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Musik, am Beispiel Jazz

Was ist Musik? Und wie definiert man eigentlich Jazz? Viele haben versucht, diese Fragen zu beantworten. Eine allgemeingültige Definition gibt es, glaube ich, bis heute nicht.

Aber konzentrieren wir uns zuerst auf den Jazz. Er ist Teil der Musik. Das ist wohl allen klar. Doch es gibt eine Jazzpolizei, die von sich so überzeugt ist, dass sie behauptet, festlegen zu dürfen, wer unter Jazz geführt werden darf und wer nicht. Dabei bestimmt jeder der Jazzpolizisten für sich, wer Jazz macht und wer nicht. Frage zehn von denen und du bekommst zehn verschiedenen Antworten. Wahrscheinlich hast du am Ende eine Liste von zehn Musikern, die angeblich die einzigen wahren Jazzmusiker sind – weit und breit. Was im Grunde bedeutet: Auch die Jazzpolizei hat keine Ahnung davon, was Jazz eigentlich ist.

Da gibt es z. B. einen Journalisten, der u. a. bei einem grossen Web-Lexikon für den Jazz verantwortlich ist und einmal in einem Blog schrieb, dass er mit allem, was im Jazz nach Bebop (also nach den 50ern) kam, nichts anfangen könne. Er hätte sich einmal zehn CD’s zugelegt, die irgendwo als wichtig für diese Musik nach 1960 genannt waren, und schon beim Hören der CD, die einer Jazzstilrichtung den Namen gab, völlig entnervt die CD aus dem Player riss und alle zehn CD’s dem Müll übergeben hatte. Er könne diese CD’s nicht einmal verschenken – der Beschenkte könnte am Ende aus dem Fenster springen. Diese Musik würde sich nur als Soundtrack für einen Selbstmord eignen.

Ein anderer, ein Musiker – nennen wir ihn den modernen Onkel Tom – stellte sich Ende der Achtziger hin und erklärte, alles nach Coltrane wäre eine Fehlentwicklung gewesen. Wer Klänge von sich geben würde, die denen von Coltrane und seiner Vorgänger ähnlich wären, würde den Jazz voran bringen. Sagte dies und übernahm die Programmgestaltung in einem grossen Kulturzentrum in einer der grössten Jazzstädte der Welt. Ergo wandten sich viele, die im Jazz erfolgreich sein wollte wieder rückwärts und versuchten zu klingen wie Coltrane. Diese Musiker nannte man Young Lions, und heute redet niemand mehr über sie. Die paar, die sich zum Lion mausern konnten, kann man an einer Hand abzählen.

Diese Musik wurde dann erst Mainstream genannt und heute Modern Jazz. Nur, Modern Jazz ist lediglich für einen kleinen Teil des Publikums modern. Leider für den Teil, der das Geld mit vollen Händen ausgibt, für den Teil, der keine Zeit hat, sich mit den Entwicklungen in der Musik zu beschäftigen. Das überlassen sie getrost anderen, wie diesem Journalisten oder unserem modernen Onkel Tom. Was die sagen, ist Gesetz.

Anfang des neuen Jahrtausends kamen die grossen Plattenfirmen dann in Bedrängnis. Die technische Entwicklung überrollte sie. Es schien, lediglich der Jazz und die klassische Musik wären nicht betroffen. Also wandte sich diese Firmen dieser Musik zu und nahmen das Heft fest in ihre Hand. Nur: Die Verantwortlichen in diesen Firmen wussten noch weniger über Musik, und definierten diese für sich neu. Heutzutage kann man sich fast sicher sein, wenn auf einem Produkt das Label Jazz steht, dass meist kein Jazz drin ist. Diese Leute mit dem vielen Geld und wenig Zeit denken darüber nicht nach. Nein, sie sind froh, dass es andere für sie tun und kaufen bereitwillig alles mit dem Namen Jazz drauf und sie fühlen sich als etwas Besseres als der Rest der Menschheit. So werden sie zu Gefolgsleuten der Jazzpolizei.

Die grossen Plattenfirmen tun ihr Übriges dazu: Sie bezahlen die armen Journalisten dafür, ihre Definition von Jazz herauszuposaunen. Den Clubs bleibt kaum etwas Anderes übrig, als in diesen Tenor mit einzustimmen. So wurde aus dem Jazz immer mehr ein neuer Trend in der Pop-Kultur, der herzlich wenig mit dem zu tun hat, was der Jazz bis in die Sechziger hinein einmal war: Eine Musik, die immer wieder neue Impulse für die Musik der Neuen Welt gab – wie die ernste Musik es in der Alten Welt tat. Die grossen Plattenfirmen haben im Grunde nur das getan, was ein Jahrhundert früher die grossen Kolonialmächte taten: Sie haben sich einer Kultur angenommen, die nicht die ihrige war und haben sie nach ihren Wünschen umgestaltet. So umfassend, dass sich die Musiker, die heute in der ursprünglichen Jazztradition stehen, schämen, sich Jazzmusiker zu nennen. Heute bevorzugen viele dieser Musiker Bezeichnungen wie Improvisers oder gar zeitgenössische Musik, manch einer sagt auch Sogenannter Jazz.

Im aktuellem Jazz darf schon lange nicht mehr improvisiert werden. Dann würden die Stücke bei jedem Konzert anders klingen. Das kann man dem eingefangenem Publikum nicht antun. Dieses würden sich sofort wieder abwenden. Obendrein traut man den Afro-Amerikaner immer noch nicht über den Weg, also hat man den eigenen Leuten, den Weissen, die Aufgabe übertragen, den ‚Jazz‘ voranzubringen. Mit denen kommt man besser klar, und die revoltieren nicht so schnell. Die folgen den Anweisungen des Geldes und nehmen nicht Worte wie Rassismus und Ausbeutung in den Mund. Weisse können besser mit dem Geld umgehen und lassen sich ganz schnell abrichten...

Aber was ist denn nun Jazz? Das wissen wir immer noch nicht. Wir wissen nur, dass Jazz heute etwas anderes ist als vor dreissig, vierzig oder fünfzig Jahren. Aber das soll ja so sein. Der Jazz in den Fünfzigern des letzten Jahrhunderts war komplett anders als der Jazz in den Zwanzigern des selben Jahrhunderts.

Jede musikalische Ausdrucksform entwickelt sich. Jede musikalische Kultur kommt irgendwann an den Punkt, an dem sich die Musik aufspaltet in Alltagsmusik, rituelle und die sogenannten Ernste Musik. Dies passierte ebenfalls mit der afro-amerikanischen Musik. Dort entstanden zuerst eine Art Alltagsmusik mit den Work Songs und dem Blues. Sehr schnell passten die Afro-Amerikaner ihre rituelle Musik an die neue Religion an, der Gospel entstand, und mit der Abschaffung der Sklaverei entstand das Bedürfnis nach einer anspruchsvolleren Musik, einer Ernsten Musik – dem, was wir heute Jazz nennen. Da sie weiterhin unter Rassismus und Ausgrenzung litten, nutzten sie die Musik – wie schon in ihrer Urheimat in Afrika – auch als Kommunikationsmittel. Durch sie waren sie in der Lage, sich gegenseitig auszutauschen, ohne dass der weisse Mann verstand. Nicht nur tagespolitisch, auch über durchaus alltägliche Dinge. Dies ist bis heute eine Aufgabe des Jazz in ihren Communities. Später entwickelten sich weitere Stilarten, meist für den Alltagsgebrauch, aus Vermischungen dieser drei Stile: Minstrels, Soul, Hip Hop, Funk etc..

 

Auf jeden Fall war der Jazz anfänglich eine afro-amerikanische Musik. Da die Leute im US-Musikbusiness vor allem Weisse waren, blieb der Jazz lange Zeit ein rein afro-amerikanisches Phänomen. Erst mit dem Swing setzten sich ebenfalls weisse Interpreten im Jazz durch, was – wie oben erwähnt – den Leuten im Business mehr entgegen kam. Durch die Bevorzugung der weissen Interpreten konnten diese viel schneller Erfolge feiern – und ab den siebziger Jahren überwogen die weissen Musiker und der afrikanische Anteil an dieser ursprünglich afro-amerikanischen Musik verschwand immer mehr. Heute ist er kaum nachweisbar. Lediglich eine handvoll afro-amerikanischer Musiker hält an diesen Elementen fest. Jedoch die Masse der Musiker aller Hautfarben orientiert sich mehr an dem vorwiegend weissen Publikum und konzentriert sich auf die amerikanischen, sprich europäischen Elemente. Diese versteht das Publikum eh besser. Polyrhythmik, Swing oder gar Groove bringt dieses durcheinander.

Man kann überall auf der Welt in ein Jazzkonzert gehen, das Publikum wird immer hauptsächlich aus Weissen oder Japanern bestehen – selbst in Schwarzafrika kommt vor allem die weisse Oberschicht (jedoch der schwarze Anteil ist deutlich höher als anderswo). Die Weissen sind überall in der Überzahl – und da ist es viel einträglicher, sich deren Geschmack anzupassen. Es ist schon erstaunlich, wie sich eine afro-amerikanische Musik ab einem bestimmten Zeitpunkt weltweit durchsetzen kann weitgehend unter Ausschluss der afro-amerikanischen Bevölkerung. Keine andere Musik hat so etwas geschafft, glaube ich... Liegt dies am vorwiegend weissen Musikbusiness, durch welches der Jazz in seiner Entwicklung in eine bestimmte Richtung gedrängt wurde – oder an anderen Dingen? Keine Ahnung.

Als ich anfing, zu Jazzkonzerten zu gehen, überwog bereits das weisse Publikum. Für uns war es damals etwas völlig Neues, etwas Provozierendes. Unsere Eltern wollten mit dieser ‚Nigger Musik‘ nichts zu tun haben. Genau dies machte Jazz für uns so interessant. Kurze Zeit später gab es in unseren Kreisen Musiker, die anfingen Jazz zu spielen und gleichzeitig mit dieser Ausdrucksform die gesellschaftlichen Zustände kritisierten. Unsere Eltern begriffen gar nichts. Im (damals) modernen Jazz gab es keine Gesang mehr, keine Texte. Es war für diese ein grosses Durcheinander, völlig ohne jeden Bezug und Zusammenhang. Sie begriffen die musikalischen Ausdrucksmittel nicht. In ihrer Jugend hatte man es versäumt, ihnen diese zu vermitteln. Für sie war es l‘art pour l’art, Kunst der Kunst wegen, brotlos also. Jeder konnte es sehen, Jazzmusiker verdiente kaum die Butter auf’s Brot...

Und immer noch wissen wir nicht, was Jazz eigentlich ist. Wir könnten uns seine Stilmittel ansehen. Jazz sollte swingen. Jazz ist improvisierte Musik. Jazz ist polyrythmisch. Jazz wird durch die spielerische Individualität der einzelnen Interpreten geprägt. Jazz ist eine afro-amerikanische Ausdrucksform. Doch gibt es heutzutage Jazzformen, die keines dieser Elemente enthalten und dennoch vom Business als neueste Entwicklung im Jazz hingestellt werden.

Man betrachte einmal den sogenannten Smooth Jazz. Da gibt es keinerlei afrikanische Elemente mehr, er swingt nicht, es wird nicht improvisiert, alle Musiker klingen gleich, und polyrhythmisch ist er erst recht nicht. Dennoch wird behauptet, es wäre zeitgenössischer Jazz. Vor dreissig, vierzig Jahren hätte man das als Schlager, oder gar Fahrstuhlmusik bezeichnet - oder englisch Easy Listening. Heute würde selbst Udo Jürgens als Smooth Jazz durchgehen. Oder Doris Day. Aber die Jazzpolizei hält Smooth Jazz für genial. Genial ist das schon, ein genialer Promo-Trick.

Die Mittelschicht, die immer etwas besseres sein will, hat Smooth Jazz komplett vereinnahmt und die Plattenfirmen haben ihre modernen Schlagersternchen einfach in Jazzmusiker umdefiniert. So einfach geht das, wenn man Umsatzausfälle in der Popmusik durch Anspruchsvolleres auffangen muss. Man benennt einfach die Schubladen um und schon gewinnt man Fans, wo vorher keine waren. Obendrein haben die das Geld und sind zu faul, Vorgaben zu überprüfen. Eigentlich standen die eh auf Schlager, wollten es nur nicht zugeben, und da ist die Industrie ihnen halt auf halben Wege entgegen gekommen.

 

In ihren Reihen sitzen die Hi-Fi Freaks, die sich keine MP3’s antun. Diese Leute kaufen noch CD’s, ja sogar Vinyl. Ihre teuren Superanlagen brauchen Futter. Free Jazz ist denen zu anstrengend, auch die zeitgenössische Musik. Jedoch Jazz hat den Ruf, eine Musik für Anspruchsvolle zu sein. Das ist, was diese Leute sein wollen, als anspruchsvoll gelten. Man hört wieder Jazz. Selbst wenn dieser Jazz nichts mit dem zu tun hat, was ihm das Label ‚anspruchsvoll‘ eingebracht hat. Doch da alle um sie herum genauso denken, fällt keinem auf, wie sie durch das Business im wahrsten Sinne des Wortes für blöd verkauft und eigentlich regelrecht abgezockt werden. Das würde keiner von denen zugeben. Wäre wahrscheinlich zu peinlich.

Die Schreiberlinge dürfen das ebenfalls nicht zugeben, dass man sie mit Almosen leicht kaufen konnte. Sie sind den Brotkrumen auf diesem Weg gefolgt, immer auf der Jagd nach dem letzten Schrei. Auch wenn es sich am Ende als das Gejammer einer Schnulzensängerin herausstellt – zugeben würde das niemand von ihnen. Vielleicht ist dies am Ende doch Jazz und alles vorher war keiner.

Wer hört denn heute noch Armstrong, oder Jelly Roll Morton? Jazz ist halt alles, was woanders auch reinpassen würde. Oder etwas, was woanders nicht reinpasst. Eigentlich ist Jazz nur ein anderer Begriff für Musik. Nur zugeben möchte wir das nicht. Weil dann wäre man furchtbar normal – eigentlich hört jeder Musik, und nur die Besseren hören Jazz.

 

Was also ist Jazz? Was ist Musik? Ich glaube, wir werden bis ans Ende unserer Tage darüber miteinander streiten und nie eine Einigung finden. Musik ist Gefühlssache und somit subjektiv. Jeder sieht etwas Anderes darin und doch können wir sie gemeinsam geniessen. Sie reguliert unseren Tag, ist manchmal gar Ritual. Sie kann so vieles, und wird dennoch individuell erlebt.

Das ist das Schöne an Musik. Lassen wir sie hochleben – jeden Tag, jede Stunde, jeden Augenblick!

Impressum

Texte: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Cover: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Lektorat: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Tag der Veröffentlichung: 07.02.2018

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