Es war dunkel und kalt. Ich stand allein im schwarzen Nichts, nur ein kleiner Fleck in der Ferne wurde schwach beleuchtet. Es war eiskalt. Daher ging ich fröstelnd auf das Licht zu und rief ein zögerliches „Hallo“, welches schnell ungehört verhallte. Plötzlich erschien ein grelles Licht und ich musste für kurze Zeit die Augen schließen, um nicht geblendet zu werden. Als ich sie wieder öffnete, erschien vor mir ein alter Stuhl, der mitten im Lichtkegel stand. Darauf saß eine Frau seitlich zu mir und kämmte sich die langen, weißblonden Locken. Erleichtert, dass ich nicht mehr alleine war, lief ich auf die unbekannte Schönheit zu und machte wieder durch Rufe auf mich aufmerksam. Als die junge Frau darauf jedoch nicht reagierte, wurde ich langsamer und blieb schließlich stehen. Ich betrachtete sie nun genauer.
Sie trug ein bodenlanges, beinahe durchsichtiges Kleid und ihre Haut war fast so weiß wie ihr Haar. Als sich mir ihr schmales Gesicht zuwandte, sah ich ihr direkt in die Augen, doch es schien eher, als sähe sie durch mich hindurch. Ich war ein Geist für sie. Dann lächelte sie traurig und begann leise eine Melodie zu summen, die mir einen Schauer über den Rücken jagte. Ich schüttelte sich kurz, denn es zog eine Eiseskälte an mir vorüber, als ein Mann langsam zu dem Licht trat. Die Schritte waren deutlich zu vernehmen, doch die Frau schien ihn nicht zu bemerken. Ich schätzte den hübschen, braunhaarigen Mann auf etwa 25 Jahre. Sein ernstes Gesicht wurde von einem leichten Bart umrahmt und seine vollen Lippen verzogen sich zu einem kleinen Lächeln, als er seine rechte Hand erhob, die er zuvor versteckt gehalten hatte. Ich sah eine kleine Klinge aufblitzen, welches in einer merkwürdigen Farbe schimmerte. „Achtung, pass auf! Hinter dir!“, rief ich, doch auch diesmal konnte die in Lebensgefahr schwebende Frau mich nicht hören. Ich wollte ihr wirklich helfen, doch ich traute mich nicht vom Fleck. Zu sehr fürchtete ich mich vor dem Mann, der nun einen ruckartigen Schritt nach vorne machte und den Dolch in die Frau rammte. Er wusste genau wie er es anstellen musste, damit er von hinten durch die Rippen das Herz durchbohrte. Erschrocken riss die Verletzte die Augen auf und gab ein gurgelndes Geräusch von sich, während sie zur Seite sackte und vom Stuhl fiel. Schnell breitete sich eine riesige Blutlache um sie herum aus und das weiße Kleid verfärbte sich. Ich ließ einen spitzen Schrei verlauten und hob entsetzt die Hände vor ihn Mund. Was war hier nur los? Und wer waren diese Leute? Er hatte sie noch nie zuvor gesehen.
Plötzlich schaute mich der Mann aus seinen bernsteinfarbenen Augen an. Er schien mich sehr wohl sehen zu können und lächelte mir sogar zu, sodass ich erschrocken einen etwas tollpatschigen Schritt zurück machte. Er sagte etwas zu mir und streckte die Hand nach aus, obwohl etwas 20 Meter zwischen uns lagen, doch für mich war kein Ton zu hören, lediglich die Lippen bewegten sich. Alles verschwamm vor meinen Augen – erst da bemerkte ich die Tränen, die sich gesammelt hatten und mir nun die Sicht nahmen. Schluchzend und nach Hilfe schreiend drehte ich mich um und rannte so schnell ich konnte. Ich rannte so lange, bis mich die Schwärze vollends verschluckt hatte und mir der Boden unter den Füßen weggerissen wurde.
*
Schweißgebadet und schwer atmend wachte ich auf. Aufgebracht warf ich die zerwühlte Decke zur Seite und strich mir die nassen Haare aus der Stirn, die an meiner kalten Haut klebten. So etwas hatte ich noch nie geträumt, doch nicht nur der Inhalt machte mir Angst. Auch die Tatsache, dass mir alles so echt vorgekommen war, als wäre ich tatsächlich hautnah dabei gewesen. Außerdem kamen mir die beiden seltsam vertraut vor, obwohl ich mir sicher war, solche Leute nie gekannt zu haben. Nachdem ich mich etwas beruhigt hatte, versuchte ich erneut zu schlafen und schien auch noch etwa drei Stunden Ruhe zu haben, bis mich der selbe Albtraum wie ein Laster überrollte und aus dem Schlaf riss.
Kopfschüttelnd erhob ich mich aus meinem Bett und rieb mir verschlafen die Augen. Es war erst halb 5 morgens, doch ich wusste, dass ich jetzt nicht mehr hätte schlafen können. Ich schaltete die kleine Nachttischlampe ein und rieb mir erneut die Augen. Sie stachen und brannten eigenartig und auch mehrmaliges Blinzeln half nicht. Es wurde immer schlimmer, sodass mir schon bald Tränen in die Augen traten. „Was ist denn das?“, fragte ich verärgert und drückte die Ärmel meines Shirts auf die Augen. Als es nicht mehr auszuhalten war lief ich schließlich zum angrenzenden Badezimmer und wusch mir das Gesicht, in der Hoffnung, dass das die gereizten Augen beruhigen würde. Nach ein paar Ladungen des eiskalten Wassers schien es tatsächlich der Fall zu sein und ich trocknete erleichtert mein Gesicht ab. Als ich dann jedoch in den Spiegel schaute, stockte mir der Atem. Es vergingen quälend langsame Sekunden, in denen ich bloß mein Spiegelbild anstarrte. Meine recht kurzen mittel blonden Haare waren über Nacht um das Doppelte gewachsen und wellten sich bis weit über meine Schultern. Außerdem waren sie um einige Nuancen heller geworden, weshalb ich sogleich überprüfte, ob mir vielleicht jemand Extensions angeklebt hatte, während ich mich im Reich der Träume befunden hatte. Leider war es die Realität und auch ziehen und zerren änderte nichts daran. Was mir allerdings noch viel mehr Sorgen bereitete, waren meine sonst eigentlich braunen Augen, die eine komplett andere Farbe angenommen hatten und nun in einem sehr stechenden Goldton schimmerten. Wie zwei aufpolierte Goldmünzen starrten sie mir frech entgegen. Das konnte doch nicht sein! Träumte ich noch immer? Ich kniff mir so fest in den Arm, dass ich leise aufschrie, doch es war alles beim Alten. Auch, als ich mein Gesicht erneut unter den Wasserstrahl hielt, änderte das nichts. So konnte ich mich auf keinen Fall bei meiner Familie blicken lassen und schon gar nicht in der Schule. Wie sollte ich diese gravierenden Veränderungen bloß verstecken? Oder war ich etwa übergeschnappt und war die Einzige, die es sehen konnte?
Panisch lief ich in mein Zimmer zurück und zog mir die Sachen an, die ich am Abend zuvor fein säuberlich über die Lehne meines Schreibtischstuhls gelegt hatte. Meine Schulsachen ließ ich unberührt liegen und schnappte mir lediglich mein Handy, bevor ich mich so leise wie nur irgend möglich die Treppe zum Wohnzimmer hinunter schlich. Es lag noch alles im Dunkeln und es war mucksmäuschenstill. Auf Zehenspitzen lief ich an dem Esstisch vorbei, unter dem abgerundeten Durchgang hindurch in den Flur, welcher an einen Torbogen erinnerte und schnappte mir meine neuen dunkelbraunen Stiefel aus dem Schuhregal. Sie waren ziemlich schmutzig, was ein Anzeichen dafür war, dass meine kleine Schwester sie mal wieder ''gemopst'' hatte, die leider die selbe Größe hatte, obwohl sie beinahe zwei Jahre jünger war. Doch darauf konnte ich nun keine Rücksicht nehmen. Ich wollte einfach nur weg, damit mich bloß niemand so sah.
*
Mit schnellen Schritten entfernte ich mich von dem großen Einfamilienhaus in der Bakerstreet, indem ich dem schmalen Spazierweg folgte, der an einigen Reihenhäusern vorbei und in die 3rd Lane führte. Dies war eine etwas heruntergekommene Wohngegend und da es erst dabei war hell zu werden, löste diese verlassen wirkende Straße Unbehagen bei mir aus. Meine Schritte wurden langsamer, als ich an einem stark verwahrlostem Haus vorüber lief, an welchem die Fenster mit morschen Brettern zugenagelt waren. Die Wände, die wahrscheinlich einmal weiß gewesen waren, schienen nun grau und die untere Hälfte war mir Dreck aus dem verwildertem Garten überzogen. Einige Pflanzen waren über das Gartentor hinausgewachsen und schlängelten sich an den Wänden empor. Mit etwas Abstand lief ich daran vorbei. Es sah beinahe aus wie ein uraltes Geisterhaus und je weiter ich die Straße hinablief, desto baufälliger und unheimlicher wurden die Häuser. Es war frisch und der kalte Wind nahm zu, weshalb ich meine Arme fest um meinen Oberkörper schlang und mit den Handflächen an meinen Oberarmen rieb. Ich war drauf und dran zurück zu gehen, um mich in mein warmes Bett zu kuscheln und nach dem Aufstehen zu sehen, dass das alles doch nur ein schlimmer Albtraum war, doch leider war ich mir sicher, dass dem nicht so war. Ich konnte nicht riskieren, dass meine Mutter mich so sah, auch wenn ich es bloß eine gewisse Zeit hinauszögern konnte. Sie würde mich glatt zum Arzt schleppen und außer sich vor Sorge sein.
Nach weiten 10 Minuten war ich am Ende der Straße angelangt und in einer Sackgasse gelandet. Unsicher stand ich vor einem Industriegelände, welches von einem hohen Maschendrahtzaun von der verlassenen Wohngegend abgegrenzt wurde. Seufzend blieb ich stehen und sofort fiel mein Blick auf eine Bank, die auf der Rückseite des letzten Hauses stand. Langsam ging ich darauf zu und setzte mich, obwohl sie mehr als dreckig war. Eine Träne kullerte verloren meine Wange hinab. Was sollte ich jetzt nur tun? Eigentlich sollte heute ein schöner Tag werden, es war alles schon geplant gewesen...
Plötzlich kam ein kühler Wind auf und ich schloss meine dünne Strickjacke, welche bei den Temperaturen bei weitem nicht reichte, wie ich nun feststellen musste. Ruckartig drehte ich den Kopf herum, als ich meinte Schritte gehört zu haben, doch das war sicher nur ein Streich des Windes. Wieder kullerten ein paar Tränen aus meinen, nun anders farbigen Augen. Es war ein scheußliches Gefühl. Wie sollte ich so jemandem unter die Augen treten? Was würden meine Freude sagen? So etwas konnte man nicht einfach verbergen und hoffen, dass niemand Fragen stellte. Wieder hörte ich Schritte, doch diesmal kamen sie auch tatsächlich näher. Durch die Wolken, die sich zusammenzogen, wurde der kleine Hinterhof noch düsterer und ich starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit, wo das Geräusch herkam. Da erkannte ich eine Gestalt. Nicht mehr, als ein Schatten. Mein Herz schlug unglaublich schnell und ich war kurz davor aufzuspringen und davon zu rennen. Es jagte mir riesige Angst ein, als dieser Schatten näher kam und direkt auf mich zu lief. Ich konnte nicht mal sagen, wo genau er - oder es - hergekommen war. Ich griff nach der Lehne der Bank und wollte aufstehen, doch etwas hielt sie davon ab. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben, Amaryllis.“, sagte eine wundervolle, seidige Stimme. Es war eindeutig die eines Mannes. Aufgrund seiner imposanten Erscheinung hatte ich sogar nicht einmal mitbekommen, wie er mich genannt hatte. Nun trat er aus dem Schatten und was ich sah, erstaunte mich.
Es war ein Junge, etwa in ihrem Alter. Dennoch hatte er etwas erschreckendes an sich, weshalb ich mich erhob und so schnell und unauffällig wie möglich die Tränen aus meinem Gesicht wischte. So stellte ich fest, dass er ein ganzes Stück größer war. Er trug einen schwarzen Anzug und darüber einen noch dunkler wirkenden Mantel, dessen Kapuze sein halbes Gesicht verdeckte, dennoch konnte ich genug erkennen. Seine etwas zerzausten, schwarzen Haare, die ihm in die Stirn fielen, bildeten einen starken Kontrast zu seiner blassen Haut, die so eben war, dass ich sie glatt für Porzellan halten könnte. Mir verschlug es fast den Atem. Noch nie hatte ich zuvor einen so schönen Jungen gesehen. Er beobachtete mich ebenfalls sehr aufmerksam und dabei vielen mir seine langen Wimpern auf, ehe ich in seine Augen sah. Sie waren dunkel, wie auch alles andere an ihm. Als ich jedoch einmal blinzelte und etwas genauer hinsah, veränderte sich deren Farbe. Sie wurden plötzlich immer heller, bis sie bei einem sehr hellem, unnatürlich wirkendem Blau verharrten. Und da regte ich mich über mein warmes Gold auf?
Plötzlich sprang die Straßenlaterne an, die neben der Bank stand und flackerte unheimlich, sodass ich erschrocken zusammenzuckte und mir an mein Herz fasste, während ich kurz die Augen schloss. „Echt jetzt?“, stieß ich wütend hervor, so etwas konnte ich jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Doch damit war es längst nicht vorbei. Direkt unter dem Lichtstrahl saß auf einmal der Junge neben mir auf der Bank und lächelte sanft zu mir herab. „Oh Gott!“, sagte ich vor Schreck und wich zur Seite. Der unbekannte Schatten lachte leise. „Nicht ganz.“, hörte ich ihn leise kichernd sagen. „Wer bist du?“, fragte ich skeptisch - unsicher, ob ich überhaupt mit ihm sprechen sollte. Er schien ihren inneren Konflikt zu spüren, denn er erhob sich ebenfalls, hielt aber einen gesunden Abstand zu ihr. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben.“, sagte der junge Mann erneut, während er die Kapuze zurückschob und ich somit endlich sein ganzes Gesicht erkennen konnte.
Er konnte nicht sehr viel älter als sie sein, was mir seine sanften Gesichtszüge zeigten. Nur seine hohen Wangenknochen verrieten einen Hauch von Strenge. Mein Blick wanderte zu seinen vollen Lippen, die beinahe so blass waren, dass es etwas kränklich wirkte. Als ich nichts erwiderte, sondern ihn einfach nur anstarrte, lächelte er und eine Reihe perfekter, weißer Zähne kam zum Vorschein. „Wieso ist so ein hübsches Mädchen allein hier draußen?“, fragte er charmant und sah mir direkt in die Augen, wie es schien, direkt in meine Seele hinein. Erschrocken schloss ich sie. „Sieh mich nicht an.“, sagte ich panisch und hielt die Hände vor mein Gesicht. Auf einmal lag eine warme Hand an meiner und schob sie bei Seite. „Schau mich an. Keine Angst.“, sagte der Junge sanft, der nun auf einmal direkt vor mir stand, sich hinuntergebeugt hatte und mein Kinn anhob. Er musste mich so leise und schnell bewegt haben, dass ich es nicht einmal mitbekommen hatte.
Nun sah ich ihm direkt in die Augen, da er mir keine andere Möglichkeit ließ. Ich erstarrte. Seine Augen waren von einem so hellem Blau, dass sie unnatürlich hervorstachen. Auch er besah sich meine merkwürdigen Augen, schien jedoch gar nicht überrascht zu sein. Stattdessen wischte er eine Träne fort, die sich auf meine Wange verirrt hatte. „Es ist gruselig, oder?“, fragte ich mit brüchiger Stimme nach einiger Zeit, um das Schweigen zu brechen und konnte beobachten, wie er eine seiner geschwungenen Augenbrauen in die Höhe zog. „Wieso sollten sie gruselig sein, Liz?“, fragte er irritiert. „Sie sind wunderschön.“ Aufgrund des Kompliment, welches von einem Lächeln seinerseits begleitet wurde, bemerkte ich nicht gleich, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. „Moment...Woher kennst du meinen Namen?“, fragte ich und schien endlich aus der Hypnose seines Äußeren ausgebrochen zu sein. Ich wich erneut zurück und ließ ihn dabei keine Sekunde aus den Augen. „Sag mir endlich wer du bist und was du von mir willst!“, sagte ich ängstlich, bereits im Begriff wegzurennen, falls sich dieser schöne Junge doch als Wahnsinniger entpuppen sollte.
Nun lächelte er wieder und machte eine elegante Verbeugung. „Ich bin Ray.“, stellte er sich knapp vor und ich runzelte die Stirn. Er schaute mich abwartend an, als sollte mir der Name etwas sagen, oder etwas in mir auslösen. Allerdings empfand ich nichts als Verwirrung. Er überwand mit einem Schritt die Distanz zur Bank und setzte sich. „Ich werde dir alles in Ruhe erklären.“, bot er nun an und deutete neben sich. Der war doch eindeutig nicht ganz sauber, dachte ich und schüttelte den Kopf. „Nenne mir nur einen vernünftigen Grund, weshalb ich nicht sofort verschwinden sollte.“, sagte ich ernst und verschränkte abwartend die Arme vor der Brust. Vorher würde ich mich nicht vom Fleck bewegen. Ray seufzte missmutig. „Also gut. Du bist heute aufgewacht und hast dich verändert gefühlt, stimmt's?“, fragte er nun und ich nickt knapp. „Ja, aber das hättest du jetzt auch aus meinem Verhalten schließen können.“ „Ich weiß, dass du heute Geburtstag hast.“, versuchte er es dann weiter und ich geriet mit meiner Entschlossenheit ins Wanken. Er musste etwas wissen, denn es stimmte. Heute war mein siebzehnter Geburtstag. „Woher weißt du das?“, fragte ich nun und rückte zögernd etwas näher zu ihm hin, bis ich direkt neben ihm saß. „Wir warten schon lange auf dich.“, sagte er und obwohl ich ihn skeptisch ansah, sprach er weiter. „Meine Familie und ich sind genau wie du.“ Er deutete auf seine Augen. „Wir sind Engel.“, meinte er gerade heraus, als wäre es etwas völlig alltägliches, so etwas von sich zu behaupten. Reichlich eingebildet. „Das glaubst du doch wohl selber nicht.“, gab ich zurück und betrachtete diesen seltsamen Jungen vor mir. Das konnte einfach nicht sein.
„Wie erklärst du dir dann die Veränderungen an dir, die dir heute Nacht widerfahren sind?“ Fragend sah er mich an und wartete auf eine Antwort, doch ich hatte keine parat. „Na siehst du.“ Er machte eine kurze Pause, ehe er weiter sprach. „Mit dem siebzehnten Lebensjahr werden Wesen wie du erwachsen und ihr Körper verändert sich.“ Ich sah ihn fragend an. Was meinte er damit? Wesen wie ich? „Meintest du nicht, du wärst wie ich?“, wollte ich wissen, nun noch viel verwirrter und missmutiger als zuvor. Wohin sollte das alles führen? Trieb er ein falsches Spielt mit mir? „Nicht ganz.“ Er kicherte. „Du bist ein Halbengel und ich ein Reinblütiger. Man sieht es an der Augenfarbe.“, erklärte er und sah mich dabei so stolz an, dass ich es eher als überhebliche Arroganz abstempelte. „Ich? Ein Halbengel?“ Ich lachte verblüfft und schaute ihn verdattert an. Das konnte er unmöglich ernst meinen. „Was soll das überhaupt heißen?“ Nun seufzte er, als wäre ich schwer von Begriff, als läge das auf der Hand. Er schien ein ziemlich ungeduldiger Zeitgenosse zu sein. „Halbengel sind zur Hälfte Mensch und zur Hälfte Engel.“ Ich sah ihn an, als spräche er auf einmal eine andere Sprache. Ich war doch bloß ein ganz normales Mädchen aus Amerika. Wie sollte ich denn bitte ein halber Engel sein? Meine Eltern waren doch schließlich auch ganz normale Menschen, die von diesem ganzen Kram nichts wussten. „Deine Eltern sind nicht deine Eltern. In Wahrheit stammst zu von einem Engel ab. Von einem sehr mächtigen noch dazu.“, sprach er weiter, als hätte er meine Frage aus meinen Gedanken herausgefischt und mir fiel das belustigte Lächeln förmlich aus dem Gesicht. „Du veralberst mich doch.“ „Keines Wegs. Dein Vater ist einer der Erzengel und deine Mutter demnach ein Mensch, doch nicht die Frau, die es vorgibt zu sein. Ich wurde geschickt, um dir alles zu erklären und ich weiß, dass es sehr viel gibt, was es zu verdauen gibt, doch gib mir bitte eine Chance dir alles zu sagen, was du wissen musst.“ Ich wusste nicht mehr was ich denken sollte. Mein Kopf war wie leergefegt. Sollte ich ihm einfach so glauben? Und wenn ja, worauf ließ ich mich da ein?
„Was soll ich denn jetzt machen?“, fragte ich panisch und versuchte mein Herz zu beruhigen, was mir gerade große Schwierigkeiten bereitete. Ich zitterte am gesamten Körper, jedoch nicht nur wegen der Kälte und verzweifelt rückte ich nun doch noch etwas näher zu Ray hinüber. „Ganz einfach.“, sagte er lässig. „Du kommst mit zu mir.“ Geschockt sah ich ihn an. „Das geht doch nicht! Was ist mit meiner Familie? Sie werden sich Sorgen machen. Wahrscheinlich haben sie meine Abwesenheit schon bemerkt.“ Ray schaute mich an, jedoch ohne jegliches Gefühl in den kalten Augen. „Hast du nicht zugehört? Sie sind nicht deine Familie.“ Seine Stimme war leer und gefühllos wie seine Augen und lösten eine endlose Traurigkeit in mir aus. Sie waren meine Familie. Mein ganzes Leben lang waren sie für mich da gewesen. Das alles sollte eine Lüge sein? Kraftlos sackte ich nach vorne und all der Frust brach aus mir heraus. Meine Sicht verschwamm und grelle Punkte tanzten vor meinem inneren Auge herum. Ich weinte und zitterte, bis Ray mich vorsichtig an sich zog und meinen Kopf an seine Brust legte, um ihn zu stützen. Dabei strich er mir die Strähnen aus dem Gesicht und griff nach meinen eiskalten Händen. Auch als ich versuchte mich aus seinem Griff zu befreien versuchte gab er nicht auf und hielt mich, bis ich ihm mehr vertraute und allmählich entspannte.
Tag der Veröffentlichung: 13.03.2016
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