Cover

EINS

„Euer Ehren, ich bitte um die Zeugin Rosalia Gomez.“

Staatsanwalt Frank Blake blickt mit einem charmanten Lächeln zu Richterin Samantha Fitzpatrick, eine dunkelhäutige, etwas füllige Endvierzigerin in schwarzer Robe, während er das sagt.

„Die Zeugin Rosalia Gomez bitte“, ruft sie nun dem Beamten zu, der an der Tür steht. Dieser öffnet die Tür und ruft dasselbe noch einmal auf den Gang hinaus.

Eine kleine Frau, Mitte Fünfzig, in typisch mexikanischer Kleidung, betritt den Saal und nimmt auf dem Zeugenstuhl Platz.

Blake erhebt sich, bleibt aber auf seinem Platz.

„Miss Gomez, Sie können also mit großer Sicherheit bezeugen, dass Sie an jenem Tag den Mann erkannt haben, als dieser das Haus des Opfers verlassen hat.“

Miss Gomez nickt. „Ja, das kann ich“, sagt sie in voller Überzeugung.

„Ist dieser Mann hier anwesend?“, fragt Blake.

Rosalia Gomez blickt sich um und zeigt auf Colin Barkley, der neben seinem Verteidiger George Hurth sitzt, oder genauer gesagt, mehr liegt und gelangweilt auf einem Zahnstocher kauend, das Treiben im Gerichtssaal verfolgt.

„Mr. Hurth, machen Sie Ihren Mandanten darauf aufmerksam, dass er sich hier in einem Gerichtssaal befindet, ansonsten verweise ich ihn wegen Missachtung des Gerichtes des Saales.“ Samantha Fitzpatrick ist sehr erzürnt, über das Benehmen Colin Barkleys.

George wirft nur einen giftigen Blick auf Colin, der endlich aus seiner fast waagerechten Lage in eine sitzende Haltung übergegangen ist, den Kopf nach unten gesenkt, aber immer noch auf seinem Zahnstocher herumkauend. Dabei fällt George ein dunkelbraunes kreisrundes Muttermal auf Colins Nacken auf, dem George aber keine große Bedeutung weiter beimisst.

Staatsanwalt Walter Blake ist zufrieden. Lächelnd sagt er: „Euer Ehren. Die Zeugin Rosalia Gomez hat eindeutig den hier anwesenden Angeklagten erkannt, als er das Haus verließ. Ich habe keine weiteren Fragen.“

Blake setzt sich wieder.

„Mr. Hurth, haben Sie noch Fragen an die Zeugin?“, fragt die Richterin und blickt zu Hurth hinüber.

George Hurth, Strafverteidiger im besten Alter von achtundvierzig Jahren, kommt mit einem kleinen Ordner unter dem Arm hinter der niedrigen Absperrung hervor und läuft langsam den schmalen Gang zwischen der Richterin und der Zeugin auf und ab. Aus einer Folie bricht er eine Tablette und schluckt sie gleich ohne Wasser hinunter.

„Nervöses Magenleiden“, sagt er nur, die Richterin dabei ansehend. Sie quittiert dies mit einem gelangweilten Kopfnicken.

Er bleibt vor Rosalia stehen. „Miss Gomez,“ beginnt er, „Sie haben am letzten Verhandlungstag dem Gericht mitgeteilt, dass Sie in der Nacht, als Victoria Burns diesem schrecklichen Verbrechen zum Opfer fiel, für eine Zigarette vor die Tür gegangen sind und dabei meinen Mandanten aus genau diesem Haus haben kommen sehen.“

Rosalia nickt und sieht dabei George an.

Victoria Burns war eine junge hübsche Frau von 27 Jahren. Ihr Vergewaltiger und Mörder hat sie nach der Tat mit gefalteten Händen auf der Brust auf das Bett gelegt. Man hätte den Eindruck haben können, sie schläft, wenn nicht der lange Schnitt an ihrem Hals zu sehen wäre.

„Die Überwachungskamera, die über der Haustür angebracht ist, zeigt einen Mann, der mit Baseballkappe und gesenktem Kopf auf das Haus zugeht und den selben Mann von hinten, wieder mit gesenktem Kopf, wie er das Haus verlässt. Diese Aufnahmen brachten also nichts. Ihre Tür ist etwa 66 Yard von der Tür des Hauses entfernt und es war dunkel“, fährt George fort.

„Aber ich sagte doch schon, dass das Licht über der Haustür anging. Der Mann schaute sich ganz erschrocken um. Darum konnte ich ihn auch gut erkennen.“ Rosalia weiß nicht, was das alles soll, da sie das ja schon erzählt hat.

„Leider ist auf der Aufnahme sein Gesicht nicht zu sehen. Er hebt nur kurz den Kopf und senkt ihn auch gleich wieder und geht weiter“, sagt George, öffnet den kleinen Ordner und zieht nun ein Schriftstück heraus.

„Ich habe hier ein Schreiben, welches belegt, dass Sie eine Woche vorher eine ambulante Augenoperation hatten und im Zuge dessen eine neue Brille bekommen. Könne Sie uns diese Brille zeigen?“

Rosalia schüttelt mit dem Kopf. „Die ist noch nicht fertig“, sagt sie nur.

Über Georges Gesicht huscht ein unmerkliches Lächeln und auch Colin kann sich ein Grinsen mit Zahnstocher im Mund nicht verkneifen.

Staatsanwalt Frank Blake schaut dagegen weniger erfreut zu Rosalia.

„Sie wollen also weiterhin behaupten, dass Sie trotz Augenoperation und fehlender Brille eindeutig meinen Mandanten als den Mann erkannt haben, der das Haus verlassen hat? Und das in 66 Yard Entfernung?“ George schaut auf Rosalia herab, die mit gesenktem Kopf auf ihrem Stuhl sitzt.

„Sie waren sich damals zu fünfundneunzig Prozent sicher,“, fährt George fort, „wie hoch würden Sie heute Ihre Sicherheit einschätzen?“

Rosalia sagt nichts.

„Ich würde sie bei dreißig Prozent ansiedeln. Ist es nicht so?“, antwortet George für Rosalia.

„Einspruch! Der Verteidiger versucht der Zeugin seine Mutmaßung aufzuzwingen“, kommt es vom Staatsanwalt.

„Stattgegeben. Die Geschworenen streichen diese Prozentangabe aus ihrem Gedächtnis.“ Richterin Fitzpatrick blickt dabei nicht einmal auf, als sie das sagt und fordert George mit einer Handbewegung auf, weiter zu reden.

Nach einer weiteren Stunde der Verhandlung ordnet Richterin Fitzpatrick eine Pause an, damit sich Staatsanwaltschaft und Verteidigung auf ihre Plädoyers vorbereiten können.

Nach der Pause beginnt Staatsanwalt Blake mit seinem Plädoyer und betritt nun den Gang.

„Sehr verehrte Damen und Herren Geschworene! Diese Zeugin hat diesen Mann eindeutig als den erkannt, der in der Mordnacht das Haus verließ.“ Blake zeigt mit dem Arm auf Colin, der für einen Moment vergisst, auf seinem Zahnstocher herumzukauen.

„Sie war sich zu fünfundneunzig Prozent sicher und kein Zeuge, der nicht in einem Gerichtssaal zu Hause ist, hält solch eine Befragung, wie sie der Herr Verteidiger durchgeführt hat, stand. Ich glaube ihr auch weiterhin. Wollen Sie wirklich, meine Damen und Herren Geschworenen, dass dieser Mann auf freien Fuß kommt und irgendwann den nächsten Mord begeht?“ Blake zeigt dabei wieder auf Colin Barkley.

„Lassen Sie das nicht zu, meine Damen und Herren.“ Blake hat sein Plädoyer beendet und setzt sich wieder auf seinen Platz.

Nun ist George Hurth an der Reihe sein Plädoyer zu halten.

„Hohes Gericht, Werte Geschworene! Es geht hier und heute nicht um einen Handtaschendiebstahl, sondern um Mord. Einen Mord, den wir alle verabscheuen. Für meinen Mandanten geht es um Freispruch oder Todesstrafe. Man bringt den Mord in direktem Zusammenhang mit dem Tod der Mutter meines Mandanten, die sich vor dreißig Jahren das Leben nahm. Nach dreißig Jahren kommt mein Mandant auf die Idee zu morden und das Opfer so zu platzieren, wie er, leider Gottes, seine Mutter damals vorfand. Glauben Sie das wirklich, meine Damen und Herren Geschworenen?“

George fügt eine kurze Pause ein und blickt dabei die Geschworenen an, dann fährt er fort: „Kann es nicht so sein, dass das Opfer rein zufällig vom Täter in diese Position gebracht wurde? Oder das ein Nachahmungstäter am Werk war? Wenn mein Mandant der Täter wäre, und das Erlebte in ihm etwas ausgelöst hätte, dann hätte er nicht dreißig Jahre bis zu seinem ersten Mord gewartet.“

George macht wieder eine kurze Pause. Dann spricht er weiter.

„Und kann man einer Zeugin glauben, auch wenn sie in bester Absicht bei der Aufklärung eines Mordes mit helfen will, die gerade eine Augenoperation hinter sich hat und noch nicht einmal über ihre Brille verfügt? Darf diese Zeugin das Zünglein an der Waage sein, welches über Leben oder Tod entscheidet?“ George schaut wieder eindringlich auf die Geschworenen.

„Ich erwarte, dass Sie, meine Damen und Herren Geschworenen, diese Aspekte bei ihrer Urteilsfindung berücksichtigen“, fügt er nach einer weiteren kurzen, wohlüberlegten Pause hinzu, geht wieder hinter die niedrige Absperrung und setzt sich auf seinen Platz. Colin grinst und kaut weiter auf seinem Zahnstocher herum.

„Angeklagter, Ihnen steht das letzte Wort zu. Haben Sie noch etwas zu sagen?“, fragt die Richterin.

Colin nimmt schnell den Zahnstocher aus dem Mund und erhebt sich. Aber er schüttelt nur mit dem Kopf.

Samantha Fitzpatrick schlägt zweimal mit einem kleinen Hammer auf den Tisch und sagt: „Ich unterbreche die Verhandlung für eine Stunde. Die Geschworenen möchten sich zu einer Urteilsfindung zusammensetzen.“

Der Saal leert sich.

Colin bleibt auf seinem Platz sitzen, bewacht von zwei Beamten, während George vor die Tür geht.

 

Colin Barkley, vor dreiundvierzig Jahren hier in Grass Valley, in Kalifornien, geboren, hätte ein sorgenfreies Leben führen können, wenn nicht dieses besonders tragische, einschneidende Erlebnis gewesen wäre.

Mit seinem Zwillingsbruder Steven, der Mutter und Vater William, bewohnten sie ein geräumiges Haus in dem auch die vermögende Großmutter väterlicherseits mit wohnte.

Bis zu dem Tag, als vor dreißig Jahren William mit Steven in die Stadt fuhr. Colin wollte nicht mit und blieb bei Mutter und Großmutter im Haus. Als William und Steven wieder zurückkamen, fanden sie die Mutter tot im Bett vor und Colin völlig verstört. Die Großmutter saß schlafend in ihrem Sessel. Die Ärzte stellten Selbstmord fest.

Für William war das Grund genug, diesem Haus den Rücken zu kehren und er zog mit Steven allein in einen anderen Bundesstaat, denn Colin war trotz seiner erst dreizehn Lebensjahre nicht dazu zu bewegen, den Ort zu verlassen.

William war darüber nicht unglücklich, dass er nur mit Steven wegzog. Die beiden waren alles andere, als eineiige Zwillinge in ihrem Verhalten und keiner hat den jeweils anderen vermisst.

Die Großmutter übernahm gern die Erziehung Colins, mit der sie für ihre Unaufmerksamkeit etwas an Schuld abbauen wollte. Trotz ihrer Bemühungen, Colin blieb ein schwieriger Junge.

Vor fünf Jahren ist die Großmutter verstorben und selbst für die Spezialisten zur Suche nach Erben, war William und Steven unauffindbar, so dass das gesamte Erbe Colin zufiel.

*

Nach einer Stunde ist der Saal wieder bis auf den letzten Platz gefüllt.

„Zu welchem Urteil sind die Geschworenen gekommen?“, fragt die Richterin.

Einer der Geschworenen erhebt sich, mit einem Zettel in der Hand.

„Hohes Gericht. Wir Geschworenen sind zu dem einstimmigen Urteil gekommen, nicht schuldig.“

Ein lautes Raunen geht durch den Saal.

„Ja!! Ja!!“, ruft Colin laut und schlägt seine rechte Faust zweimal in seine linke Handfläche.

Samantha schlägt ihrerseits zweimal mit ihrem Hammer auf den Tisch. „Ruhe im Saal!“, ruft sie. „Die Geschworenen haben ihr Urteil gefällt. Der Angeklagte ist aus Mangel an Beweisen freigesprochen. Die Verhandlung ist beendet.“ Sie klopft noch zweimal mit dem Hammer auf den Tisch und erhebt sich.

George packt seine Unterlagen ein und ohne auf Colin zu sehen sagt er: „In einer halben Stunde in meinem Büro.“ Dann geht er.

Colin sitzt noch einen Moment auf seinem Platz und scheint über etwas angestrengt nachzudenken, während er weiter auf seinem Zahnstocher kaut. Nun hat ihn die Wirklichkeit wieder und auch er steht auf und geht.

Vor der Tür schlägt ihm angenehm warme Luft entgegen, im Gegensatz zu den schon fast kühlen Temperaturen im klimatisierten Gebäude.

Ein paar unerschrockene Reporter haben wohl noch auf Colin gewartet und halten ihm ihre Mikrophone unter die Nase.

„Mr. Colin, was werden Sie nun tun?“, stellt einer der Reporter seine Frage.

Colin sieht ihn nur kurz an. „Ich werde so weiterleben wie bisher, oder was dachten Sie? Ich hoffe, man akzeptiert in der Stadt den Freispruch“, antwortet Colin und läuft nun schneller, so dass die Reporter Mühe haben, mit ihrer Technik um den Hals, Colin zu folgen. Nur einem gelingt dies und er kann, nun schon schwer atmend, noch die Frage stellen: „Kennen Sie vielleicht den wahren Mörder?“

Colin tippt nur mit dem Zeigefinger an die Schläfe und lässt ihn zurück.

Es ist einer dieser wunderschönen Frühlingstage in Grass Valley und nichts deutet darauf hin, dass gerade ein Mord in dieser Stadt ungesühnt bleiben muss.

ZWEI

Das Taxi hält vor Georges Büro. Colin wäre lieber erst zu seinem Haus gefahren. Nach mehreren Monaten Untersuchungshaft gibt es sicher einiges zu tun im Haus, auch wenn eine Haushaltshilfe ihm vieles an Arbeit abnimmt. An mexikanischen Einwanderern mangelt es auch in Grass Valley nicht.

Colin bezahlt und steigt aus. Die Sekretärin hat ihn schon erwartet und bittet ihn in das Büro von George zu gehen.

Eine hochmodern eingerichtete Kanzlei, die darauf schließen lässt, dass hier nur Fälle übernommen werden, deren Klienten auch den verlangten Preis bezahlen können. Große Fenster, durch die man ohne weiteres von draußen hineinblicken kann, vermitteln den Eindruck, dass es in diesen Räumen keine Geheimnisse gibt.

In den beiden oberen Etagen hat George seine Wohnung, in der er seit seiner Scheidung allein lebt. Seine mittlerweile dreiundzwanzigjährige Tochter Verena hat eine eigene kleine Wohnung, etwa zehn Autominuten von George entfernt.

Nach einem kurzen Anklopfen tritt Colin ein. George stellt ein Glas Wasser wieder auf dem Schreibtisch ab und schiebt das Schubfach zu, dann bittet er Colin Platz zu nehmen.

George sieht Colin ein paar Sekunden an, dann sagt er: „Meinen Glückwunsch, Mr. Barkley. Sie sind wieder ein freier Mann. Ich hoffe, Sie haben wirklich nichts mit dem Mord zu tun. Sie wissen, dass Sie Ihrem Anwalt der Wahrheit verpflichtet sind. Meine Pflicht ist es dann, das Beste aus der Sache zu machen.“ George sieht Colin an und wartet, was er darauf zu antworten hat.

Colin zieht es erst einmal vor, nicht auf seinem Zahnstocher herumzukauen, den er sich gerade wieder in den Mund geschoben hat.

„Eigentlich müsste ich doch Sie beglückwünschen, Mr. Hurth. Sie haben einen Prozess gewonnen. Das ist es doch, was in Ihrer Branche zählt. Ob Ihr Mandant schuldig ist oder nicht, interessiert Sie doch erst in zweiter Linie.“

Colin grinst George an und lässt seinen Zahnstocher im Munde kreisen.

George ist wenig begeistert, über diese Art von Unhöflichkeit.

„Aber zu Ihrer Beruhigung, ich habe mit dem Mord nichts zu tun“, fügt Colin noch mit einem Gesichtsausdruck hinzu, der sagen möchte, glaub' es oder glaub' es nicht.

Am liebsten hätte George ihn hochkantig hinaus geworfen, aber so reichlich sind seine Aufträge in letzter Zeit nicht gesät und vielleicht ist die Geldquelle Colin Barkley auch noch nicht erschöpft, denkt George.

„Wen sollte die Frau gesehen haben, wenn nicht Sie?“, fragt er nun.

„Aus dieser Entfernung kann es jeder mit meiner Statur gewesen sein. Mich hat sie auf jeden Fall nicht gesehen.“

George nimmt noch einen Schluck Wasser und sagt: „Gut, Mr. Barkley. Ich muss es wohl glauben und erwarte, dass es ruhig in Grass Valley bleibt, obwohl ich es mir fast nicht vorstellen kann. Ich wünsche Ihnen alles Gute und hoffe, dass wir uns nicht wieder begegnen müssen.“

George steht auf und reicht Colin die Hand. Auch Colin steht auf.

Grußlos verlässt Colin das Büro.

George schaut ihm noch einen Moment nach und setzt sich wieder. Mit der linken Hand streicht er sich über den Bauch und zieht mit der rechten Hand das Schubfach auf. Er blickt auf die Schachtel mit den Tabletten und beginnt wieder mit seinem Schicksal zu hadern, wie es ihm in letzter Zeit des öfteren passiert. Er, der nach Recht und Gesetz lebt, soll sich mit dieser Krankheit abfinden, denn das es keine einfache Magenverstimmung ist, davon ist er selbst überzeugt, aber ein Typ wie Colin Barkley erfreut sich bester Gesundheit. Und das er sich weiterhin bester Gesundheit erfreut, dafür hat George nun sogar noch selbst gesorgt.

Nein, das Leben ist ungerecht, aber muss man sich mit dieser Ungerechtigkeit abfinden?, denkt George und schiebt die Lade wieder zu.

 

Colin hat sich wieder mit einem Taxi zu seinem Haus bringen lassen, ganz in der Nähe des Condon Park. Es ist eines dieser typischen Reihenhäuser amerikanischer Kleinstädte. Erbaut in den 1950-er Jahren. Mit einem kleinen Vorgarten.

Er schaut durch das Fenster des Taxis, bevor er die Wagentür öffnet. Nach über vier Monaten betritt er wieder sein Haus, in dem er geboren wurde und trotzdem ist es ihm seltsam fremd.

Er bezahlt den Fahrer und geht langsam den Weg bis zur Haustür, aber nicht ohne vorher den Behälter für die Mail kontrolliert zu haben. Belinda, seine Haushälterin hat die Post natürlich schon entnommen und wird sie auf den Tisch gelegt haben, so wie immer.

Ob er noch einmal eine neue Haushälterin einstellen wird, er weiß es nicht. Zu Belinda hat er vollstes Vertrauen, obwohl er das illegal im Land lebende Pack, wie er es bezeichnet, hasst, zu dem leider auch Belinda zählt. In ihr sieht er aber die Mutter, die er früh verloren hat und die Großmutter, die nie die Rolle der Mutter übernehmen konnte.

Er fürchtet sich vor dem Tag, an dem Belinda nach Mexiko zurück muss. Die Gefahr ist groß, seit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten. Am liebsten würde Colin alle Illegalen aus dem Land jagen, aber Belinda behalten.

Er geht in die Küche und öffnet den Kühlschrank, der gut von Belinda gefüllt wurde. Vor allem mit Bierdosen. Mit einer Dose in der Hand geht er ins Wohnzimmer und lässt sich auf die große Couch fallen. Vorsichtig öffnet er die Dose und schaut sich dabei im Zimmer um. Es macht den Anschein, als ob er nie für längere Zeit abwesend war. Nirgends kann er Staub oder gar Schmutz entdecken. Belinda hat gut gearbeitet, denkt er.

Mit geschlossenen Augen nimmt er einen Schluck.

Ein Ereignis, dass vor nicht allzu langer Zeit in sein Leben trat, macht ihm zusehends zu schaffen. Ein Ereignis, das mit dem vor dreißig Jahren in engem Zusammenhang steht.

Ein Tag vor knapp einem halben Jahr, der alles wieder hoch kommen ließ und sein weiteres Leben auf den Kopf stellte...

 

Fünf Monate früher:

Belinda Ramos hat in der Küche das Essen für Colin fertig und ist nun dabei, mit einem Staubsauger das Wohnzimmer zu reinigen, während Colin auf der Couch sitzt und seine Füße heben muss. Sie ist Mitte Vierzig und von korpulenter Gestalt, so wie man sich halt eine mexikanische Frau diesen Alters vorstellt. Seit einem halben Jahr arbeitet sie bei Colin, der nicht mehr auf sie verzichten möchte.

Ihre Arbeit hat sie nun fertig und verabschiedet sich.

Ihr Essen steht warm, Mr. Barkley. Dann bis morgen.“

Danke, Belinda“, sagt Colin und zeigt auf den Tisch. Mit einem Lächeln nimmt Belinda die Dollarscheine und geht.

Davon wird sie wieder den größten Teil ihrer Familie nach Mexiko schicken, denkt Colin kopfschüttelnd. Er steht auf und geht in die Küche. Auf einen großen Teller packt er das von Belinda gekochte Essen und geht wieder, mit einer Büchse Bier in der anderen Hand, zurück in das Wohnzimmer. Er ist gerade fertig mit essen, da klingelt es an der Eingangstür.

Belinda? Hat sie etwas vergessen?, denkt Colin. Aber nein, Belinda hat einen Schlüssel. Colin steht auf und geht zur Tür. Als er sie öffnet steht ein Mann vor ihm. In Statur und Größe Colin sehr ähnlich, aber mit Vollbart und lockigen langen Haaren, im Gegensatz zu Colins kahl rasiertem Kopf.

Ja, bitte? Was kann ich für Sie tun?“, fragt Colin.

Einen Moment zögert der Fremde noch, dann sagt er: „Steven, Steven Barkley ist mein Name.“

Drei Sekunden bekommt Colin den Mund nicht zu, bis er endlich fragt: „Steven? Du bist Steven?“

Steven nickt nur und hofft, endlich ins Haus gelassen zu werden.

Colin weiß nicht wie er mit dieser Situation umgehen soll, ob er seinen Bruder in den Arm nehmen soll. Aber dafür sind sie sich erst einmal noch zu fremd. Colin macht einen Schritt zur Seite.

Komm rein, Steven“, sagt er.

Colin führt ihn ins Wohnzimmer. Im Türrahmen bleibt Steven einen Augenblick stehen und schaut sich um, aber nichts mehr scheint ihn an seine frühe Kindheit zu erinnern.

Colin bittet ihn Platz zu nehmen und lässt sich selbst in einen der großen Sessel fallen.

Wie geht es dir?“, fragt Colin.

Steven schüttelt mit dem Kopf. „Nicht gut“, sagt er nur und schaut nach unten.

Mit dieser negativen Antwort hat Colin nicht gerechnet. Andererseits, denkt Colin, würde Steven hier auftauchen, wenn es ihm gut ginge?

Wo hast du mit Vater die ganzen Jahre gelebt? Nicht einmal die Spezialisten für die Suche nach Erben haben euch finden können als Großmutter starb und ihr Erbe aufgeteilt werden musste.“

Genau deshalb bin ich hier, Colin. Meinen Erbanteil abzuholen.“

Colin sieht Steven mit großen Augen an. „Du willst was?, deinen Erbanteil abholen? Wie stellst du dir das vor? Und du hast mir immer noch nicht meine Frage beantwortet. Wo habt ihr die ganzen Jahre gelebt?“

Einen Moment schweigt Steven noch, bis er endlich erzählt: „Ein paar Monate waren wir noch in Texas, dann hat Vater mit mir die Staaten verlassen.“

Wohin?“

Auf Kuba.“

Was? Auf Kuba?“ Colin kann es nicht fassen.

Dann wundert es mich nicht, dass ihr nicht zu finden wart. Wie kam Vater dazu, mit dir nach Kuba auszuwandern? So einfach geht das nicht.“

Über Umwege ist es ihm irgendwie gelungen.“

Was hat Vater dazu getrieben mit dir nach Kuba zu gehen?“

Er hatte sich schon hier in den Staaten politisch in der Kommunistischen Partei eingebracht. Wir haben davon nicht viel mitbekommen. Er hatte hier große Probleme wegen seiner politischen Gesinnung. Das war dann auch der Grund für Mutters Selbstmord. Fidel Castro und Che Guevara waren schon immer seine großen Idole und wichtiger als seine Familie. Er hat mir später alles erzählt.“

Steven nimmt einen Schluck aus der Büchse, die ihm Colin auf den Tisch gestellt hat.

Colin schüttelt mit dem Kopf und will das alles nicht glauben.

Da hast du also jetzt die amerikanische und kubanische Staatsangehörigkeit?“, fragt Colin.

Nun schüttelt Steven mit dem Kopf. „Nur die kubanische. Vater hat gleich nach unserer Ankunft die amerikanische Staatsangehörigkeit abgegeben.“

Colin fasst sich mit beiden Händen an den Kopf. „Da bist du illegal eingereist?“

Was sollte ich machen? Ich bin in diesem Land geboren. Hier, in diesem Haus.“ Steven schaut sich noch einmal um, auch wenn er sich an kaum etwas erinnern kann. „Vielleicht kannst du mir helfen, die Sache aufzuklären. Über DNA oder so etwas“, fährt er fort.

Wenn wir zusammen zu irgendeiner Behörde gehen, wirst du sofort als illegaler Einwanderer verhaftet. Die interessiert das einen Kehricht, was wir da behaupten. Zwillingsbruder oder ähnliches. Was glaubst du, wie viele das auf die Art versuchen.“

Ob das den Tatsachen entspricht ist mir egal, denkt Colin. Auf keinen Fall darf er als mein Zwilling anerkannt werden. Ich habe keine Lust nach so vielen Jahren mit ihm zu teilen. Für mich ist das ein fremder Mann.

Wie ist dir das überhaupt gelungen, wieder einzureisen?“, fragt er nun.

Wie es tausenden anderen Illegalen gelingt. Über die mexikanische Grenze. Nach Mexiko einzureisen war erst einmal einfacher, als auf direktem Weg in die USA. Ich hatte wenigstens den Vorteil, keinen Ballast mit mir herumschleppen zu müssen. Die meisten waren mit Familie am mexikanischen Grenzzaun. Das hättest du mal sehen müssen. Da kannst du dir nur sagen, Augen zu und irgendwie durch.“

Hast du überhaupt noch irgendwelche Papiere?“, fragt Colin.

Steven schüttelt wieder mit dem Kopf. „Ich habe alles vernichtet. Ich hatte ja nur kubanische Papiere. Die sind in diesem Land weniger wert als die eines Grönländer.“

Colin lehnt den Kopf an und schließt die Augen. Wie soll das nun weiter gehen?, denkt er. Er hat zum Glück absolut kein Druckmittel gegen mich in der Hand, ohne gültige Papiere. Auf keinen Fall bekommt er die Hälfte des Erbes. Er muss sich auf Ewig hier im Land verstecken, oder er landet im Gefängnis. Warum ist er nicht auf Kuba geblieben? In Colins Gedanken nimmt das Wort ER immer größere Bedeutung an. Den Namen Steven versucht Colin zunehmend zu vermeiden.

Hast du Mutters Grab hin und wieder mal besucht?“, fragt Steven.

Colin schaut mit weit geöffneten Augen ins Leere und murmelt: „Mutter...Mutters Grab... Nein, hab ich vergessen.“ Colin starrt weiter geradeaus. Die Bilder, die schon fast verschüttet waren, drängen mit Macht an die Oberfläche. Mutter, mit gefalteten Händen auf der Brust. Und er, der sie an der Schulter hin und her bewegte, aber Mutter wollte nicht aufwachen.

Warum hast du damals Großmutter nicht geweckt?“, fragt Steven ohne ihn anzublicken.

Großmutter...geschlafen...weiß nicht. Hör auf damit!“, schreit Colin und springt auf. Er läuft durch das Zimmer und presst beide Handflächen gegen die Schläfen

Colin? Was ist mit dir?“, fragt Steven, schon fast verängstigt. Colin reibt sich mit beiden Händen übers Gesicht und ist wieder in der Wirklichkeit angekommen

Wie geht es Vater?“, fragt Colin endlich und setzt sich wieder.

Vater ist vor zwei Jahren gestorben.“

Mit 58?“

Er hat sich auch auf Kuba politisch stark engagiert. Das kam selbst den Kubanern irgendwann suspekt vor und man vermutete Spionage für die USA. Man hat ihn einfach kalt gestellt. Das hat er überhaupt nicht verstehen können.“ Mehr will Steven dazu nicht sagen.

Colin steht jetzt auf und geht wieder im Wohnzimmer auf und ab.

Ich kann dir nicht die Hälfte des Erbes geben. Das meiste steckt in Immobilien und ähnlichen Sachen. Bargeld habe ich nicht viel. Ich bezahle alles mit

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 14.01.2020
ISBN: 978-3-7487-2604-3

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /