Tom Spilman war schon eine Weile auf der Interstate 90 unterwegs. Er hatte noch viel Zeit, sehr viel Zeit. Er war sehr früh in Amherst losgefahren, obwohl er erst gegen Abend in Boston sein musste. Er wollte diese Chance nutzen, um mal wieder an der alten Farm seiner Eltern in der Nähe von Auburn vorbeizufahren. Vor etwa zehn Jahren hatten sie diese verkauft, um sein Harvard Studium zu finanzieren. Seitdem wohnten sie in Worcester. Vielleicht blieb sogar noch Zeit, um mal wieder bei ihnen reinzuschauen. Doch vorher wollte er zur Farm raus. Dort hatte alles angefangen, im Sommer 2006.
Nachdem er seine Fahrprüfung bestanden hatte, durfte er mit Pete, seinem besten – und älteren – Freund einen Ausflug im Auto ohne die Eltern machen. Alles war gut gegangen, ohne Unfall und so, wie es seine Mutter befürchtet hatte. In Worcester waren sie zur Feier des Tages in einen der Clubs gegangen. Dort hatten sie die anderen Drei kennengelernt. Alle waren sie auf einer Wellenlänge, musikalisch. Da jeder von ihnen sich einbildete, ein Instrument zu beherrschen, planten sie bereits an diesem Abend ihre grosse Karriere.
Nicht einmal zwei Wochen später trafen sie sich auf der Farm, um sich auszuprobieren. Sein Vater hatte etwas Platz in seiner Werkstatt freigeräumt, damit sie die Verstärker und Instrumente aufbauen konnten. Es wohnte im Umkreis von zwei Meilen niemand, sie durften so laut sein, wie sie nur wollten. Sie drehten damals ziemlich schnell leiser, so klang es eher nach Musik, was sie da fabrizierten. Von da ab trafen sie sich dreimal die Woche, um ihren Stil zu entwickeln. Danach ging es verdammt schnell. Drei Monate später hatten sie ihren ersten Auftritt in Worcester, in dem Club, in dem sie sich kennengelernt hatten. Das Publikum tobte, vor allem bei den zwei Song, die er komponiert hatte, zu Texten von Pete. Der Klubeigner bot ihnen an, sie zu managen, wenn sie weiterhin alle zwei Wochen bei ihm auftraten. Das war Deal.
In ihrem Proberaum nahmen sie schnell ein Demo mit diesen zwei Songs auf. Nach wenigen Tagen meldete sich ihr Manager und teilte ihnen mit, er hätte schon je einen Auftritt in Boston und Amherst. Ganz nebenbei schlug er einen neuen Bandnamen vor: Guns in Ruh. Den fanden sie alle toll. Auch die Veranstalter in New England. Sie hatten kaum noch Zeit für die Schule, waren entweder am Proben oder unterwegs zum nächsten Konzert. Schnell konnten sie sich einen kleinen Bus leisten, um von Club zu Club zu fahren. Das machte sie unabhängiger von ihren Eltern. Die Werkstatt seines Vaters bauten sie zu einem kleinen Studio um und nahmen dort ihre erste CD auf, die sie noch in Eigenregie unter die Leute brachten. Sie konnten die nicht so schnell nachpressen lassen, wie sie sie bei den Konzerten loswurden. Und seine Mutter hoffte immer noch, dass dies lediglich ein Strohfeuer blieb.
Er war in Harvard zu einem Jura-Studium angenommen worden, und sie glaubte an eine grosse Zukunft als Anwalt. Doch nur eins war möglich: Studium oder die Band. Nach einem harten inneren Kampf entschied er sich für das Studium. Am selben Tag, an dem er seinen Ausstieg den Anderen mitteilen wollte, bekamen sie ein offizielles Angebot von einem der Majors. Er rang nur kurz mit sich, und blieb bei seiner Entscheidung. Seine Eltern erlaubten seinen nun ehemaligen Band-Kollegen weiter auf ihrer Farm zu üben – bis sie einen anderen Proberaum fanden.
Doch das erhoffte Strohfeuer seiner Mutter entwickelte sich zu einem grossen Steppenbrand. Nach dem Guns in Ruh ihre erste Major-CD draussen hatten, stiegen sie landesweit in alle Charts ein und nur Augenblicke später führten sie diese an. Nun folgten Auftritte auf allen grossen Festivals, meist als Headliners. Die Band zog es im Sommer danach bereits nach New York, wo sie immer noch residieren. Sie hatten es geschafft. Und er zog nach Boston, um sein Studium zu beginnen.
Sie blieben jedoch bis heute in Kontakt, und immer wenn sie in der Nähe auftraten, zogen sie gemeinsam um die Häuser. Bis heute haben sie ihn nicht ersetzt, und immer mal wieder fragten sie an, ob er denn keine Lust verspüren, wieder mitzumachen. Doch er hatte immer abgelehnt. Nachdem seine Eltern die Farm verkauft hatten, fühlte er sich ihnen näher als seinen alten Kumpels. Er wollte sie nicht enttäuschen und wurde Patentanwalt. Heute hatte er seine eigene Kanzlei in Amherst und arbeitete unter anderem für die UMASS. Sicher, er verdiente nur einen Bruchteil dessen, was er als Rockmusiker verdienen würde. Manchmal vermisste er auch die Möglichkeiten eines Rockstardaseins. Aber er war durchaus zufrieden. Er hatte geheiratet und zwei Kinder warteten jeden Abend auf ihn. Seine Kumpels waren alle noch Singles, sie waren eh ständig auf Tour.
Nun war er wieder unterwegs zu einem Treffen mit ihnen in Boston. Morgen sollten sie im Fenway Park auftreten. Er freute sich tierisch drauf, sie wieder zusehen. Er machte sein Autoradio an und schon dröhnte ihm einer ihrer Songs entgegen. Es war einer ihrer neueren Hits. Doch dann wurde der Songs abrupt unterbrochen. Ein Nachrichtensprecher hatte eine Breaking News zu verlesen. Sofort blieb er stehen. Das Auto hinter ihm musste ausweichen. Was er hörte schockierte ihn. Guns in Ruh war auf dem Weg nach Boston mit ihrem Hubschrauber kurz nach dem Start verunglückt. Niemand hatte den Absturz überlebt. Nicht weit vor ihm sah er die alte Werkstatt seines Vaters, und sein Handy klingelte. Tränen rannen ihm übers Gesicht. Alles hatte genau hier angefangen, und nun war es so schockierend zu Ende gegangen. Ein Streifenwagen hielt hinter ihm, und einer der Polizisten stieg aus. Er fuhr sofort wieder los, ohne Ziel und mit verschwommenem Blick. Er konnte nicht aufhören zu weinen, und im Radio lief sein erster Song – noch mit ihm an den Keyboards. Er ging an sein Handy: ‚Hier ist der Rolling Stone...‘ Weiter kamen die nicht. Er schaltete das Handy aus und warf es voller Wut aus dem Fenster...
Texte: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Bildmaterialien: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Cover: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Lektorat: 2018, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Tag der Veröffentlichung: 27.01.2018
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