Weil
Ich weiß es noch wie heute und man hat mir später sogar das Datum genannt: Es war der 28. August 1968 und es muss mitten in der Nacht gewesen sein, denn mein Vater trug mich, weil ich vor Müdigkeit nicht mehr auf eigenen Beinen stehen konnte. Ich war fünf Jahre alt und ich befand mich in einer riesigen Backstube, in der fremde Männer damit beschäftigt waren, Teig zu Brezeln zu formen. Und mein Vater erklärte mir jeden Arbeitsschritt, ohne dass ich viel verstand. Ich wollte nur endlich in ein Bett und schlafen.
Ob man in dieser seltsamen Nacht eines für mich aufschlug oder ob ich im Bett meiner Eltern schlief, das weiß ich nicht mehr zu sagen. Aber ich schlief lang und fest, denn am nächsten Morgen, als ich erwachte, schien die Sonne und ihr Licht war so grell, dass es in den schläfrigen Augen brannte. Niemand war um mich herum. Wo war ich überhaupt?
Der Umzug nach Weil am Rhein hatte ein langes Vorspiel gehabt, denn dass mein Vater einmal selbstständig eine Bäckerei führen würde, das war noch ein, zwei Jahre zuvor völlig undenkbar gewesen. Wir wohnten in einem Dorf des südlichen Schwarzwalds zur Miete. Mehr konnte sich eine Arbeiterfamilie nicht leisten. Aber wir wohnten schön. Alles war für damalige Zeiten luxuriös: drei Zimmer, ein Bad, ein Speicherraum und eine Waschküche im Keller. Eine Waschmaschine besaßen wir noch nicht, aber eine Wäscheschleuder. Aus dem Küchenfenster sah man hinab auf Felder und Wiesen und die Straße vor dem Haus war nicht einmal geteert. Vater fuhr jede Nacht um zwei Uhr ins benachbarte Bonndorf, wo er für den Bäcker Preuß arbeitete. Sein Arbeitstag hatte oft mehr als zwölf Stunden. Einen freien Samstag gab es nicht und das einzige Vergnügen, das er sich leisten konnte, war der Fußball. Sonntags stand er mit seinem schwarzen Pulli, der blauen Sporthose und mit blanken Händen im Tor des SV Ewattingen. Nach dem Spiel waren seine Knie regelmäßig verschrammt. Dann trank er ein Bier mit den Sportkameraden. Als ich vier oder vielleicht doch schon fünf war, durfte ich manchmal mitfahren und ich war stolz darauf, auf dem Beifahrersitz unseres schneeweißen NSU-Prinz sitzen zu dürfen, auch wenn mir VWs viel besser gefielen. Alles wirkte damals stabil auf mich. Die Oma wohnte im Dorf. Bei Max, dem Lebensmittelhändler, gingen wir einkaufen. Es gibt ihn heute noch. Mutter holte das Haushaltsgeld bei der Post ab und manchmal fuhr sie mit mir im gelben Postbus nach Bonndorf, um das eine oder andere zu besorgen, das es im Dorf nicht gab. Seit meine Schwester auf der Welt war, arbeitete Mutter nicht mehr. Wenn das Wetter gut war, bestellte sie hinter dem Haus ein kleines Gemüsebeet. Es war eine friedliche Welt, auch wenn ich mich vor meinem Vater oft fürchtete. Er war es, der im Haus die Ohrfeigen verteilte, wenn ich etwas Falsches gesagt oder sonst etwas angestellt hatte. Das ging dann immer blitzschnell und oft wusste man gar nicht, was man eigentlich angestellt hatte. Mutters Drohung, dem Vater am Abend etwas zu erzählen, konnte einem Angst und Schrecken einjagen.
Hin und wieder gab es laute Worte, die nichts mit mir zu tun hatten. Die Großmutter, eine Kriegerwitwe aus Westpreußen, die mitten im Dorf wohnte, war ein ständiges Reizthema für meinen Vater. Sie säte immer wieder Streit und Unfrieden und Vaters Geschwister, die an anderen Orten verheiratet waren, trugen nicht sehr viel dazu bei, dass Oma die Themen ausgingen. Vater wollte sich immer wieder lossagen von seiner Familie, aber irgendetwas hielt ihn davon ab. Er litt unter den Gerüchten über Alkoholexzesse seines Bruders, der als Gipser auf dem Bau arbeitete und unter der Streitsucht seiner Schwester, die irgendwo im Schwarzwald einen mir damals schon unterbelichtet erscheinenden Bauunternehmer geheiratet hatte. Ich glaube, Vater wollte einfach weg von all dem, denn wo er in jenem Dorf Ewattingen auch hinging, immer fand sich jemand, der ihm erzählte, dass sein Bruder wieder irgendwo besoffen herumgestanden hatte. Dass Georg, so hieß der Bruder, trotz aller angeblichen Exzesse tagtäglich pünktlich zur Arbeit ging und oft mehr als zwölf Stunden schuftete, das galt den Bauern im Dorf nichts. Auch dass ihm seine Frau, eine Einheimische, ein Kind untergejubelt hatte, mit dem er nichts zu tun hatte und das er trotzdem annahm, ignorierte das Dorfvolk gefissentlich. Die Barlanders waren nur Zugezogene, Flüchtlingspack, Polacken. Darunter litt Vater sein Leben lang. Als er vier, seine Schwester sechs und sein Bruder acht Jahre alt und alle drei schon Halbwaisen waren, da mussten sie mit ihrer Mutter aus der Danziger Gegend fliehen. Zunächst landeten sie in Mecklenburg bei einem Bauern. Wenige Wochen später ging ein Transport an die Unterelbe. Fast genau dort, wo heute ein stillgelegtes Atomkraftwerk steht, kam die Familie unter. Vater erzählte oft von „seinem“ St. Margarethen, von den Menschen dort, die den Flüchtlingen vorbehaltlos begegneten und manche Kartoffel und manches Pfund Mehl mit ihnen teilten. Als aber Vaters Bruder die Volksschule verließ und 14 war, gab es keine Lehrstellen im Dorf. In Hamburg hätte sich wohl etwas gefunden, aber Oma wusste um den labilen Charakter ihres ältesten Sohnes und wollte nicht, dass er unter Schauermänner und anderes Volk geriet. Einen Beruf aber sollte er lernen. Und so kam es, dass die Familie 1950 in den Schwarzwald zog. Ein Onkel meines Vaters, der mit Omas Schwester verheiratet war, war schon dort und hatte wohl auch gleich Arbeit gefunden. Also zog die Familie in das damalige Land Baden. Mit dem Zug, mit Bussen und zu Fuß ging es einmal längs durch Deutschland. Man wurde bei Bauern in eine winzige Wohnung eingewiesen, deren Miete von Oma mit einer spärlichen Witwenrente und mit Näharbeiten bestritten wurde. Es muss schrecklich gewesen sein für meinen Vater. Die eisige Kälte und der Schnee im Winter, die Bauernkinder, die ihm „Polacke“ hinterherriefen, der geistig beschränkte Dorfschullehrer, der selbst des Schriftdeutschen nicht mächtig war, weil er Ewattingen in seinem ganzen Leben nie verlassen hatte und eigentlich nur ausgebildeter Schuldiener war. Am schlimmsten muss die Sprache der Einheimischen auf ihn gewirkt haben. Verglichen mit dem weichen und breiten westpreußischen Akzent der Mutter, muss sich der alemannische Dialekt, der in Ewattingen noch heute gesprochen wird, wie eine entsetzliche Knochensäge angefühlt haben. Und verstanden hat Vater anfangs bestimmt auch kaum etwas. Es muss lang gedauert haben, bis der eine oder andere Schulkamerad auf dem Heimweg neben ihm herging, mit ihm redete und dabei das Wort „Polacke“ vermied. Nein, einfach hatten sie es nicht und Anfeindungen gab es in dem Dorf weiß Gott genug. Als Vater zwölf und im Omas Augen alt genug war, an schulfreien Tagen und nachmittags etwas zum mageren Familienbudget beizutragen, da hatte ein Kaufmann im Dorf Mitleid und bot ihm an, ihn im Laden zu beschäftigen. Waren auszupacken, Mehl und Haferflocken in die richtigen Gefäße einzufüllen, den Laden zu fegen, all das verstand mein Vater damals schon. Und es war sein Glück, dass jener Mann, dessen Name wohl Kaiser lautete, eine politisch dunkle Vergangenheit hatte. Was sein Führer und seine ehemalige Partei angerichtet hatten, das konnte er an dem kleinen Barlander jeden Tag sehen. Er hatte Mitleid und wollte helfen, dass aus Johann etwas wurde. Eines Tages, es war wohl im Winter 1953/54, muss er ihn gefragt haben, was er einmal werden wolle. Und Vater sagte, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, dass er „Brott und Bretchen“ backen wolle, weil ein Bäcker nie Hunger habe. Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie er das Wort „Brot“ ausgesprochen haben muss und wie seine Augen dabei geglänzt haben müssen. Hunger war das Leitthema seines Lebens gewesen und Brot war für ihn etwas Magisches, Sattmachendes und oft genug wohl auch Unerreichbares gewesen. Dieser Herr Kaiser war möglicherweise enttäuscht von Papas Antwort. Vielleicht hatte er gehofft, der Flüchtlingsjunge würde bei ihm in die Lehre gehen wollen, aber er ließ sich diese Enttäuschung - wenn es sie denn gab - nicht anmerken. Stattdessen rief er - man stelle sich das vor: Der Mann hatte ein eigenes Telefon! - einen ehemaligen Parteigenossen in Hüfingen bei Donaueschingen an und bat ihn, den Flüchtling Ortwich nach Ostern in seiner Backstube auszubilden. Der Meister hieß bezeichnenderweise „Deutsch“ und stammte aus der Pfalz. Für Vater war das ein Glücksfall, denn anders als bei den oft engstirnigen und verstockten Alemannen traf er hier auf einen Menschen, der manchen Ort in seinem Leben gesehen hatte und der dem Flüchtling zwar streng, aber doch offen und gütig begegnete.
Und so wurde aus meinem Vater bald ein brauchbarer und tüchtiger Bäckergeselle. Mit 16 1/2 Jahren hatte er
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG Tag der Veröffentlichung: 02.10.2021 Alle Rechte vorbehalten Widmung:Impressum
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Meinem Vater, der immer glaubte, man könne es durch Fleiß und Arbeit zu etwas bringen. Er hat im falschen Land gelebt.