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LAUT LOS

Die Stille ist – laut Wikipedia – ‚die empfundene Lautlosigkeit, Abwesenheit jeglichen Geräusches, aber auch Bewegungslosigkeit.‘ Betrachtet man dies einmal rein physikalisch, wird man sehr schnell feststellen, echte Stille ist in unserem Universum nicht möglich. Das sogenannte Hintergrundrauschen können wir nicht abschalten, selbst wenn es uns gelingen würde, alle anderen Geräusche abzuschalten, z. B. alle Strahlungsquellen...

Doch wir wollen hier keine Krümel kacken. Heisst es doch schon bei Wikipedia ‚empfundene Lautlosigkeit‘ und konzentrieren wir uns deshalb auf die uns von der Natur gegebenen biologischen Sensoren. Damit scheidet u. a. dieses Hintergrundrauschen schon mal aus. Wir können es nicht hören, ohne technische Hilfsmittel. Doch selbst unter diesen Bedingungen: Eine echte Stille werden wir nicht kennenlernen. Viele Menschen leiden unter beständigen Ohrenklingeln, unter Tinitus. Dieses Geräusch können wir auch nicht abschalten. Und wie ist es mit den Atemgeräuschen und unserem Herzklopfen?

Ich war mal in Island, dort gibt es Gegenden, in denen nahezu kein Geräusch zu hören ist und bei Windstille (hic, eine anderen Form von Stille) konnte ich dort mein eigenes Herz schlagen hören. Dies war ein eher beängstigendes Gefühl. Daran muss man sich erst gewöhnen. In diesen Momenten bekam ich eine Ahnung von dem, was Menschen in einer Camera silens, einem schallisolierten und dunklen Raum, empfinden. Und auf Island wird es im Sommer nicht wirklich dunkel...

Ein anderes Extremerlebnis hatte ich in Russland. In Tula übernachteten wir einmal auf dem ehemaligen Gut von Lew Tolstoi, weit ab der Strasse und anderen Ansiedlungen, mitten im Wald. Ich hatte eine ruhige Nacht erwartet, doch als ich im Bett lag, musste ich feststellen, dass ein Wald mitten in der Nacht extrem laut sein kann. Da empfand ich diese Geräusche ‚dreimal lauter‘ als unseren alltägliche Geräusche-Hintergrund. Fegte ein Windstoss durch die Bäume, knarrten sie, jeder einzelne. Und wenn ein Tier durch ihn streifte, konnte ich nahezu jede seiner Bewegungen hören. Es war absolut nichts zu sehen, nur diese Geräusche, die mich anfänglich nicht einschlafen liessen – und ich lebe in einer Grossstadt, wo ich jeden Abend bei offenem Fenster problemlos einschlafe...

Zusätzlich ist da auch noch unserer innerer Monolog. Den können die meisten von uns nicht wirklich abschalten (aber man kann dies lernen!). Störend dabei sind viele der Religionen. Sie nutzen diesen inneren Monolog und lenken ihn um. Sie scheinen uns zu lehren, es wäre besser, Zwiesprache mit einem ihrer Götter zu halten. Bei genauer Betrachtung ist dies doch eine Aufforderung zur Blasphemie? Wenn wir innerlich in einen Dialog mit Gott treten können, muss doch dieser Gott in uns sein, oder? Und ist Gott in uns allen, wozu brauchen wir dann die Priester (oder Pastoren oder Pfarrer, egal, wie wir sie nun nennen), die uns Gottes Worte erklären? Das könnte doch Gott direkt mit uns ausmachen, im Zwiegespräch...

Doch darum geht es hier nicht. Wenden wir uns einmal von diesen Extremerlebnis ab und betrachten die Lautlosigkeit näher. Ziehen wir dafür die Musik als Beispiel heran, speziell die Entstehung eines Rhythmusses. Benutzen wir der Einfachheit halber den Tisch vor uns. Schlagen wir einmal auf den Tisch, entsteht ein kurzes Geräusch. Schlagen wir zweimal, zwei kurze Geräusche hintereinander. Schlagen wir weiter in regelmässigen Abständen, spüren wir es deutlich, ein Rhythmus entsteht. Hören wir damit auf, entschwindet auch dieser Rhythmus. Ich will sagen, um einen Rhythmus zu empfinden, ist zwingend eine kurze Pause zwischen den Geräuschen notwendig. Ohne Stille (Pausen) kann es keinen Rhythmus geben!

Auch eine Melodie wird nur auf diese Weise für uns wahrnehmbar. Nicht nur, dass eigentlich fast alle Instrumente technisch nur von einander abgesetzt Töne erzeugen können, unser Ohr braucht diese kurzen Momente der Stille zwischen den Tönen, um eine Melodie erkennen zu können (die wenigen Ausnahmen bestätigen da die Regel). Denkt bitte mal daran, wenn ihr das nächste Mal Musik hört, egal welche!

Betrachten wir nun als nächstes die menschliche Sprache: Wir sind – ich sage jetzt mal technisch – nicht in der Lage, lang andauernde Töne zu erzeugen. Wir haben deshalb ja auch eine Sprache entwickelt, die zumindest die einzelnen Wörter deutlich voneinander trennt. Abgesehen von einer entsprechenden Betonung wären wir ohne diese kurzzeitige Stille zwischen den Wörtern gar nicht in der Lage, den Sinn der Rede zu verstehen. Beispiel: Ich werde dich jetzt festnehmen bzw. Ich werde dich jetzt fest nehmen!

Wir sehen, ohne – wenigstens kurzzeitiger - Stille könnte unsere Gesellschaft gar nicht funktionieren, biologisch-technisch nicht, und auch organisatorisch nicht. Und dennoch scheint es in uns selbst zu liegen, dass wir ständig nach Ruhe, nach einer ‚empfundenen Lautlosigkeit‘ streben. Sind wir jedoch ehrlich zu uns selbst: Eine ewige – beständige – Stille um uns herum würde uns in den Wahnsinn treiben. Ohne diesen Wechsel von Geräuschen und Stille wären wir nicht in der Lage z. B. einen Rhythmus in unserem Leben zu empfinden, und so ebenfalls nicht das Vergehen der Zeit zu spüren. Wir brauchen beides zum Leben, das Geräusch und die Stille. Die Versuche mit den Camera Silens haben dies deutlich bewiesen: Ein lautloses Leben können wir nicht ertragen...

Impressum

Texte: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Cover: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Lektorat: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Tag der Veröffentlichung: 11.05.2018

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