Lilienmorde
Die Nacht war windig und etwas nieselig. Über dem Schwarzwald hielt langsam, aber sicher der Herbst Einzug und bald würden sich die ersten Frostnächte einstellen. Martina Erler war spät ins Bett gekommen. Erst gegen Mitternacht konnte sie die Gaststätte zur Lilie im Dörfchen Feldweiler endlich abschließen. Die Kühe im Stall, der zum Gebäudekomplex gehörte, waren längst versorgt und die restlichen Gläser würde sie am nächsten Morgen spülen. Warum ihr Mann neben der Gaststätte unbedingt noch Landwirtschaft betreiben musste, fragte sie sich schon lange nicht mehr. Die Lilie war seit Jahrhunderten Bauernhof und Gaststube in einem gewesen und auf Tradition legte ihr Mann größten Wert, wenn er auch sonst kaum für irgendwelche Werte stand. Wo er nur blieb? Gegen neun Uhr abends hatte sein Freund, der Anwalt aus der alten Kreisstadt, plötzlich angerufen und keine zehn Minuten später war Heinz in dessen Auto gestiegen, weil sie noch etwas Dringendes zu besprechen hatten.
Warum sie dies nicht gleich an Ort und Stelle getan hatten, wusste Martina Erler nicht. Es interessierte sie auch nicht sonderlich. Irgendwann würde er schon wieder aufkreuzen, schließlich musste er morgen früh um halb sieben in der Fabrik sein, wo er so ganz nebenbei auch noch halbtags angestellt war. So ganz nebenbei - ja das galt eigentlich für alles, was dieser Mann in seinem Leben hervorgebracht hatte. Nichts tat er richtig, alles lief nur nebenbei. Ob es seine Wirtsstube, seine Kühe, seine Arbeit im Betrieb oder seine - wie er es hochtrabend bezeichnete - „politische Karriere“ war. Heinz machte alles nebenbei und er fand immer jemanden, der für ihn die lästigen Arbeiten erledigte. Auch um den behinderten Sohn hatte er sich nie recht gekümmert. Der "Krüppel" war eben da, da konnte man nichts tun. Die Arbeit im Stall, in der Gaststube und mit dem Kind war immer nur an ihr hängen geblieben. Mit diesen Gedanken schlief sie ein und sie schlief fest und tief, denn die Müdigkeit, die sie tagsüber zu unterdrücken wusste, ließ sie meist schnell einschlafen.
Es musste gegen halb drei Uhr gewesen sein, als sie von einem Schrei und dem Schlagen einer Tür aus unruhigen Träumen geweckt wurde. Ihr inneres Alarmsystem ließ sie ruckartig aufstehen und ins Zimmer des Sohnes gehen, der aber fest und tief zu schlafen schien. Wo konnten diese Geräusche nur hergekommen sein? Bestimmt hatte Heinz wieder einmal die Stalltür nicht richtig verriegelt. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Mann noch immer nicht heimgekehrt war. Das Bett neben ihrem war leer geblieben. Es wäre nicht das erste Mal, dass er nach einer Sauftour mit einem seiner vielen Freunde gleich zur Arbeitsstelle fuhr. Und was das immer für Freunde waren! Martina Erler hatte nie verstanden, wie ihr Mann, der eigentlich gar keinen Beruf erlernt hatte, so schnell und einfach an Bekannte kommen konnte, die Anwälte, Fabrikanten, ja sogar Pfarrer oder Bürgermeister waren. Sie griff den großen, klobigen Hausschlüssel, der wohl noch aus der Zeit vor den Kriegen stammen musste, stieg die knarrende, alte Treppe hinab und schloss die Außentür auf. Die Stalltür stand tatsächlich offen. Dabei hätte sie schwören können, dass sie abends noch verschlossen gewesen war. Nun, da sie frontal zur Stalltür stand, sah sie auch den Lichtschein, der aus dem Nebengebäude kam. Die Lampe war an und gab ein fahles Arbeitslicht von sich. "Heinz! Heinz, bist du da?"
Was Martina Erler in diesem Augenblick noch nicht ahnen konnte, war, dass Heinz tatsächlich nur wenige Schritte vor ihr auf dem Boden lag und nie wieder auf ihr Rufen antworten würde. Nur ein paar Schritte ging sie weiter und sah ihren Mann blutüberströmt in seinem blauen Arbeits-Overall auf dem Boden liegen. Die Kühe ringsherum schien all dies wenig zu interessieren. Sie blickten träge und desinteressiert auf den toten Mann und taten, was sie immer taten: sie kauten träge vor sich hin. Martina Erler fragte sich, welche Gefühle sich jetzt eigentlich bei ihr einstellen müssten. Ihr erster Gedanke galt seltsamerweise nicht dem toten Ehemann, er galt dem schäbigen Overall, mit dem er unterwegs gewesen sein musste. Sie schämte sich dafür, dass ihr Mann so herumlief. Wer wusste, wo er gewesen war? Und wo war Richard, der Anwalt, der ihn abends angerufen und später mit seinem 200er Audi abgeholt hatte? Alles Mögliche ging ihr durch den Kopf, nur für Trauer oder gar Tränen war kein Platz in ihren Gedanken. Vielleicht konnte sie ja wenigstens bei der Beerdigung ein paar Tränen um ihn weinen. Was sollten sonst das Dorf und der Pfarrer denken?
Es war 2.59 Uhr, als bei der Polizeidienststelle in Bilingen-Schwaningen ein Anruf einging, in dessen Verlauf eine Frau sehr sachlich und unaufgeregt berichtete, ihr Mann, der Ortsvorsteher Heinz Erler aus Feldweiler, liege tot im Stall und es sehe alles so aus, als ob ihn da jemand erschlagen hätte. Den diensthabenden Obermeister wunderte im Nachhinein, dass eine Ehefrau so seltsam ruhig auf eine so grausame Tat reagieren konnte. Detailliert habe sie dem Beamten noch den Weg beschrieben und angemerkt, dass im Ort ein Kollege der Bilinger Polizisten wohne, der vielleicht gleich kommen könne. Dann könnten die anderen Polizisten ja zu Hause bleiben.
Irgendetwas hatte Hauptkommissar Hartmut Theissen aus seinem in letzter Zeit sowieso unruhigen Schlaf geweckt. Ein leichtes Scharren war von der Haustür an sein Ohr gedrungen. Er blickte auf die Radiouhr, die neben dem billigen Ikea-Wecker auf seinem Nachttisch stand. 3:36 blinkte ihm da entgegen. Der Hund hatte offenbar ein dringendes Bedürfnis. Sollte er warten, bis auch seine Frau von den nächtlichen Geräuschen des Hundes aufwachte oder sollte er selbst nach ihm sehen? Irgendwann würde Pinocchio anfangen zu winseln, weil seine Blase ihn quälte und dann würde sie zwar leise fluchend und jammernd, aber doch immerhin mitleidig aufstehen und er könnte beruhigt weiterschlafen. Dabei vergaß er fast, dass es ihm in letzter Zeit immer schwerer fiel, einfach wieder die Augen zu schließen und in den unterbrochenen Tiefschlaf zurückzufallen. Ruckartig stand er auf, zog notdürftig eine Hose an und ging zur Tür, wo der arme kleine Hund schon beinahe die Hoffnung auf baldige Erlösung aufgegeben zu haben schien. Wo war nur das verdammte Halsband, das sie ihm abends immer abnahmen, weil sie meinten, er schlafe dann besser? Ohne seine Brille war er noch nachtblinder als sonst. Kaum hatte er die Küche erreicht, da griff seine Hand nach dem Lichtschalter und dort fand er auch das Halsband auf dem großen eichenen Tisch, den seine Frau erst kürzlich angeschafft hatte. Der Hund wurde langsam ungeduldig und gab jetzt auch leises Wimmern von sich. Kaum war die Haustür entriegelt, da sprang er auch schon aufs Gartengrün. Wenigstens ließ er er gleich alles laufen und drehte sich sogleich wieder in Richtung Haustür um. Theissen war froh darum, dass Pinocchio nicht noch mehr zu erledigen hatte, denn die Nacht war feucht und kühl und sein T-Shirt, das er im Bett trug, vermochte nichts von dieser Kälte abzuhalten.
Die Uhr im Hausgang zeigte jetzt 3:49. Zwei Stunden hatte er noch Zeit, wenigstens einigermaßen zu ruhen. Pinocchio lag schon wieder zufrieden in seinem Körbchen neben dem Bett der Ehefrau, als das Handy von irgendwoher seinen Vibrationston von sich gab. Bestimmt irgendein Idiot, der sich verwählt hatte. Aber Theissen wusste, dass er, selbst wenn er nicht abgenommen hätte, in spätestens fünf Minuten doch aufs Display seines Mobiltelefons geblickt und kontrolliert hätte, wer da mitten in der Nacht anrief. Er bewunderte andere Kollegen, die einfach alles ignorieren und auf Feierabendmodus umschalten konnten. Er konnte es nicht. Und selbst im Urlaub brauchte er immer mindestens eine Woche, um weniger an die Arbeit, die Kollegen, die Fälle und Akten zu denken. Ganz gelang es ihm nie, von allem abzuschalten. Sein Arzt hatte ihn vor einigen Monaten genau davor gewarnt und ihm bei einem Routinecheck beizubringen versucht, dass man mit beinahe 50 auf Pausen, Entspannung und Erholung achten müsse, wolle man nicht irgendwann ausbrennen wie so viele andere, die in der Folge nicht bis 65 durchhielten und vorzeitig den Dienst quittieren mussten.
"Theissen", murmelte er mit noch etwas belegter Stimme in den Hörer. Er meldete sich noch immer mit seinem Nachnamen, weil er meinte, dass es sich so gehöre. Er fand es geradezu unverschämt, wenn am anderen Ende nur ein rotziges "Ja" erscholl. Jedesmal musste man dann zurückfragen, mit wem man denn verbunden war. Er hasste dies, wie er alle Modeerscheinungen aus der heutigen Unterschicht hasste. Leider hatte er in den vergangenen Jahren aber feststellen müssen, dass dieses blöde "Ja" inzwischen auch von durchaus bürgerlichen Menschen immer öfter in den Hörer abgesondert wurde. "Fasse Dich kurz!", hatte früher an den gelben Telefonzellen und in Postämtern gestanden und er fand dies nach wie vor richtig, auch wenn Telefonleitungen im Zeitalter der digitalen Kommunikation offenbar immer zur Verfügung standen. Dazu gehörte für ihn aber auch, sich knapp und ordentlich mit dem Namen zu melden.
Als er aber zu dieser frühen Stunde erfuhr, dass sich in der unmittelbaren Umgebung seines Hauses ein Gewaltverbrechen abgespielt haben sollte, wurde er doch unsicher. Ja, er glaubte sich in einem bösen Traum gefangen, schließlich stand sein Bett nur wenige Meter entfernt und seine Gedanken kreisten noch nicht in der gewohnten Geschwindigkeit. Am anderen Ende hörte er aber klar und deutlich die Stimme seines Kollegen Mütz, der ihn niemals zu dieser Zeit geweckt hätte, wenn nichts Ernstes vorgefallen wäre. "Wo sagst du?" "Na da, bei dir da drauße in dem Kuhkaff an der Kreisgrenz. Feldweiler, da wohnsch du doch?" Theissen nickte nur. "Ich komme gleich, gebt mir fünf Minuten!" Nicht einmal die Zeit für eine Tasse Tee und die geliebte Morgenzigarette blieb ihm mehr. Warum hatte er sich nicht wenigstens zehn Minuten ausgebeten?
Jetzt hatte diesen reichlich dubiosen Gastwirt, der nebenberuflich Landwirt, Fabrikangestellter und Ortsvorsteher gewesen war, also tatsächlich der leibhaftige Teufel geholt. Männliche Leiche, ca. 50 Jahre alt, im Gasthaus zur Lilie erschlagen von der eigenen Ehefrau vorgefunden. Es konnte sich nur um diesen Typen handeln. Wie hieß er noch? Erler, genau! Obwohl Theissen schon seit drei Jahren in diesem Dorf wohnte, interessierten ihn die anderen Bewohner wenig. Er mochte keine Leute, die seit Generationen im gleichen Nest wohnten und von denen er annahm, sie hätten keinerlei Horizont. Von diesem Ortsvorsteher hatte er gehört. Ein reichlich zweifelhafter Charakter, der gerne soff und seine Frau wie ein Stück Vieh behandelte. Zudem trieb er sein wirkliches Vieh regelmäßig über die einzige Verbindungsstraße zu einer seiner Wiesen, was zur Folge hatte, dass die Straße oft für 15 Minuten versperrt blieb und hinterher voller Kuhdung war.
Während er sich kaltes Wasser über den Kopf laufen ließ und sich wenigstens noch die Zähne putzte, fiel ihm ein, dass Mütz ja auch schon wach sein musste, obwohl er zu keinerlei Nachtdiensten eingeteilt war. Mütz war seit einem Jahr Theissens rechte Hand. Ein junger Oberinspektor aus der Gegend um Heidelberg, den es aus irgendeinem Grund an den Rand des Schwarzwalds verschlagen hatte.
Draußen sah Theissen beim Nachbarn bereits Licht brennen. "Kein Wunder!", dachte Theissen. Einer wie dieser arbeitsscheue Melker - so war sein Name - konnte nachts sicher nicht schlafen. Wovon sollte er auch müde sein? Seine eigene Müdigkeit fiel Theissen erst jetzt wieder auf, als er den Wagen öffnete. Warum nahm er eigentlich das Auto? Die Lilie war nur etwa 800 Meter weit weg, da konnte er ebenso gut zu Fuß gehen. Das würde vielleicht auch die Müdigkeit verscheuchen.
Tatsächlich erreichte er den Fundort - oder war es doch ein Tatort? - nach wenigen Minuten, die er zunächst gehend, dann aber im leichten Joggingschritt zurückgelegt hatte. Er erkannte zwei Einsatzfahrzeuge und den Wagen des Roten Kreuzes. "Da bist du ja!", rief ihm der Notarzt entgegen. Es war offenbar sein alter Freund Karl-Heinz, der die Nacht über Dienst gehabt hatte. Seit er selbst einmal bei ihm im Wagen gelegen hatte, duzten sie sich, ohne dass einer dem anderen dies angeboten hätte. Das hatte sich einfach so ergeben und Theissen hatte keine Aversionen dagegen entwickelt, obwohl er das Du, das sich heute in fast allen Kreisen auf Kosten des Sie durchzusetzen schien, eigentlich verabscheute, wenn es nicht von Herzen kam.
"Du kannst schon mal reingehen, deine Kollegen von der Spurensicherung kommen aber erst noch. Kein schöner Anblick, der liegt da im Kuhstall und der Kuhstall - naja...." Karl-Heinz Emmer brauchte nicht weiter zu reden. Die Zustände im Hause des Herrn Ortsvorstehers waren weithin bekannt und selbst in der zehn Kilometer entfernten ehemaligen Kreisstadt nannte man ihn nur die "Wildsau von Feldweiler", was wohl auch etwas mit den hygienischen Zuständen in seinem Kuhstall zu tun hatte. Als Theissen den Fundort der Leiche betrat, stellte es ihm erst einmal die Luft ab. Verwesungsgeruch hätte gegen den Gestank, der in diesem Stall herrschte, kaum eine Chance gehabt. Da lag er vor ihm: die Schädeldecke deutlich eingedrückt, blutüberströmt und in einem blauen, einteiligen Arbeitsanzug, wie ihn Bauern neuerdings trugen, wenn sie auf ihren PS-strotzenden Traktoren oder auf ihren Höfen zugange waren. Der gezwirbelte Schnurrbart war auch im etwas schummerigen Licht des Stalls gut zu erkennen.
"Wer hat ihn nochmal gefunden?", fragte Theissen bei Mütz nach, der gerade aus dem Schatten des Stalls getreten war und den Theissen bis dahin dank seiner Nachtblindheit völlig übersehen haben musste. "Sei Frau. Sie hat bis tief in die Nacht geschafft und uff ihn gewartet. Scheint aber an sich nit beunruhigt gewese zu sei, weil der Mann wohl öfter spät heimgekomme ist. Der Dr. Emmer meint, der müsst ziemlich voll gewese sei, wo das passiert isch. Aber auch das war wohl bei ihm nicht ungewöhnlich. Ich frag mich nur, warum der so en Arbeitsanzug angehabt hat, wenn er doch ausgegange sei soll." An Mütz´ Singsang in der Stimme und die pfälzische Mundart, die er meist sprach, hatte Theissen sich nur langsam gewöhnen können. Inzwischen war sie ihm aber recht vertraut und manchmal, wenn die Lage entspannter als in dieser Nacht war, ließ er sich von Mütz sogar "Underrischd gebe", um den Dialekt selbst besser zu durchdringen.
Theissen machte sich über die Kleidung des Toten wenig Gedanken. Die Bauern hier trugen ihre Arbeitskleidung am liebsten den ganzen Tag und wenn sie noch Kirchgänger gewesen wären, dann hätten sie den Gottesdienst sicherlich auch in Gummistiefeln besucht. Ihm ging vielmehr die Frage durch den Kopf, wie er eine persönliche Mitarbeit bei der Auflösung des Falls verhindern konnte. Er wohnte in diesem Ort und er glaubte, die Dorfstrukturen in
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Uwe J. Ortwich
Tag der Veröffentlichung: 13.02.2018
ISBN: 978-3-7438-5620-2
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Meiner lieben Frau, die all das mit mir ertragen hat.