Bloß weg hier! Das verdammte Blut war nur so aus dem Dreckskerl herausgespritzt und jetzt klebte es auch noch an seinen Fingern. Umständlich öffnete er die Tür seines Ford, die er bei all der Hektik und Eile offenbar gar nicht verschlossen hatte. Wo war der verdammte Zündschlüssel? Hatte er ihn verloren? Dann war alles aus. Löbolt lag keine hundert Meter entfernt in seinem Blut und sein Auto stand hier. Er konnte es nicht hier lassen. Es musste weg. Und noch viel wichtiger: Er musste weg! Dass immer irgendwas dazwischenkommen musste! Alles war doch wie geplant gelaufen. Er durchforstete mit der sauberen linken Hand seine Mantel- und Hosentaschen. Das war alles nicht wahr! Der verdammte Schlüssel war weg, einfach verschwunden. Er konnte nur noch aussteigen und den Weg zurückverfolgen. Dabei war es stockdunkel. Irgendwo im Handschuhfach lag eine alte Taschenlampe. Aber damit machte er doch nur unnötig auf sich aufmerksam.
Noch einmal stieß er die Wagentür auf, stieg aus seinem Mondeo und ging alle Möglichkeiten durch. Nur nicht in Panik geraten! Langsam hob er den Blick und wollte sich schon wegdrehen, als die Innenbeleuchtung des Wagens erlosch. Für den Bruchteil einer Sekunde hatten seine Augen etwas Metallisches im Wageninneren gestreift. Er lag auf dem Fahrersitz, musste ihm wohl aus der Hand gerutscht sein, als er vor vielleicht einer Viertelstunde ruckartig ausgestiegen und das Messer an sich genommen hatte, das er auf dem Boden unter dem Beifahrersitz bereitgelegt hatte. Erleichtert, fast euphorisch, riss er die Tür wieder auf, schnappte nach dem Schlüssel und merkte erst jetzt wieder, dass Löbolts verdammtes Blut ja noch immer auf seiner rechten Hand und an den Ärmeln klebte. Scheiß drauf! Um die Flecken auf dem Sitzpolster konnte er sich später noch kümmern. Ohne die Scheinwerfer einzuschalten, legte er den Rückwärtsgang ein, kam wieder auf die Straße und raste davon. Über Weil am Rhein nahm er die Autobahn Richtung Norden. In einer guten halben Stunde würde er zu Hause sein, das Auto in die Garage stellen und Eva erzählen, wie nett es doch wieder mit den alten Kollegen gewesen sei.
Seit sie wieder bei ihm war, hatte sein Leben neuen Schwung bekommen. Und das Schwein, das dort im Wald lag, sollte nicht noch einmal alles zerstören. Die heimlichen Anrufe auf Evas Handy und seine Nachrichten hatten heute Abend endgültig aufgehört. Hatte sie wirklich geglaubt, er hätte nichts gemerkt? Ein gebrannte Kind scheute jedes Feuer. Warum nur war sie damals gegangen? Alles hatte doch gepasst. Das kleine Gasthaus brachte viel Arbeit mit sich, aber es begann sich doch zu lohnen und sie war beileibe keine schlechte Wirtin gewesen. Aber dann war eines Tages dieser Suppen- und Soßenvertreter aufgetaucht. Bald war er immer öfter in der Gaststube erschienen und immer seltener hatte er überhaupt noch den Schein seines armseligen Gewerbes gewahrt und gefragt, ob der Chef des Hauses zu sprechen sei.
Eines Morgens war Evas Bett leer gewesen, ihre Koffer, ihre Kleider verschwunden. Der Schmerz saß tief. Ohne sie war alles sinnlos, das Kartenhaus seiner Pläne für eine gemeinsame Zukunft war zusammengebrochen. Nur langsam hatte er sich wieder aufgerappelt, den Pachtvertrag gelöst, eine Stelle gefunden und ein neues, ein einsameres Leben begonnen. Längst war er ein alter Mann. Die Rente reichte für ein winziges Glück und eine Eigentumswohnung. Mehr brauchte man eigentlich nicht. Aber die einsamen Abende und der Gedanke, dass sie ihn im Stich gelassen hatte wegen dieses Cretins, das alles nagte noch immer an ihm. Wie unwirklich war ihm der Moment erschienen, als sie im April vor seiner Tür gestanden hatte! Betrogen hatte er sie, der alte Bock! Und so hatte er sie wieder in sein Leben gelassen, ohne zu ahnen, dass alles von vorne losgehen würde.
Nur hatte er diesmal nicht klein beigegeben. Ihr Handy hatte ihn verraten. Sie hatte es liegen lassen, als sie letzte Woche zum Einkaufen gegangen war. Er hatte die verpassten Anrufe auf dem Bildschirm gesehen, hatte die Nummer notiert und selbst dort angerufen. Es hatte genügt, die Stimme wieder zu hören. Löbolts Pech, dass er sogar auf Evas Handy gesprochen hatte! Er müsse am Vierten und am Siebten des Monats nach Saint Louis in den Goldenen Engel um dort Eindrücke für seinen nächsten Gourmetartikel zu sammeln. Am Tag darauf könne man sich ja treffen. Dazu würde es jetzt mit Sicherheit nicht mehr kommen.
Es war gar nicht schwierig gewesen, vor dem Goldenen Engel zu warten und ihm dann zu folgen. Grau war er geworden, aber die elegante Kleidung, die er schon früher trug, sein etwas wippender Gang und die Freiburger Autonummer hatten ihn verraten. Hinter Saint Louis hatte Löbolt endlich die Lichthupe hinter seinem BMW bemerkt, hatte angehalten, war ausgestiegen und hatte seinen Verfolger gefragt, was denn los sei. Dann war alles ganz schnell gegangen. Er war um sein Leben gerannt, nachdem er ihn und sein blankes Metzgermesser erkannt hatte. Aber er war nicht schnell genug gewesen.
Bald war er wieder zu Hause. Die Hände konnte er in einer Toilette an der Autobahn gründlich waschen, den Mantel warf er in einen Mülleimer auf dem Rastplatz bei Bellingen.
Als er ankam, brannte das Küchenlicht. Eva hatte er schon am Vortag erzählt, dass er auch heute mit seiner Clique unterwegs sein würde. Sie hatte keine Fragen gestellt. Um die Flecken auf dem Sitzpolster würde er sich morgen kümmern. Vorerst reichte es, wenn er eine Decke aus dem Kofferraum darüber warf.
„Warum eigentlich das Elsass, Hartmut?“ Auch nach all den Jahren, die er mit seiner Frau Angelika nun im Foret Kastenwald lebte, konnte Hartmut Theissen, der ehemalige deutsche Hauptkommissar, das leise Grinsen nicht unterdrücken, wenn ein Einheimischer versuchte, das deutsche „H“ auszusprechen. Alle nannten ihn wohl auch deswegen meist Monsieur Theissen oder einfach Henri. Letzteres hatte er selbst einmal vorgeschlagen, weil er seine Gastgeber – und als solche bezeichnete er Elsässer und Franzosen noch immer – nicht unnötig überfordern wollte. Nur Angelika war standhaft beim deutschen Hartmut geblieben, was ihm in jeglicher Hinsicht recht war.
Er und Gerard Muller, der einst Commissaire in Colmar und später Leiter der Police Municipale in Neuf Brisach gewesen war, saßen im Restaurant Wiistub, das sich in den Kellerräumen des Hotels Aux deux Roses mitten im beschaulichen Rheinstädtchen Neuf Brisach befand. Sie hatten es sich gut gehen lassen. Genau wie vor einigen Wochen, als sie in Knoeringue gesessen und auf Mullers Anregung hin Carpe frite mit frischen Kartoffeln und gutem Elsässer Wein zu sich genommen hatten.
Ja, warum eigentlich das Elsass? Warum nicht irgendein anderer Flecken auf dieser großen, weiten Welt? Hartmut Theissen geriet ins Grübeln. Er blickte in Angelikas Augen, die gegenüber neben Marie Muller saß. Wie der Tenor seiner Antwort ausfallen würde, war ihm sofort klar gewesen. Aber wie sollte er sie am Ende in Worte fassen? Wahrhaftige Fragen musste man auch wahrhaftig und ehrlichen Herzens beantworten.
Seit einigen Wochen waren Gerard Muller und seine Frau Marie wieder in der Heimat. Als Pensionäre leisteten sich die beiden, wovon sie früher immer nur träumen konnten: Sie reisten. Die erste große Tour hatte sie damals durch ganz Europa gebracht. Von Volgelsheim aus war es bis zum Nordkap, später bis Spanien und Portugal gegangen. Im Jahr darauf hatten Polen, Tschechien, die Slowakei, Österreich und Deutschland auf dem Programm gestanden. Zuverlässig und stoisch gelassen hatte der FIAT-Campingwagen sie an jeden gewünschten Ort gebracht. In diesem Sommer wollten Marie und Gerard kürzer treten. Die Normandie, die Bretagne, die belgische und die niederländische Küste waren letztlich ebenfalls lohnenswerte Ziele. Doch dann geschah, was der Alptraum jedes Mobilisten war: Vor einer Bahnschranke kurz hinter der Grenze Belgiens zu Frankreich hatte der Motor des FIAT so heftig zu qualmen begonnen, dass Gerard Muller nur noch „dépêche-toi!“ rufen und Marie, sich selbst und die Papiere in Sicherheit bringen konnte. Feuerwehr, Polizei, der Abschleppdienst und ein halbes Dorf standen bald um die beiden herum, die eigentlich nur noch nach Hause wollten. Immerhin ging alles sehr schnell, der Wagen war noch zu erkennen, wenngleich der Motor wohl irreparablen Schaden genommen hatte. Noch immer stand der FIAT im Nord-Pas-de Calais, wo ein gütiger Mechaniker sich um die Reparatur und notfalls auch den Einbau eines Ersatzmotors kümmern wollte. Der Rest der Heimreise hatte mit der Bahn stattgefunden. Und so begann der Herbst für die beiden Mullers eben im Pays de Brisach statt am stürmischen Kanal.
Genau dieser Umstand war auch der Grund gewesen, weshalb Gerard Muller nebst Gattin eines Samstags im Oktober durch den Kastenwald spazierte und zu seiner eigenen Überraschung bemerkte, wie schön die langsam welkende Flora des Elsass doch war. Ihr Weg führte vorbei am alten Forsthaus, das seit einigen Jahren von einem pensionierten deutschen Polizeibeamten und seiner Frau bewohnt wurde. Ein mysteriöser Mordfall hatte diesen Monsieur Theissen, den deutschen Hauptkommissar außer Diensten, und Gerard Muller, damals noch aktiver Commissaire der Colmarer Kripo, zusammengeführt. Immer wenn Muller später einmal hier vorbeigegangen war, schossen ihm die Bilder jener Nacht wieder
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Urs Jan Barlander
Bildmaterialien: Urs-Jan Barlander
Cover: Urs-Jan Barlander
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Tag der Veröffentlichung: 21.02.2023
ISBN: 978-3-7554-3315-6
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Für Karl Heinz als Dank für Rat und Tat!