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Mariengrotte

 

 

„Jetzt gehörst du mir. Mir ganz allein." - Vorsichtig stülpte er den großen Leinensack über die alte Skulptur, die er im Schein der kleinen Kerzen und seiner Taschenlampe nur kurz betrachtet und gleich von ihrem angestammten Platz oben auf dem kleinen Fels genommen hatte. „Keiner wird dich mehr bespucken, nie mehr. Bei mir bist du in Sicherheit.“ Die Leiter, die er sich von der Felswand hinter der Grotte ausgeliehen hatte, stellte er genau wieder so hin, wie er sie vorgefunden hatte. Er musste jetzt nur noch aufpassen, dass kein Auto auf der Straße aufkreuzte. Bis zwei Uhr in der Nacht hatte er gewartet. Das Licht an seinem Velo blieb ausgeschaltet. Es war gar nicht so einfach, ohne zu fahren, obwohl er diesen Weg doch seit seiner Kindheit kannte. Mein Gott! Wie lange war das her? 92 war er jetzt. An Mamas Hand war er das erste Mal hierher gekommen. Da war er fünf oder sechs gewesen. Papa war gerade gestorben. Dieser hässliche Unfall. Der Gaul war einfach durchgegangen, als Papa den schweren Eisenpflug einschirren wollte. Er war gestürzt und das schwere Gerät hatte ihn am Kopf getroffen. Mama war nie mehr dieselbe Frau gewesen. Wie oft erzählte sie später, dass sie Papa vor dem hinterhältigen Hengst gewarnt hatte? Vorsichtig spannte er die kleine Gestalt aus Gips auf den Gepäckträger. Wie praktisch doch diese Gummiseile mit den Haken waren. Jetzt konnte nichts mehr herabfallen. Er musste nur langsam fahren und den Schlaglöchern ausweichen. Aber seine Augen waren noch immer scharf. Nicht einmal zum Lesen brauchte er eine Brille. Wenn nur die Dunkelheit nicht gewesen wäre. Er hatte sich diese mondlose Nacht im Kalender schon vor Wochen angestrichen. Langsam radelte er los. Hoffentlich kam kein Auto des Weges. Ohne Rücklicht würde ihn kein Fahrer erkennen. Aber er wollte ja genau das. Bloß nicht erkannt werden! Der Skandal wäre gewaltig. Bestimmt würde man ihn auf seine alten Tage noch einsperren. Genau wie es damals die Männer in den schwarzen Uniformen getan hatten. Oben in den Vogesen hatten sie ihn eingesperrt mit tausend anderen. Langsam nahm sein altes Velo Fahrt auf. Er konnte die Spur immer noch gut halten. Vorne sah er schon die Straßenlaternen von Widensolen. Gleich würde er da sein. Das Versteck hatte er längst präpariert. Hinter dem Schopf hatte ein Maulwurf im letzten Jahr seinen Gang gegraben. Der Hund hatte die kleine Schermaus irgendwann aufgespürt und gepackt. Aber das Loch war noch da. Dort sollte sie ruhen, seine Mutter Gottes. Und niemand würde sie mehr bespucken.

 

 

Man konnte die Uhr danach stellen. Punkt acht Uhr klingelte Commissaire Mullers Telefon. Das ging nun schon ein halbes Jahr lang so. Muller drückte seine Gitanes im Aschenbecher aus, griff nach dem Hörer und wartete gar nicht ab, bis sich jemand meldete. „Bonjour, Madame Weber. Wie geht´s Ihnen heute früh?“ - Die alte Dame rief seit Mullers erstem Tag als Chef der Police Municipale in Neuf-Brisach jeden Morgen an. Sie war fast neunzig Jahre alt, lebte allein in einem kleinen Stadthäuschen am Stadtausgang und litt, wie so viele in ihrem angeblich beneidenswerten Alter, unter jener Krankheit, die die Grenzen zwischen heute und gestern aufhob. Wie jeden Morgen erklärte sie dem Commissaire, dass jemand ihr Fahrrad gestohlen hatte. Mullers Antwort blieb stets die gleiche: „Wir kümmern uns sofort darum. Seien Sie unbesorgt, wir finden Ihr Velo wieder.“

 

Natürlich stand das Rad wieder vor dem kleinen Carrefour-Supermarkt, den Madame Weber an jedem Tag der Woche gegen Abend aufsuchte. Und wie jeden Tag so hatte sie auch gestern vergessen, den alten Drahtesel wieder mitzunehmen. Stattdessen lief sie mit ihrer kleinen Einkaufstasche quer über den Place des Armes, tratschte mit hundert Leuten, an deren Namen sie sich nicht mehr erinnern konnte und schaffte es irgendwie, am Ende ihr Haus wieder zu finden.

 

Langsam trudelte die Mannschaft der kleinen Polizeiwache zum Dienst ein. Immerhin hatte Muller es in einem halben Jahr geschafft, dass die Kollegen einigermaßen pünktlich eintrafen. Die ersten Wochen hatte er genau dies immer wieder ohne Erfolg eingefordert. Jeder hatte eine andere Ausrede, um erst gegen halb neun oder neun Uhr anzutreten. Das Auto war nicht angesprungen, die Frau hatte den Hausschlüssel verlegt oder der Stromableser war unangemeldet aufgetaucht. Nur Dubois, der einzige echte Franzose in der Truppe, war seltsamerweise immer schon um halb acht auf seinem Posten gewesen. Wenn Muller die Tür aufschloss, war das Wachlokal bereits voller Musik. Pierre Dubois liebte die alten Chansons von Becaud. Da er allerdings mit seinen sechzig Jahren nicht mehr das empfindsame Gehör seines neuen Chefs besaß, hatte er entsprechend Probleme, zwischen Zimmerlautstärke und voller Lautstärke zu unterscheiden. Muller hatte lange gebraucht, bis er seinen Kollegen dazu bringen konnte, sich ein Hörgerät zuzulegen und dieses auch zu tragen. „Ein Flic mit Hörgerät? Da mache ich mich doch lächerlich, Chef!“ - Dubois hatte eine sehr resolute Ehefrau. Der Commissaire hatte schon lange den Verdacht, dass diese Dame der Grund für den frühen Dienstbeginn des Kollegen sein musste. Wer meldete sich schon freiwillig für Wochenenddienste, wenn nicht Ehemänner, die sich nach Ruhe sehnten? Immerhin hatte ein Gespräch mit Madame Dubois genügt und der alte Sergeant hatte einen Termin beim Ohrenarzt erhalten.

 

Paul Schlueger, die Sportskanone im Revier, hatte seinen kleinen Sportwagen bereits mit quietschenden Reifen auf dem Hof vor der Wache abgestellt. Gleich würde er hereinplatzen und wie jeden Morgen etwas zu aufdringlich und zu lässig „bonjour“ rufen. Heute war Dienstag. Also Tennistag und Schlueger würde bereits um 15 Uhr nur noch vom bevorstehenden Match gegen irgendeinen anderen Sportcrack aus dem Tennisclub reden. Wie er sich bei der Augusthitze, die seit Tagen herrschte, freiwillig einer solchen Tortur unterziehen konnte, war Muller ein Rätsel.

 

Als letzter Sergeant würde Yannick Lefevre eintreffen. Der Junge war erst 26 und sozusagen das Küken der Truppe. Ein ruhiger Bursche, der es endlich geschafft hatte, Muttis Rockschürze loszulassen und sich eine eigene kleine Wohnung in Colmar anzumieten. Seit er allerdings allein wohnte, hatte er hin und wieder Probleme mit seiner Uniform. Mal war das Hemd nicht gebügelt, dann fehlte die Dienstmütze. Dass er statt der eigentlich vorgeschriebenen schwarzen Schuhe lieber Cowboy-Boots trug, hatte Muller inzwischen akzeptiert. Er setzte große Hoffnungen in den Burschen, dessen Haupt zwar schon erste Ansätze einer kommenden Glatze aufwies, der aber über einen messerscharfen Verstand verfügte und seine Arbeit liebte. Was ihm fehlte, war nur der richtige Bildungsabschluss. Muller musste ihn unbedingt dazu bringen, noch einmal die Schulbank zu drücken, damit der Junge wenigstens in den gehobenen Dienst aufsteigen konnte.

 

Halb neun. Alle Mann an Bord. Seit Muller genau um diese Uhrzeit ein gemeinsames Dejeuner mit der fälligen Dienstbesprechung kombinierte, klappte die ganze Sache schon um einiges besser. Das Fahrrad von Madame Weber würde heute Dubois vor dem Supermarkt abholen und bei der alten Dame abliefern müssen. An jedem Tag der Woche war ein anderer Kollege dran. Und jeder musste Madame hoch und heilig versprechen, dass der vermeintliche Dieb bereits in Paris einsaß und mindestens zehn Jahre kriegen würde.

 

Eigentlich war Muller seit einem halben Jahr ein glücklicher kleiner Stadtflic. Die großen Schlampereien seines Vorgängers hatte er relativ schnell in den Griff bekommen und abgestellt. Mit seinen Männern verstand er sich, bis auf kleinere Reibereien, die es überall gab, recht gut. Ab und an ein netter Kegelabend, die Frage nach Frau und Familie und ehrliches Interesse an seinen Untergebenen hatten das anfängliche Eis viel schneller gebrochen, als anfangs zu erwarten war. Und für die leidige Schreiberei war inzwischen Madame Reinier da. Sie arbeitete montags von 13.00 Uhr bis Dienstschluss. Muller war noch immer stolz darauf, dass er diese Sekretärinnenstelle beim Bürgermeister durchgesetzt hatte. „Präsenz, Monsieur le Maire, das ist das A und O. Aber wie sollen meine Männer sichtbar sein, wenn sie Formulare ausfüllen und Protokolle tippen müssen?“ - Irgendwie hatte Muller beim Bürgermeister der kleinen Stadt einen Stein im Brett. Seit Mai war Madame Reinier Teil der Truppe und in den Aktenordnern herrschte endlich so etwas wie Ordnung.

 

Nach dem Dejeuner würden Lefevre, der belgische Vorfahren hatte, und Schlueger mit dem Dienstwagen durch das Städtchen und die angrenzenden Dörfer fahren, während Muller hier mit Dubois die Stellung hielt. Die Dienstpläne für die nächsten Wochen schrieben sich nicht von alleine. Dass er sich bei der Einteilung der Wochenendbereitschaften ebenso oft selbst

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 02.10.2021
ISBN: 978-3-7487-9610-7

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Widmung:
Liebes Elsass, irgendwann komme ich, um zu bleiben!

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