grunde waren zu dieser Vorstellung praktisch nur geladene Gäste erschienen, vor allem Freunde Bunuels und Leute aus dem näheren Umfeld der Bewegung, zusätzlich Presseleute und andere Künstler. Graf Isch hatte sogar Gertrude Stein mit einem Pulk ihrer Freunde gesehen. Letztere hatte die Aufführung jedoch schnell verlassen. Das war nicht wirklich ihre Vorstellung von Kunst. Doch am Ende des Filmes gab es Ovationen für Bunuel und seine Crew. Er hatte wieder den Geschmack der Bewegung getroffen. Und dieses Mal waren sie sich sicher – dieser Film war alles andere als kommerziell.

Bunuel hatte mit seinen Bildern alles zu Boden gerissen, was der bürgerlichen Gesellschaft heilig war. Er hatte es sogar geschafft, Graf Isch zu verstören, und er war so Einiges gewöhnt von diesen Leuten. Doch die blasphemischen Szenen, vor allem am Ende des Filmes, gingen selbst ihm zu weit. Dennoch war er begeistert. So etwas hatte er noch nie gesehen – Bunuels erster Film war im Vergleich zum ‚Goldenen Zeitalter‘ schon fast ein Kinderfilm. Noch im Rahmen der Erträglichkeit für das Bürgertum, mehr ein Studentenstreich als wirklicher Protest. Doch ‚Das goldene Zeitalter‘ ging bedeutend weiter. Das war kein Streich mehr, es war bösartige Kritik, echte Blasphemie. Graf Isch wusste nun, warum Dali zumindest nicht vordergründig einbezogen war. Klar, an einigen Szenen war sein Einfluss eindeutig zu sehen. Wer sonst warf brennende Giraffen aus dem Fenster? Doch Graf Isch wusste auch, dass Dali sich nie für eine solche krasse antiklerikale Aussage vereinnahmen liess. Er war sich sogar sicher, einige andere aus der Bewegung würden dies innerlich ebenfalls nicht tolerieren.

Da war es fast schon überraschend, dass es erst bei der letzten Aufführung zu Tumulten kam. Anfänglich flogen Stinkbomben von den hinteren Sitzen nach vorne. Schnell folgten jedoch Farbbeutel an die Leinwand und auf seine Bilder. Senor Bunuel führte ihn und einige weitere Leute, die er ebenfalls im Istra untergebracht hatte, über die Bühne in den Hof hinter dem Studio. Dort bat er Graf Isch, diese Leute sicher ins Hotel zu bringen. Was er auch tat. Doch kehrte er danach auf dem schnellsten Weg zum Kino zurück.

Dort war aber alles schon vorüber. Die Polizei hatte in der Zwischenzeit den Film beschlagnahmt und Bunuel und Breton als ‚Rädelsführer‘ mitgenommen. Dali, Picasso und einige andere sagte ihm, dass es wohl rechte Burschenschaftler waren, die da randaliert hatten. Sie rieten ihm, lieber nicht noch einmal hineinzugehen. Ihm würde das Herz brechen...

Er ging dennoch hinein, und ihm brach das Herz, als er die ausgestellten Bilder sah. Sie waren teilweise aus ihrem Rahmen gerissen worden, andere lagen am Boden und die Leute waren in ihrer Panik auf sie getreten. Und was noch hing, war durch die Farbbeutel und den Rauch stark beschädigt. Ihm liefen die Tränen über das Gesicht. Was waren das für Banausen? Nur weil sie etwas nicht verstanden hatten und es ihnen gegen den Strich ging, nur deshalb hatten sie ihre Wut an allem ausgelassen, was sie damit in Verbindung brachten. Einige der Maler, die noch anwesend waren, versprachen ihm, am nächsten Morgen Ersatz im Istra vorbeizubringen... Das hatten sie auch getan. Doch fast alle der zerstörten Bilder waren nicht mehr zu retten. Welch ein Verlust für die Kunst?

In diesem Moment klopfte der Schaffner und teilte ihm mit, dass das Essen serviert sei. Er warf noch einen kurzen traurigen Blick auf die Bilder und verliess das Abteil...

Eine Woche später erfuhr er aus der Zeitung, dass man den Film endgültig konfiziert und eine generelles Aufführverbot verhängt hatte.

(Das Aufführverbot galt zwar nur für Frankreich, wurde jedoch europaweit weitesgehend mitgetragen und erst nach fünfzig Jahren, im Jahr 1981, wieder aufgehoben. Dieser Film gilt heute als eines der wichtigsten surrealistischen Kunstwerke und als einer der kompromisslosesten Filme in der Kino-Geschichte.)

Impressum

Texte: 2018. Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Bildmaterialien: copyright controled
Cover: 2018. Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Lektorat: 2018. Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Tag der Veröffentlichung: 15.05.2018

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