Huby Duby sass im ältesten Teil des Tokker-Archives und blätterte in alten Schriften, die keiner mehr lesen konnte. Geschweige denn verstand. Auch er nicht. Niemand konnte diese Symbole interpretieren. Es war lediglich bekannt, dass sie, die Tokker, vor mehreren Zehntausend Jahren von einem anderen Planeten nach Tethris umsiedelten. Weil auf ihrer ursprünglichen Heimat eine zweite denkende Spezies aufgetaucht war. Diese soll äusserst aggressiv aufgetreten sein. Die sogenannten ‚Alten‘ hatten Ähnliches bereits auf weiteren Welten erlebt und ihnen deshalb den Umzug vorgeschlagen. Doch bis sie sich endgültig zum Umzug entschlossen hatten, sollen noch einmal fast fünftausend Jahre vergangen sein. Wahrscheinlich hatten sie gehofft, dass diese neuen denkenden Wesen irgendwann einmal vernünftig werden würden. Hat wohl nicht funktioniert. So dass die Tokker am Ende doch diesen Planeten verliessen. Alle. Mit Sack und Pack...
Auf diesem, alten Planeten hatten sie angeblich eine eigene Schrift, die heute vergessen ist. Nach dem Umzug übernahmen sie die Sprache und die Technik der damaligen kosmischen Gemeinschaft, und machten einen erheblichen Entwicklungsschub. Sie hatten zum Beispiel bis zu dieser Zeit selbst keine eigene Raumfahrt entwickelt. Obwohl sie technisch dazu durchaus in der Lage gewesen wären. Sagt man heute...
In den folgenden paar Tausend Jahren waren die Tokker immer mal wieder zu ihrem Heimatplaneten geflogen, um nach dem Rechten zu sehen. Nur waren diese Anderen eher noch aggressiver gegenüber Fremden geworden. So dass sich die Tokker irgendwann entschlossen, von weiteren Besuchen abzusehen. Im Laufe der weiteren Jahrtausenden vergassen sie, welches ihre ursprüngliche Heimatwelt war. Die ‚alten‘ Zivilisationen verschwanden nach und nach aus ihrer Ecke der Galaxie und überliessen ihnen Teile ihres Wissens. Wo sich die Alten abgeblieben sind, niemand weiss es so richtig. Manche sagen, sie wären in eine andere Galaxie gezogen. Manche, sie wären aufgestiegen. Was immer dies heisst?
Vor gut hundert Jahren waren dann diese Menschen auf der Bildfläche erschienen. Die mit den Tokkern nicht nur genetisch kompatibel sind, sie sind sogar Verwandte. Inzwischen gilt es als wahrscheinlich, dass die Menschen diese aggressive Spezies von ihrer ursprünglichen Heimat sein könnten. Nur als fast sicher, der letzte Beweis fehlt noch. Heute sind sie nicht mehr aggressiv, eher sehr angenehme Partner in der galaktischen Gemeinschaft. Nicht so weit entwickelt wie die meisten der anderen Zivilisationen, aber auf einem guten Wege. Wenn die bloss nicht immer so verrückte Einfälle hätten, mit denen sie manchmal nicht nur ihr eigenes Überleben aufs Spiel setzten. Wie etwa diese Versuche, Kontakt zu den sogenannten alten Göttern herzustellen. Meinten sie die ‚Alten‘, die die Tokker damals umsiedelten? Auch die Tokker hatten vor langer Zeit versucht, einige nicht ungefährliche Ideen umzusetzen. Doch waren sie von den älteren Zivilisationen gewarnt worden. Sie wären noch nicht soweit, dass sie diese Risiken einschätzen könnten. Die Tokker hatten schnell gemerkt, wie recht diese Anderen hatten, und stellten ihre Versuche ein. Nun gab es wieder eine junge Zivilisation, die zu schnell zu weit vorpreschte. Komischerweise kam die vielleicht von ihrer alten Heimat. Lag das an der kurzen gemeinsamen Geschichte?
Vielleicht sollte Huby Duby einmal zur Erde fliegen und mit den Leuten reden, die an diesem Experiment teilgenommen hatten. Angeblich waren sie durch ihre gesamte irdische Geschichte gereist. Eventuell konnten sie ihm etwas über eine gemeinsame Zeit von Tokkern und Menschen erzählen. Beide Rassen hatten sich wahrscheinlich die Erde für mehrere Tausend Jahre geteilt. Sie mussten den damaligen Tokkern begegnet sein – falls sie von dort stammten. Vielleicht hatten sie dabei sogar gelernt, ihre alte Schrift zu lesen. Das wäre ein Ding. Mit einem Mal war Huby Duby richtig aufgekratzt. Immerhin ist er Historiker. Da ist es aufregend, wenn man eine Chance bekommt, alte Zusammenhänge zu verstehen oder etwas Altes wiederzuentdecken. Jetzt musste er zur Erde, zum Atlantis Institut und unbedingt herausfinden, ob diese Leute auf seine Vorfahren gestossen waren, was sie über diese erzählen konnten. Er war sicher, mit deren Hilfe liesse sich so manche Lücke in ihrer Geschichte füllen. Eventuell konnte er sogar herausfinden, was es mit dem einen oder anderen der alten Riten auf sich hatte. Es gab da mehrere, da wussten die Tokker nicht mehr so richtig, warum es diese eigentlich einmal gab. Nur dass diese Riten zum Teil noch von der alten Heimat stammten. Sicher, heute übte sie niemand mehr aus, aber sie tauchten in den alten Schriften auf. Man wusste davon. Warum es sie einmal gegeben hatte, was sie bedeuteten, davon hatte niemand einen blassen Schimmer. Meist nicht einmal eine Vermutung. Religionen gab es schon lange nicht mehr unter den Tokkern. Man war sich nicht einmal sicher, ob es diese noch gab, als sie ihre alte Welt verliessen. Früher, vor Zehntausenden von Jahren, glaubten die Tokker jedoch an Götter und so. Es hatte anfänglich geholfen, ihre Welt besser zu verstehen. Doch mit den Zeiten wurde die Religion zu einem Hindernis beim Erreichen von neuem Wissen. Deshalb hatten sich die Tokker von ihr losgesagt. Er wusste von anderen Zivilisationen, bei denen die Religion immer wieder zu Kriegen führte. Das war bei den Tokkern nie der Fall.
Huby Duby wusste, dass dies eine grosse Ausnahme im Universum war. Nur ganz wenige Zivilisationen konnten sich ohne Kriege entwickeln. Für die meisten waren die Kriege eher der Antrieb für ihren technischen und wissenschaftlichen Fortschritt. Er wusste jedoch auch, dass die Tokker vergleichsweise lange gebraucht hatten, um zum Beispiel eine Raumfahrt aufzubauen. Die Menschen hatten dafür nur einen Bruchteil der Zeit gebraucht, die die Tokker benötigt hatten. Nicht einmal hunderttausend Jahre von der Höhle aus ihrem System heraus. Manchen der Zivilisationen in der Nachbarschaft war das noch schneller gelungen. Offensichtlich waren Kriege gute Triebfedern, und Religionen. Was wie ein Widerspruch in sich klingt. Waren doch die meisten Religionen furchtbar konservativ angelegt. Deren Priester, Schamanen und wer weiss noch wollten immer beeindruckendere Tempel und Vorrichtungen, mit denen sie das gemeine Volk in ihren Bann ziehen konnten. Dafür mussten sie erlauben, dass sich die Baumeister, Handwerker und Steuereintreiber mit den wissenschaftlichen Grundlagen auseinandersetzten. Sie wollten im Normalfall immer die Vorherrschaft in ihrer Gegend haben. Dazu brauchten sie Waffen, um die anderen Religionen zu vertreiben. Meist sammelten sie ebenfalls die Steuern ein. Dafür war eine Lagerhaltung notwendig. So wurden sie zumindest für eine gewisse Zeit Förderer der Wissenschaften. Solange die Forscher Gott nicht in Frage stellten. Erst wenn dieser Punkt überschritten war, behinderten die Religionen weiteren Fortschritt, und die meisten Zivilisationen wendeten sich von ihnen ab. Sie stellte keinen Vorteil mehr dar.
Dies war im Augenblick weniger wichtig für Huby Duby. Sind das doch eher philosophische Gedanken, und er war Historiker. Über dieses Thema konnte er während seines Fluges nachdenken. Er machte schnell ein paar Kopien dieser uralten Schriften, die er den Leuten in Atlantis zeigen wollte, und buchte seinen Flug.
Bis zum Abflug war genügend Zeit, um seine sieben Sachen zusammenzupacken und sich etwas Schlaf zu genehmigen. Wie schön, dass dies heutzutage so schnell und einfach ging. Vor hundert Jahren hätte er bis zu einem Monat auf seinen Flug warten müssen. Die Reise hätte ihn weitere zwei, drei Wochen gekostet. Mit der heutigen Technik war er in wenigen Tagen auf der Erde – der wahrscheinlichen ursprünglichen Heimat seines Volkes. Es ist zwar nicht sein erster interstellarer Ausflug, so nervös war er jedoch bisher nie vor einer Reise. Er sollte sich vielleicht die bekannten Fakten über ihre alte Welt auf sein Pad laden. Damit er diese nicht erst dort raussuchen musste. Er sollte wissen, wo es historische Hinweise auf die Tokker gab. Z. B. wie hatten sie auf der Erde gelebt? Auch unterirdisch? Bisher hatte er sich, wie alle anderen Historiker, mehr mit der Zeit weit nach dem Umzug beschäftigt. Aus ihrer früheren Zeit war so gut wie nichts mehr bekannt – niemand hatte es bisher geschafft, die eigene Schrift aus ihrem Altertum zu entziffern. Er wagte sich auf inzwischen unbekanntes Terrain. Wer weiss, was seine Kollegen sagen werden? Bisher galt das Beschäftigen mit den Urzeiten des Volkes als Scharlatanerie. Selbst nach dem Kontakt zu den Menschen. Als man durchaus zur Erde reisen und Handfestes herausfinden konnte. Sicher waren der eine oder andere zur Erde geflogen, veröffentlicht hatte aber niemand seine Ergebnisse. Hatten die Menschen alle Spuren beseitigt? Die nannten sie ‚die Neandertaler‘, nach dem ersten Fundort ihrer Spuren. Man hatte sie zu ihren Vorfahren gezählt. Lange Zeit glaubten die Menschen sogar, dass sie keine eigene Kultur hatten und keine Sprache. Hinweise darauf hatten sie erst nach und nach herausgefunden, und sie konnten nachweisen, dass sich beide Rassen vermischt hatten. Ebenfalls die Menschen vermuteten, dass die Tokker eventuell die ehemaligen Neandertaler sein könnten. Ein richtiger Beweis ist bisher nicht gefunden worden, wahrscheinlich nicht einmal gesucht worden. Weder von Menschen noch von den Tokkern.
Die Menschen waren nie auf die Idee gekommen, dass die Neandertaler aka Tokker von der Erde geflohen sein könnten. Für die war dies viel zu abgefahren. Wie konnten Neandertaler die Erde verlassen, zu einer Zeit als der Faustkeil ihren technologischen Höchststand repräsentierte? Die Theorie galt selbst unter Tokkern als gewagt. Jetzt ergab sich für Huby Duby die Chance auf einen echten Beweis. Wahrscheinlich werden viele der Tokker laut aufschreien, wenn sie davon hören. Die Menschen galten zwar als nette Zeitgenossen, aber noch als ein wenig primitiv, verglichen mit ihnen. Mit einer primitiven Rasse wollte auf Thetris niemand verwandt sein. Selbst wenn es heute bereits wenige Paare von Tokkern und Menschen gab. Man ging mit der Zeit, gegen die Liebe war halt kein Kraut gefunden. Wie gesagt, die Menschen galten als nett. Warum also nicht die Erde besuchen? Und eventuell den fehlenden Mosaikstein finden? Huby Duby war Historiker geworden, weil er seine Geschichte verstehen will und falls es sein muss, diese berichtigen möchte...
(Diese Erzählung ist vorab dem eBook ‚Die Atlantis-Protokolle, Mappe 2‘ entnommen.)
Texte: 2017, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Cover: 2017, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Lektorat: 2017, Jimi Wunderlich, Die Wunderlich(e) Edition
Tag der Veröffentlichung: 04.12.2017
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