Cover

Vorwort

Zu diesem Buch:

 

Diese Textsammlung ist dem Jahr 2020 gewidmet.

Wer wollte es leugnen, dass dieses Jahr ein ganz besonderes war? Die Welt steht unter Quarantäneschock, nichts oder fast nichts läuft wie üblich, Selbstverständlichkeiten werden Ausnahmen und Gewissheiten zweifelhaft.

Wenn dieser Band dennoch nicht ausschließlich dem Pandemiethema gewidmet ist, so deshalb, weil das Leben auch so weitergegangen ist und weitergehen soll.

So war es früher in Zeiten von Revolutionen, Seuchen und Kriegen und so ist es auch jetzt. Die kleinen Dinge des Alltags übernehmen schließlich doch wieder das Regime.

In dieser Textsammlung stellen Autorinnen und Autoren kleine oder größere Bonbons ihres Schreibens und Dichtens zur Verfügung, die die Vielfältigkeit des menschlichen Geisteslebens verdeutlichen und für die Zukunft Hoffnung geben, auch wenn sich niemand seelisch von dem Druck freimachen kann, der auf allen lasten mag.

In diesem Sinne, freue ich mich als Mitglied des Freien Deutschen Autorenverbandes (FDA), dass sowohl Mitglieder als auch nicht organisierte Autoren und Autorinnen mitgewirkt haben, indem sie ihre Texte zur Verfügung gestellt haben.

 

 

 

 

Autorenrechte:

Die Rechte an allen in dieser Textsammlung aufgenommenen Beiträge verbleiben bei den Autoren, die auch verantwortlich für den Inhalt ihrer Texte sind.

 

Bild: bearbeitetes Bild von Gerd Altmann/ Pixabay

 

 

 

Mitwirkende

Detlef Gaida

Helga Schumann

Inge Beer

Levi Krongold

Magdalena Rogaczewska

Marita Poser

Matthias Rische

Oliver Guntner

Robin Li

Rose – Mary Hein

Susanne Seupel

2020

2020 

zwanzigzwanzig

Vorwitz

Vorwitz

Manchmal würde ich gerne

mit dem Finger ein kleines Loch

durch die Gegenwart bohren,

um einen heimlichen Blick

auf die Zukunft

zu werfen.

(Ribor Raskovnik, Romanheld)

 

Magdalena Rogazweska

 

Über die Autorin

 

Magdalena Rogaczewska, geb. 1994, ist Tochter zweier polnischer Opernsänger. Sie verbrachte ihre Kindheit in der Metropole Berlin, wo sie sehr früh Geigen-, Gesang- und Klavierunterricht erhielt. Mit 10 Jahren zog sie nach Polen auf ein Dorf mit 300 Bewohnern und erlebte ihren ersten Kulturschock, der sie bis heute nachdenklich stimmt. In ihren Texten versucht sie die Gesellschaft, die geltenden Erziehungskonzepte, das Schulsystem, die westlichen Werte und den modernen Lebensstil kritisch aufzuarbeiten und zu hinterfragen.

Seit 2011 lebt sie wieder in Berlin und arbeitet hier als freischaffende Musikerin und Instrumentallehrerin. Ihre Texte entstehen in der Freizeit, die sie gerne dafür nutzt die todernste Welt, die sie umgibt, zu belächeln.

 

Text, zwingend zu lesen

 

Durch Zwang ist die Welt

zu einem IRRGANG gelangt,

dass wenn wir Menschen brav

in einem Rang geordnet

unseren Lebensgang

mit aufgezwungenen Motiven

meistern, sich magisch unser Tatendrang

wird einstellen,

der uns dazu wird verleiten,

unsere Welt schön zu gestalten…

was aber ein Trugschluss ist.

 

Denn Zwang erwürgt den inneren Drang,

und (meistens völlig unbewusst)

zwingt Zwang uns seine Meinung auf

und meint es meistens gar nicht böse,

sondern will uns Gutes tun.

Im Überschwang uns aufzulegen,

das was für uns alle gut,

bemerkt er nicht wie wir ersticken

und naja…

das ist nicht gut!

 

„Wie?! Was wagst du zu behaupten?!

Willst du meine Hilfe nicht?

Ich will allen doch nur helfen!

UN-Dankbarkeit? DAS dulde ich nicht!

Wie kannst du mich nur kritisieren,

wenn doch alles läuft nach Plan?

Wenn du folgst, dann wirst du sehen:

Was mir guttut, tut dir gut!

Wirst du weiter diskutieren?

Soll ich dir mit Strafe drohen?

Oder gar Belohnung geben,

wenn du dich brav fügen tust?!“

 

Nein, nicht Zweck ist aufzuzeigen,

wie der Zwang macht alles doof…

Ich will einfach wieder atmen,

denn grad bekomm ich keine Luft.

 

Würd‘ gern auch von innen handeln,

als dagegen zwanghaft glauben,

dass der Zwang mich schützen muss.

Wie gesagt, ich mag betonen,

dass der Zwang es meint recht gut,

NUR wenn einzig alles Außen

und sich in mir selbst nichts tut,

dann wird das - was in mir dringlich

zwanghaft sitzt und raus will -

gegen auferlegten Zwang auch wehren.

Denn was zwingend zu verstehen,

dass durch Zwanghaftigkeit

nichts Eigenes kann entstehen.

Wenn wir jetzt in einer Reihe,

alle gleichen Pfaden folgen,

sind wir bald am Kollabieren,

denn woran kann man sich laben,

wenn Kollegen einen

und denselben Pfad

zu einer Fahrbahn trampeln?

 

Nur so nebenbei gedacht:

Ist es nicht gerade Mode

nachhaltig und lokal zu leben?

Nicht, dass ich den Moden folge,

aber diesen Weg würde ich

von mir aus gehen.

 

Oder ist es,

dass wir manche Zwänge

Moden oder Trends benennen

und wir fänden es auch peinlich

Zwänge bei deren eigenen

Namen offen zu benennen?

 

Jetzt wo ich darüber denke,

kann ich ungezwungen sagen,

dass ich mich gezwungen sehe

manche Zwänge zu erleiden,

bevor die Zwänge mich erlegen.

Ja, der Klügere gibt nach,

also werde ich mich beugen,

denn Vernunft spricht aus Erfahrung

Besser strahl ich Freude aus,

als das die Freude wirklich ist,

diese Welt hat mich gelehrt:

sehen will man,

fühlen - nicht!

 

Also liege ich nun da,

um nicht würdelos zu stehen

und bemerke, dass es schwer ist

liegend durch das Leben gehen.

 

Und dann folgt der Geistesblitz:

Hat Vernunft denn immer Recht?

Und was ist mit meinem Geiste,

der da fragt: was ist denn los?

Bin ich selbst mit mir zufrieden

oder alles was ich tu

ist so etwas wie

NACHGEBEN

damit zwangsneurotische Gedanken,

die von außen auf mich strömen

jetzt mal einfach ruhig sind,

weil ich nicht will eskalieren?

 

Nennt man das nicht

toxische Beziehung,

macht uns das nicht

einmal krank?

Ich mein uns, weil wie ich sehe,

pflegt fast jeder den ich kenne,

die Verbindung mit den Zwängen.

 

Ich dacht’: Zwänge muss man

therapieren und versuchen

sie zu heilen,

zwingend will ich dazu raten,

dass wir unverzüglich starten

zu behandeln und dem Zwang

den Freiraum vorstellen.

 

Ja, ich dachte,

der Herr Zwang,

so krampfhaft wie er halt so ist,

könnte sich etwas entspannen,

wenn er in Beziehung tritt…

Denn zurzeit macht Zwang nur Eines

und das ist: uns zu sortieren.

Weil Herr Zwang ganz ängstlich ist

und alles mag er kontrollieren!

 

Das ist so ein schräger Typ…

Alles mag er immer steuern,

aber wenn er einen Unfall baut,

sagt er: „Ja, das ist natürlich

absolut nicht meine Schuld.

Da tanzt jemand aus der Reihe,

der hat alles umgehauen.

Meine Ordnung wird vernichtet,

weil der selbstgefällige Idiot

es hat gewagt etwas zu tun,

was meinem Ego tut nicht gut.

Ja, das kann ich doch nicht zulassen,

denn: Wo kommen wir dann hin?!

Wenn jetzt alle Leute plötzlich machen,

was für Sie vermeintlich stimmig.

Das passt nicht in meinen Rahmen,

denn das habe ich gelernt:

Ich allein hab immer Recht.

 

Versteht es doch!

Ich meins nicht böse.

Ich will eine bessere Welt.

Dafür müsst ihr mir jetzt folgen,

auch wenn‘s euch grad

nicht gefällt…“

 

Zwingend würde ich Herrn Zwang

jetzt raten

einmal frische Luft zu holen

und vielleicht den Mund zu halten,

so dass andere sich auch zwingen

zu der Sache auszusagen.

 

Wie am Anfang schon betont

(allerdings ist das nur Meinung,

keinem zwinge ich sie auf),

Zwänge sind schon manchmal nötig,

nur gut wär es Leuten

ihre eigenen Zwänge zu gewähren

und nicht fremde Zwänge aufzuzerren.

 

Wie es manchmal so im Leben

ist - wir sorgen uns um unsere Nächsten,

also teilen wir mit Ihnen,

was wir glauben,

funktioniert am besten.

 

Das Motiv des Zwangs scheint edel

und wir sollten es auch schätzen

und dabei doch nicht vergessen:

alles was uns scheint zu dienen,

müssen andere doch nicht zwingend

auch als wohltuend empfinden.

 

Wenn du nun als Einzelwesen

einen Drang dazu verspürst,

zwingend unsere Welt zu ändern,

weil du ganz fest glaubst zu wissen,

wie sie besser werden könnte,

ist es ratsam es zu lassen

Predigten an Fremde richten

und stattdessen einfach machen.

Kompatibel zu der Meinung

die in deinem Hirn gespeichert,

wäre es doch auch vernünftig

Taten im Repertoir zu haben

die zu dieser Meinung passen.

Wenn die Anderen das dann sehen

und aus eigenem inneren Drang

dir zuhören und verstehen,

durch dein Tun sich inspirieren,

dann musst du Zwängen nicht mehr dienen.

Nämlich zwingen muss man keinen,

der den Sinn mancherlei Taten

hat erkannt und anerkannt.

Dann passiert es von allein.

Leute folgen und sie machen

ganz zufrieden ihre Sachen.

Inspiriert, vielleicht von Außen,

angetrieben von dem Innern.

Die Bewegung wird dann größer,

immer mehr schließen sich an –

Was für ein Erfolgsgefühl wäre das?

Ganz ohne Zwang...

 

Das Problem bei dieser Sache

ist, dass, wenn dann keiner folgt,

es vielleicht drauf deuten könnte,

dass was dir jetzt richtig scheint,

andren doch nicht

so Gut tut!

 

Das ist so ne Ego Sache,

denn wir geben ungern zu,

dass wir irren, Fehler machen,

scheitern und ein Kurswechsel

manchmal Not tut.

 

Lieber Zwang,

das ist ganz menschlich.

Jeder biegt manchmal falsch ab.

Es tut gut sich zu beraten

und da kann ich nur zu raten,

andere Meinung einzuholen.

Ein Begleiter der mit anderen

Augen auf die Dinge schaut.

Vielleicht weitet sich dein Rahmen,

vielleicht wird auch nichts passieren.

Vielleicht wirst du anderer Leute

Meinung hören und lässt sie

trotzdem dann drauf sitzen.

Vielleicht stellt es sich heraus,

deine Zwänge sind die Besten,

aber, wie wir jetzt hier merken,

muss man sich nicht gleich verpflichten,

ganz egal was es auch koste,

seine Zwänge auch den Anderen

aufzuzwingen.

 

Doch wahrscheinlich wird es soweit

nicht mal kommen.

Der Kontrollwahn des Herrn Zwangs,

versetzt ihn leider schnell in Angst.

Wenn er Unerhörtes hört,

andere Meinung ihn verwirrt,

Emotionen dann aufkochen

und das klare Denken schwindet,

dann kann keiner mehr was machen,

denn Zwang fühlt sich nur bedroht:

 

„Die da draußen wollen mich zwingen

neue Zwänge zu erlernen.

Und dagegen muss man kämpfen!

Keiner will etwas befolgen,

was von Außen aufgezwungen.

Meine Zwänge sind die Guten,

meine Zwänge sind von Innen!

Wag es ja nicht was von Außen

meinem Inneren aufzuzwingen!!

Willst du meinem Ego schaden?

Oh, das werde ich verteidigen,

denn das baute ich auf

Glaubenssätzen und die will

ich nicht verändern,

denn das würde

auch MICH ändern!

 

Nichts soll meine Ordnung stören.

Nicht dafür hab ich geackert

und mich regelrecht gezwungen

meine eigenen Zwänge zu ergattern!

Was wär das für ein Verhältnis,

wenn der eine immer sagt,

was der Andere soll jetzt denken

und wenn er was anderes wagt,

muss er auch noch damit rechnen,

dass man ihn dafür bestraft!?“

 

Wie jetzt?

Wieso ist er so verärgert?

Einzig einen Dialog,

wollte ich dem Zwang aufzwingen.

Dabei habe ich vergessen,

dass er darauf ist besessen

immer Recht zu haben,

denn, so fühlt er,

kann er nur die Ordnung halten.

Und als Begleitsymptom des Übels,

was noch keinem aufgefallen,

manchmal wandeln Monologe

sich in ein konstantes Rauschen.

Wenn man dann

so stark im Rausch ist,

merkt man gar nicht

was passiert,

irgendwann spürt man sich

nicht mehr und verliert

Realität.

Daraus folgt der

Größenwahn und Glaubenssätze

des Herrn Zwangs,

der da felsenfest dran glaubt:

„Alle auf der Welt behaupten,

sie allein nur hätten Recht.

Was zum Glück in meinem Falle

der absoluten Wahrheit ganz entspricht.

Denn ICH steh auf der guten Seite.

Ihr dagegen… ihr steht schlecht!!“

 

Mag auch sein, doch was ich fühle,

ist, dass wir zur Zeit mit Zwängen,

hier und da paar Kriege führen

und das will ich nicht verdrängen,

denn darüber muss man reden.

Mein Verstand sagt, wir sollen handeln,

denn wenn wir das jetzt so lassen,

wird das vielleicht bald schon wuchern

und wir sind dann nicht imstande

uns von manchen Zwängen abzutrennen.

 

Ich seh Zwänge ja als Fesseln

und in manchen Büchern steht:

Fesseln sollen uns einengen

und wenn man sie lange trägt,

will man gar nicht sich bewegen,

denn man hat schon längst vergessen

wie das geht.

Vielleicht wäre es ganz sinnvoll

seine Position zu klären:

bin ich Opfer mancher Zwänge

oder seh’ ich sie als Waffe?

Ein Motiv mal auszumachen:

Wieso ist der Zwang so wichtig?

und sich auch zu (hinter)fragen:

Wieso fällt es mir so schwer,

andere Leute so zu lassen,

dass sie ihre Sachen machen

und dagegen ist es leicht

mit dem Finger hoch erhoben

moralisierend auf alle Übel dieser Welt

zu deuten.

 

„Na, ganz einfach: Die sind schuld!

Die wollen sich ja gar nicht fügen,

alle Regeln die sind doof.

Alles was wir auferlegen,

legen die da wieder ab.

Und das tun sie aus Prinzip,

einfach weil sie’s tun wollen!

Also muss ich sie jetzt zwingen,

denn, die sind doch wohl ganz hohl,

wenn sie DEREN Zwängen folgen

und dann glauben: tut mir gut!

 

Oh, wir brauchen neue Zwänge

die von MEINEM Inneren kommen!

Zwingend will ich jetzt erzwingen,

neue Zwänge zu erringen!

Denn die alten waren falsch!

Die hat jemand mal erlogen!

 

Lass jetzt meinen Zwängen folgen,

mein Motiv ist auch ganz rein:

Wenn wir diesen Krieg gewinnen

und es schaffen allen Menschen

meine Zwänge aufzuzwingen,

ja, dann garantiere ich: Glück -

fast schon wie im Drogenrausch,

wird wie eine Flut uns stürmen,

keiner kommt da lebend raus!!“

 

Etwas trübt uns unsere Sinne,

etwas, was uns glauben lässt,

wenn wir nur genug verbieten,

alles ordnen und sortieren,

eingezäunt in der Beschränkung

Freisein nichts im Wege steht.

 

Durch die Illusion verblendet

rasen wir wie Geisteskranke

in der Jacke unsrer Zwänge

gegen Wände unser Zelle,

und dabei entgeht uns, dass,

was wir Erlösung nennen -

Gitter sind, die uns dran hindern,

selbstbestimmt und frei zu leben!

Wir befinden uns in Zwang-Haft

unserer eingespielten Welt,

die uns zwingt

immer zu handeln

nach Entscheidungen

die mal von irgendwem gefällt…

UND! wir können es nicht glauben,

dass durch Zwang bald nichts mehr geht!

Existieren werden wir dann

nur noch und wie einen Kult,

werden wir Befehle brauchen,

weil von uns aus selbst nichts kommt.

 

Einen letzten Vorschlag hab ich,

lasst uns doch nur mal zur Probe,

einen Zwang von Außen,

mit einem Wunsch von innen tauschen.

Wünsche geben Grund zum Handeln,

das macht wiederum zufrieden.

Und Zufriedenheit ist Frieden.

Keiner der sich mit sich fühlt,

hat Bedürfnis sich zu streiten,

seine Meinung aufzuzwingen,

um sich selbst so zu beweisen.

 

Wahrheit ist, dass Zwang unvermeidlich

darauf deutet, dass wir zweifeln

an den Regeln,

die von Anbeginn des Lebens

irgendwann wer auf uns legte.

Mensch ist eben nicht Maschine

und befolgt seine Gesetze.

Alles kann man da zwar

teilen und sortieren,

Analysen kann man machen,

Formeln aufstellen, Regeln geben

und durch Zwänge brav erziehen

und versuchen,

so dieses Geschöpf zu kontrollieren.

Doch irgendwann wird Vernunft merken,

alle Menschen auf der Welt,

unterscheiden sich so stark,

dass es den Normalfall

gar nicht gibt.

Vielleicht wird es mal so kommen,

dass Diversität

einfach frei wird angenommen

und wir merken, dass das geht -

ohne jemanden zu zwingen,

andere Regeln anzunehmen

und sein Glück so aufzuopfern,

weil wir jetzt gerade glauben

mit Sicherheit die eine wahre

Formel für Erfolg

entdeckt zu haben.

Ja, ich würde das riskieren,

denn erprobt habe ich es schon

zu Hause darf längst jeder

auf seine Weise verrücktes tun.

Eine Regel gibt's jedoch,

aber muss man das erklären?

Umgehen soll man mit dem Anderen,

wie man selbst gern wird behandelt.

Anders will ich’s formulieren:

geh mit gutem Beispiel vor.

Denn mit Zwängen lehrst du Leute

zwar zu handeln wie du wolltest,

allerdings nur wenn du guckst.

 

Levi Krongold

 

 

 

Über den Autor

Leon Viktor Krongold, Jahrgang 1955, Arzt und Autor, liebt den Blick auf die kleinen menschlichen Schwächen und dessen vergebliche Versuche, wahrhaft die Krone der Schöpfung zu werden. In seinen Texten verwischen unmerklich die Grenzen zwischen Realität und Absurdität, Gegenwart und Zukunft, Autor und Leser. So wird Wirklichkeit surreal und Surreales wirklich.

„Wenn ich einen Text beginne, weiß ich oft nicht, wohin die Reise gehen wird. Ich lasse mich von meinen Figuren inspirieren, belehren und führen. Wenn ich es recht besehe, schreibe nicht ich, sondern lasse mir von ihnen nur die Hand führen.“

 

 

Traumdeutung

Traumdeutung

Das Jahr begann mit einem Katastrophentraum. Wenn ich mich recht entsinne, träumte ich am frühen Morgen des 1. Januar 2020, ein Staudamm oder ein riesiges Wasserreservoir sei geborsten und die tosenden Wassermassen stürzten ins Tal. Es war eine gebirgige Gegend, deren Baumbestand überwiegend aus Kiefern bestand, die mühsam in steinernen Hängen wurzelten. Ich befand mich etwas abseits und in halber Höhe zu den hinunterstürzenden Wassermassen, die Geröll, Bäume, und alles was sich ihnen in den Weg stellten mit sich hinfort rissen. Sofort war mir klar, mich in höchster Gefahr zu befinden und ich lief so schnell ich konnte den steilen Weg hinauf, zurück zu meinem Haus, welches sich weiter oben im Gebirge befinden musste. Schon kamen die ersten Wogen den Berg hinauf gefegt, den ich soeben verlassen hatte, schon trieben Leichen in den strudelnden Fluten, doch ich hatte einen gewissen Vorsprung, wunderte mich nur, wie weit das Wasser über das Tal hinaus die Berge hinauf floss. Eine so große Wucht musste hinter den entfesselten Fluten stecken. Vor mir sah ich das Haus. Es war ein altes vornehmes Holzhaus zu dessen Eingang man eine kurze Stiege hinauf musste. Im Wohnraum oder der Eingangshalle saßen mehrere im Stil des letzten Jahrhunderts, konservativ gekleidete Frauen in einer Reihe und nähten. Ich fragte, ob meine Tochter schon im Hause sei. Es sei gefährlich draußen, man müsse unbedingt drinnen bleiben. Die Damen nahmen jedoch von mir keine Notiz.

Eine markante Männerstimmer sprach laut und eindringlich in den Raum: „Im Jahre 2020 wird alles zerbrechen.“

Danach wachte ich recht früh auf. Es war noch dunkel, obwohl die Uhr bereits 7:30 Uhr anzeigte. Ich lauschte auf den gleichmäßigen Atem meiner Frau und sann über den merkwürdigen Traum und die eindringlich warnende Stimme nach.

Man sagt, im Traum werden Konflikte thematisiert, die uns im Verborgenen beschäftigen.

In der Tat, überlegte ich, in die Finsternis blickend, hatte ich bereits seit längerer Zeit das Gefühl, dass das Jahr 2020 das Ende einer Entwicklung darstellen würde, die nicht nur mich und meine Familie betreffen würde, sondern darüber hinaus möglicherweise auch Deutschland, ja vielleicht die ganze Welt.

Nicht nur schien unsere Ehe inzwischen in ein Stadium gekommen zu sein, wo in einer Trennung auch eine neue Chance liegen mochte, wenngleich weder ich noch meine Frau diesen Schritt wirklich wagten. Sei es der Kinder wegen oder bei mir auch wegen der Sorge zu vereinsamen. So schienen wir beide auf eine Veränderung zu warten, die von außen kommen möchte, um eine

Entscheidung für uns zu treffen, zu der uns der Mut fehlte.

Auch deutete sich an, dass unsere Wohnung, eine zu knappe Dreiraumwohnung im dritten Stock eines hundertjährigen Wohnblockes und schon lange zu klein für unsere vierköpfige Familie, nun durch die Vermieterin gekündigt werden könnte. Bislang konnten wir uns nicht zu einem Umzug entscheiden, vor allem des Geldes wegen, aber bei mir auch, weil ich die Gegend mochte und weil ich mir nicht vorstellen konnte, mit meiner Frau in der kalten, unfreundlichen Atmosphäre unserer Ehe in einer Immobilie gefangen zu sein, die wir dann notgedrungen bis zum bitteren Ende hätten teilen müssen.

Ich habe vor, in diesem Jahr vorzeitig in Rente zu gehen, trotz der Abzüge, doch auch dies ist eine eher unsichere Entscheidung, da ich lediglich mit einer kleineren Rente zu rechnen hätte, nicht einmal halb so groß wie die meines Vaters, und ich außerdem zunehmend vor die Frage gestellt war, was ich in den letzten Jahren bis zu meinem Tod sinnvolles zu tun gedächte.

Insgesamt muss ich also zugeben, kam mir der Traum, so dramatisch er auch erschien, doch sehr gelegen. Nähme mir eine Katastrophe die Last ab, die eine freie Entscheidung darstellen kann.

Nach einer Weile entschied ich, mich trotz Müdigkeit aus dem Bett zu erheben und ein wenig im Wohnraum aus dem Fenster zu schauen.

Noch immer war kein Lichtschimmer am Horizont zu erblicken. Lediglich die Weihnachtsbeleuchtung, die noch in einigen Fenstern der Nachbarschaft verblieben war und die Straßenlaternen erhellten die Straßen und Häuserfronten.

 

Ich bin weit entfernt davon, mir allzuviel Gedanken über die Zukunft zu machen, zumal bereits die täglichen Meldungen ein ziemlich deutliches Bild von deren Entwicklung zu zeichnen scheinen. Nimmt man alle Nachrichten, Berichte und Prognosen zusammen, so scheint nichts Gutes daraus zu erwachsen. Im Grunde deucht es mir, als läge die Gewissheit über den Untergang der Menschheit wie eine dezente Hintergundbeleuchtung hinter allen Kommentaren und Nachrichten die mich täglich erreichen. Dort schmelzen die Pole, hier ersticken wir in Abgasen, die überfischten Meere versumpfen im Plastikmüll, die Atommächte rüsten weiter auf, die Wirtschaft schröpft mit ihrer zerstörerischen Gefräßigkeit die letzten Ressourcen, Menschen flüchten vor Krieg und Elend, andere fürchten von diesen überrannt zu werden. Kulturen prallen aufeinander, Religionen bilden das Zündwerk für Fanatismus und Terrorismus und dahinter schüren geld- und machtgierige Strippenzieher die weltweiten Konflikte und füttern die Krisenherde mit Waffen.

Mir erscheint es fast, als warte der überwiegende Teil der Menschheit trotz gegenteiliger Beteuerungen, heimlich auf das erlösende Untergangsszenario.

Es gibt also in meiner Psyche genügend Grund, über die angebrochene Endzeit zu träumen.

Warum es heute nicht hell wird?

Die dunkle Seite des Mondes, überlege ich, die nun von der chinesischen Raumsonde entjungfert worden ist, ist ja gar nicht dunkel. Sie soll sogar heller sein, als die erdzugewandte Seite. Was wollen wir eigentlich auf Mond oder Mars? Auswandern?

Auswandern. Das ist auch so ein Thema.

Ich habe schon lange das Gefühl, dass ich auswandern sollte. Vor Jahren habe ich mir die behördliche Erlaubnis besorgt, mit der ich mich ohne weiteres hätte in Spanien beruflich niederlassen können. Warum in Spanien? Italienisch ist viel lustiger.

Der Spanier hat eine merkwürdige Art zu denken und zu sprechen. Ein wenig verschraubt, fast dünkelhaft. Der Italiener hingegen spricht wie er denkt und er denkt wie sein Herz spricht. Ich mag Italiener und Pasta mag ich auch. Aber Tapas eigentlich auch.

Ein Blick auf das Thermometer am Fenster sagt mir, dass es jetzt genau der richtige Zeitpunkt sei, auszuwandern. Es ist nur 1° Plus und es scheint etwas zu nieseln. Jedenfalls wirkt der Straßenbelag nass. Trotzdem bin ich bis heute nicht ausgewandert.

 

Das Klackern des nachts vorsorglich eingesperrten Kuckucks in der Schwarzwälder Kuckucksuhr zeigt an, dass es nun 8 Uhr geworden sein muss. Wann geht eigentlich normalerweise die Sonne auf am ersten Januar?

Der Himmel ist dunkelgrau gefärbt. Offenbar liegt eine dicke Wolkendecke über Berlin und sperrt die ersten Lichtstrahlen aus, die drüben über der S-Bahnstrecke Richtung Osten zu sehen wären. Normalerweise.

 

Der Mond, der nun chinesisch ist, ist auch nirgends zu sehen. Die Chinesen dehnen ihr Reich konsequent und systematisch immer weiter aus. Gestern sah ich einen Beitrag, in dem ein irritierter deutscher Reporter feststellte, dass pakistanische Kopftuchmädchen entlang der neuen, im Bau begriffenen Seidenstraßen, in neu gebauten Schulen, mit neu eingestellten Lehrern Chinesisch lernen. Mit chinesischem Geld, versteht sich. Am meisten belustigte mich an der Fernsehreportage der misslaunige deutsche Reporter, der ums Verrecken aus dem pakistanischen Bauingenieur nicht herauskitzeln konnte, dass Chinamänner böse sind. Typisch deutsche Miesmacherei. Unsympatisch. Wir leiden an einem klaren Feindbild und einem illusorischen Freundbild. Alles was West ist, ist Freund, alles was Ost ist, ist Feind. Bullshit. Gleichzeitig blasen wir uns zu Weltmoralisierern ersten Grades auf, solange bis wir platzen. Vielmehr nicht wir, sondern die. Die Medienmacher, die Meinungsbildner und die vorlauten Gazettenschreihälse und Kirchenkinderschänder.

Ich schüttele den Kopf. „2020 wir alles zerbrechen“. Was soll‘s also? Haben wir eigentlich genug Vorräte im Haus? Wenn es hart auf hart kommt? Wo ist der Gaskocher, wenn der Strom ausfällt? Ich beschließe, demnächst einmal im Keller nachzuschauen. Dort liegt auch noch das aufblasbare Gummiboot, das wir nie benutzt hatten. Obwohl, so hoch wird das Wasser ja nicht kommen. Bis zum dritten Stock. Unwahrscheinlich.

Man sollte nochmals Nachfüllgas fürs Feuerzeug kaufen. Das schadet ja nichts, wenn man es im Haus hat. Angenehmer als Streichhölzer.

 

Es ist immer noch nicht heller geworden.

 

Das einzige Licht, das angegangen ist, ist das Licht meines automatischen Indoor- Gemüsegartens auf Hydroponic Basis. Mein ganzer Stolz. Vollautomatische Salatzucht. Salat ist gesund. Auch das Aquariumlicht ist angesprungen, Punkt acht Uhr. Der Joghurtbecher mit der Versuchspilzzucht steht auf dem Aquariendeckel. Pilze sind eiweißhaltig. Kann im Krisenfalle nichts schaden. Salat und Pilze. Damit kann man sich eine Zeitlang über Wasser halten. Ich meine, wenn dann die Krise kommt.

Man kann auch aus alten Zeitungen und Kaffeesatz ein schönes Zuchtmedium für Pilze machen. Zeitungen sind ja nichts weiter als Holz und Pilze lieben verrottendes Holz. Und Kaffeesatz.

Ich überlege, ob es noch zu früh ist für eine Tasse Kaffee?

 

Neulich habe ich gesehen, wie man mit einer Zitrone Feuer machen kann. Man braucht nur Kupfermünzen, Zinknägel und Draht sowie etwas Stahlwolle. Die Leute sind echt kreativ. Ob ich Zinknägel im Hause habe?

 

Letzte Woche stand ich in einem Messer- und Waffengeschäft neben jemanden der sich eine Schreckschusspistole gekauft hat. So wie man eine Packung Milch kauft. Er fuchtelte vor der Kasse damit herum, was ich merkwürdig fand. Noch merkwürdiger fand ich die Ansage der Verkäuferin, wenn er zuhause schießen üben würde, solle er den Nachbarn Bescheid sagen, damit diese sich bei dem Geballere nicht erschrecken. Seine Freundin stand daneben und schien das auch alles normal zu finden. Mich gruselte etwas. Was nützt letztlich eine Schreckschusspistole? Sie hilft nur gegen die eigene Angst, solange bis es Ernst wird. Brauch ich nicht. Wichtiger, habe ich mir überlegt, sind Netzwerke.

Sollte mal wieder mit den Nachbarn sprechen, auch wenn die doof sind in ihrer Spießigkeit.

 

Im Krisenfall hilft jeder gegen jeden nicht. Da wird es nur noch schlimmer, überlege ich mir.

Müsste dann auch mit meiner Frau einen vorübergehenden Waffenstillstand schließen, fürchte ich.

 

Wäre doch ganz gut, wenn die Krise noch nicht so bald käme. Ob es heute nochmal hell wird?

 

 

Schritte

Schritte

Es gibt eigentlich gar keinen vernünftigen Grund, weshalb ich meine Wohnung verlassen sollte. Ich habe hier alles, was ich zum Leben oder sagen wir lieber, zum Überleben benötige. Genügend Wohnraum, mehr als genug für mich alleine mit knapp 100 Quadratmetern und dreieinhalb Zimmern. Fenster öffnen mir den Blick in die Welt da draußen, einem ruhigen Berliner Stadtviertel im Süden mit hundertjähriger Bausubstanz, verschlafenen kleinen Plätzen, geräumige Innenhöfe mit Gartenanlagen und Spielgeräten, Kopfsteinplasterstraßen, über die morgens um sieben die Müllautos rumpeln und mich aus schlechten Träumen reißen, S-Bahnstrecke, die hinter einer weiteren Häuserzeile zweistöckiger Einfamilienhäuser mit Gärten im Siebenminutentakt dahinrauscht.

Nein, ich brauchte überhaupt nicht aus dem Haus zu gehen. Nicht einmal zum Einkauf, der inzwischen über einen Online-Bringedienst abgewickelt werden kann. Die Welt da draußen kommt mir als digitales Spiegelbild, oder sollte ich lieber sagen Zerrbild, über PC und Fernseher ins Haus. Zerrbild, Spiegelbild? Was spielt es für eine Rolle, da alle Wahrnehmung in mir geschieht. Ich bin drinnen und draußen zugleich.

Wenn ich nun dazu verurteilt wäre, wochenlang in meiner Wohnung zu

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Detlef Gaida, Helga Schumann, Inge Beer, Levi Krongold, Magdalene Rogaczewska, Marita Poser, Oliver Guntner, Robin Lu, Rose-Mary Hein, Susanne Seupel
Bildmaterialien: Levi Krongold, Robin Li, Detlef Gaida/ Gerd Altmann
Cover: Levi Krongold levi.krongold@web.de
Satz: Levi Krongold
Tag der Veröffentlichung: 04.02.2021
ISBN: 978-3-7487-7380-1

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /