S c h l a f s t ö r u n g
Tschersow war der einzige Arzt der Stadt, der es fertig brachte, in einer baufälligen Villa zu praktizieren. Während ich mich, ohne wirklich ernsthaft erkrankt zu sein, die Treppe ächzend hinauf schleppte, schleppten sich in mir wirre, weitschweifige Gedanken fort. Auf eine andere Art, als es die Anamnese des Arztes hätte erfassen können, schien ich nicht eben gesund zu sein. Ein Wort zu und auf dieser Treppe: Für die unter den Leserinnen und Lesern, die weitschweifige und schweratmige Geschichten, die auf asthmatisch stöhnenden Treppen beginnen, nicht mögen, hege ich tiefstes Verständnis. Allerdings kann ich nur anbieten, an dieser Stelle abzubrechen und mich nicht in Tschersows Wartezimmer zu begleiten. Es ist ein unsicherer Patient, der sich jetzt bei der graumelierten Schwester zur Sprechstunde anmeldete. Schon gut, die Schwester war rotblond und hörte Walkman, aber das änderte nichts an den Tatsachen.
Am vierten März 1977 wählte ich meinen Wohnsitz in dieser kleinen Stadt an der Saale. Wenn ich heute, im neuen Jahrtausend, durch die Straßen lief, sah ich, wenn ich wollte, ganze Häuserzeilen, die in den letzten beiden Jahrzehnten abgerissen wurden. Immer, wenn ich durch die Große oder Kleine Klausstraße oder beispielsweise durch die Wallstraße lief, bewegte sich in meinem Kopf ein jüngerer Mann an älteren Fassaden vorüber, die - wie ich in meiner altmodischen Art nicht zu hoffen unterlassen kann - jetzt im Himmel stehen würden. Anscheinend hatte Gott sich in den letzten zwanzig Jahren da oben ein komplettes zweites Städtchen genehmigt. Selbst mein Lieblingsgasthaus, der alte Sargdeckel, war samt Wirt zu diesem verdammten Enteigner verschwunden. Seit 1977 habe ich manches ausgewechselt, anderes ist mir ausgewechselt worden: Die Bekleidung, wesentliche Zellkulturen, Bestandteile meiner Leber, Wohnadressen, Freunde und Lebensabschnittspartnerinnen, das Warenangebot, die Währung und die berufliche Orientierung, die Gewohnheiten und die Marke meiner Zigarette, geblieben ist eigentlich nur eins konstant: Tschersow, der behandelnde Hausarzt. 1977 gab es draußen noch Außenputz und die Gemeinschaftspraxis war als Stadtambulatorium der Poliklinik angeschlossen, aber er war es schon, der meine Krankenscheine ausfüllte und mein Zipperlein kurierte.
In Tschersows Praxis wartete man schon mal ein bis zwei Stunden - die meisten Patienten mit gesenkten Köpfen - ehe der Arzt persönlich durch die halb geöffnete Tür des Behandlungszimmers den Namen aufrief. Nachdem die Schwester den Raum verlassen hatte, schüttelte mir mein Hausarzt die Hand und sagte, seit 1977 mit immer dem gleichen Ritual eröffnend: „Was haben wir denn für Beschwerden?“ Wenn ich vorher keine hatte, nach der Konsultation habe ich bestimmt welche. Für einen Raucher wie mich ein hartes Stück Arbeit: . . . einatmen, ausatmen und noch mal tief Luft holen. Auf Nachfrage hat mir der Doktor mal gesagt, das sei aber normal, den meisten Patienten würde in dieser Situation schwindlig. Auch für das chronisch in dieser Art von Gespräch vorkommende linke Ohr verschrieb mir der Arzt, während ich meinen Oberkörper wieder ankleidete, noch ein paar Tropfen. Endlich trug ich meine Bitte vor: Ich konnte schlecht schlafen und der Arzt durfte heutzutage so manches nicht mehr auf Kosten der Krankenkasse verschreiben. Aber, ich dachte es mir schon, der gute alte Sanitätsrat wusste Rat. Einer von diesen Vertretern hatte eine Probepackung da gelassen. Das neue Medikament hieß Continuum 35,6 und sei sehr gelobt worden. Ich bedankte mich höflich und versprach, was ich aufgrund von Umständen, die ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht einkalkulieren konnte, würde später nicht halten können – nämlich eine Woche darauf zur Nachuntersuchung vorbei zu kommen.
An diesem Tag wurde ich nicht alt, wie man so sagt. Nach dem Lesen einer Kurzgeschichte nahm ich das neue Medikament ein und ging zu Bett.
Continuum 35,6 schien sofort zu wirken.
In der kleinen Stadt, in der ich wohne, brachten sie es manchmal fertig, eine Mietskaserne aus der Gründerzeit liebevoll zu sanieren und gleichzeitig ein Barockhaus abzuruppen, wie die Leute hier sagen, da kannten se nüscht. Es war sinnlos, was unternehmen zu wollen, denn die da oben, wie hier die Chefetagen in Wirtschaft und Verwaltung immer noch bezeichnet wurden, die kungelten untereinander. Immer wieder wurden Häuser zum Tod durch Abrissbirne verurteilt.
Ich stromerte in so einem Haus das für den Abriss vorgesehen war herum. Die Tür offen, die Briefkästen teilweise aufgerissen, die Zähler ausgebaut. Die zerbrochenen Scheiben klimperten im Wind, der Zeitungsfetzen und alte Briefe vor sich her trieb. Irgendwo hörte ich Stimmen, Geräusche, vielleicht spielten Kinder hier. Ich steckte meine Zigarette lieber wieder in die Schachtel zurück, manchmal strömte Gas aus in so alten Buden. Im obersten Stockwerk stand ich vor einer verglasten dreiflügeligen Tür. Bis hierher schienen die üblichen Randalierer noch nicht vorgedrungen zu sein, sah alles heil aus. Verspielte Schnitzerei umrahmte das Glas der Tür, schimmernde Messingklinke, dazu die passenden Beschläge, oberhalb neogotische Bögen, die Gläser waren geschliffen.
Als die Tür zu brennen begann und die Treppe zur schiefen Ebene wurde, erwachte ich japsend. Ich lehnte mich an die Wand. Mein feucht geschwitzter Schlafanzug ekelte mich, außerdem hatte ich mich besappert.
Es war nur ein Traum, versuchte ich mich zu beruhigen, während ich Wasser trank, mir eine Zigarette ansteckte. Bis ich es ein zweites Mal mit dem Einschlafen versuchte, begann draußen aus dem Schwarz der Nacht ein schmieriges Grau zu werden. Ich versuchte, mich in den Schlaf zu zählen: . . . dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig . . .
Die Tür aus solidem Holz, dahinter gedämpftes Licht. Diesmal war es nicht feuergefährlich, alles in Ordnung, nicht mal das Treppengeländer wackelte, geschweige denn, dass aus den alten Stufen eine schiefe Ebene würde. Hinter den Gläsern sah ich: Kopfsteinpflaster, links und rechts zwei und dreigeschossige Häuser. Es roch irgendwie modrig. An einem kleinen, einspännigen Fuhrwerk schimmerte eine Laterne. Das Pferd löste sich aus seiner Starre, und stapfte mit dem linken, hinteren Bein auf das Pflaster, um sofort wieder wie erstarrt zu stehn. Nur hinter einem einzigen Fenster schimmerte Licht - nirgendwo Straßenbeleuchtung, kein Auto, keine öffentliche Telefonzelle. Das Pferd schnaufte und klackte eines seiner Hufeisen auf das Kopfsteinpflaster. Im Haus, aus dem Licht schimmerte, bewegte sich etwas. War ich auf ein historisches Kostümfest geraten? Jetzt hörte ich die Stimme des Alten, der ins Horn tutete und darauf mit tiefer Stimme zu singen begann. Ich musste den schon mal gesehen haben. Richtig, als junger Mann hatte ich in der Lindenoper eine Aufführung von Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ gesehen. Der Alte, der nichts anderes als ein Nachtwächter war, sang bereits: „Löscht das Wasser und das Licht, damit kein Leid geschicht.“ Es schlug zwölfmal, in meinem Traum musste es Mitternacht sein.
Die Straße mochte muffig und modrig riechen, mir erschien sie schön. Wenn ich auf ihr meine Landfahrt begönne, könnte es sein... Wenn ich auch das genaue Jahr bis jetzt noch nicht entziffern konnte, bald würde ich einen Almanach aus dem Sekretär nehmen oder das Datum aus einer Zeitung wie dem Teutschen Merkur erfahren können. Goethe, vielleicht würde Goethe in einer Straße an mir vorübergehen, vielleicht würde ich Stadelmanns Späße hören. Hölderlin, Schiller, Herder flüstert es in mir. Fouqué! Vielleicht Baron de La Motte - einmal den Texter der Undine in der Rathausstraße meiner Stadt anzutreffen . . .
Die Tür vor mir bewegte sich leicht, war nur angelehnt, gelehnt ins achtzehnte, ins neunzehnte Jahrhundert. Ich dachte an die Königin Luise, an die Großfürstin Anna Pawlowna und an andere schöne Frauen, Damen, die ich wahrscheinlich irgendwo aus Bertuchs Journal des Luxus und der Moden heraus phantasierte. „Sinnlichkeit schadet dem Verstande“, wie schon Herder schrieb, was hatte ich anbetracht des Säculums der schöngeistigen Scherenschnitte und Teekränzchen mit lyrischem Journal nicht alles vergessen. Da hinein wollte ich also übersiedeln: Angst vor Krieg und Pest würde es geben, das war mir auch bei Traumkontinuum nicht vorenthalten. Andrerseits; dieses ewige Gequatsche auf allen Fernsehkanälen, diese dauernde Videogeräusch- und Geschwätzwettbewerbsmaschine, die würde ich vergessen können. Kein Auto, kein Fernseher, kein Handy – dafür Gespräche, Hausmusik, Liebhabertheater. Ich öffnete die Tür einen Spalt, suchte einen Stern am Firmament, als wenn ich den Rat der Unsterblichen herbei flehen gewollt und stolperte, wurde justament etwas unpässlich...
Merde, fluchte ich, was für ein blödsinniger Traum. Obwohl, ich rauchte und maulte, als wenn ich zum nächtlichen Gespräch eines Gegenübers nicht hätte entbehren müssen. Ich schluckte: da war es wieder: „Obwohl keiner da war“ hätte als Formulierung völlig ausgereicht, statt dieses schwülstigen „ich zum nächtlichen Gespräch eines Gegenübers nicht hätte entbehren müssen“. Ich formulierte antiquiert, meine Syntax ähnelte schon der ihren. Du hättest statt zum gutmütigen Tschersow zum Psychiater gehen sollen, so dachte ich bei mir. Ich hielt ein Feuerzeug in meinen Händen, auf das, auch auf die Zigarette hätte ich übrigens verzichten müssen. Tja, sicher wäre es mir möglich gewesen, ohne vierspurige Autobahn, amerikanisches Fernsehen, Coca Cola und Neubaublocks zu leben, aber ein paar Menschen würde ich doch vermissen. Wie war das doch bei diesen Science-fiction-Autoren? Ach ja, die hatten von Zeitreise geträumt. Aber da lag für mich ein sehr bedeutender Unterschied. Eine Reise begann und endete, die Tür im Traum bedeutete das, was in meiner aktuellen Welt mit ohne-way-Ticket bezeichnet wurde. Mag sein, es könnte mir gelingen, den Alten Fritzen im chinesischen Teepavillon zu Sanssouci beim Flötenspiel zu belauschen oder mit der Gräfin Cosel zu korrespondieren, aber es würde weder eine Diesellokomotive, erst recht nicht ein Hubschrauber bereit stehen, um mich in mein Jahr zurück zu bringen. Nein, ich würde definitiv nicht wollen. Außerdem war das doch alles langweilig, so fand ich mit einem Mal, die Literatur hat doch längst genug Zeitreisemaschinen auf dem Schrottplatz zu stehen. Ich entschloss mich, endlich noch eine halbe Tablette Continuum einzuwerfen. Morgen früh würde ich Besuch bekommen, Fischke und Evi hatten sich zum Frühstück eingeladen. Aus irgendeinem Grund zahlte in diesem Monat die Wohngeldstelle einen Restbetrag in bar aus. Ich wollte mir endlich Schuhe kaufen, meine alten zogen Wasser und außerdem war geplant, im Restaurant am Rannischen Platz - in Wahrheit eine Bierschwemme, die der Volksmund Holzbock nannte - ein paar Helle zu trinken. Ich drückte meine eben angezündete Zigarette aus und versuchte, wie man so sagt, an der Matratze zu horchen, ich wollte endlich einpennen – nicht in des Morpheus Arme mich begeben.
Ich hatte mir übertriebene Mühe gegeben, meinen Beitrag zum Gelingen des Nachtschlafes zu leisten.Vielleicht hätte ich den Schritt gewagt, wenn ich nicht von anderswo Geräusch gehört hätte. Lief da irgendwo ein Radio? Es hämmerte wie Techno aus überlasteten Boxen, Motorengeräusche, Schreie voller Übermut, Durchsagen. . . Auch die zweite Tür fand ich wie im Schlaf. Schnitzerei und geschwungene Bögen gab es hier nicht, dafür Glas und Chrom. An vierspuriger Kreuzung fuhr ein aufgemotzter Schlitten bei Rot über die Ampel, ein stark geschminktes Mädchen machte mir ein vulgäres, aber eindeutiges Zeichen. Kinder spielten mit Bierbüchsen Fußball. Überhaupt, ein Gedränge war das: Leute glitten per Rolltreppe in einen Metrotunnel, über dem eine Digitalanzeige die Börsenkurse bekannt gab. Musik, Autos und fliegender Müll sausten wie aus der Choreographie einer wahnsinnigen Orgie an mir vorüber, jeder schien jedem etwas ins Ohr oder überhaupt nur so zu schreien. Ich verstand im Detail nichts und verstand doch alles. Hier war es: Der gewöhnliche Fixer und das Wort zum Sonntag, die Leihmutter im Leihauto, der Banker, der heimlich Lyrik las und die Dreizehnjährige, die anschaffen ging, das Plakat für ein Konzert gotischer Polyphonie neben einer Strumpfwerbung, auf der eine Mutter versuchte, wie ihre Tochter auszusehen. Nach dem Kalender brauchte ich anscheinend nicht zu fragen. Es schien mir klar und einleuchtend: Hinter dieser Tür war für meine Zeit, wie vorhin für die andere, eine Art Quintessenz oder eine Überhöhung zu sehen. Es würde so schlimm nicht werden, weil in der Jetzt-Zeit sicher auch Elemente der Ruhe-Oasen verblieben waren. Wer wollte, konnte sich Feder und Tinte, wo Geld vorhanden, auch noch ´nen alten Schreibtisch kaufen und hinter schallisolierter Fassade Vergangenem nachträumen. Ich improvisierte, was ich für weltmännische Pose hielt, um die Schwingtür so lässig wie möglich aufzustoßen, als sie sich, hatte ich das vergessen können, elektronisch selbsttätig öffnete. Grade so schaffte ich es bei Gelb über die Straße zu hüpfen. Wirklich, das war, wie ich es kannte: Kaum steckte ich mir ´ne Zigarette an, kam schon so ´n Schnorrer und wollte auch eine haben. Ein Mädchen wäre mir mit ihrem Skateboard fast vor´s Schienbein gefahren. Sonst alles okay, nur diese Metrostation kannte ich noch nicht. Kurz vor der Rolltreppe holte mich eine Blondine ein. Zuerst glaubte ich an eine Verwechslung, aber sie tippte mir leicht auf die Schulter und flüsterte in mein Ohr: Zeitsprung fünfunddreißig Komma sechs, Alter! Husch war sie weg. Ich auch, zuerst verschwand ich in der U-Bahn und dann wachte ich auf, fühlte mich auf einmal wirklich wohl. Erwartet hatte ich, wie zerschlagen und von Schmerzen geplagt, wie nach durchzechter Nacht zu sein. Fühlte mich sauwohl: Unter der Dusche brüllte ich vor Wohlbefinden meinen alten Lieblingsschlager: Der Mann mit dem Panahmahhut, der ke-hent alle Mä-ädchen so gu-ut. In der Küche drehte ich das Radio bis zum Anschlag auf, brühte mir Kaffee und warf die Packung Continuum in hohem Bogen in den Mülleimer. Was war´n das? Aus meinem Wohn- und Arbeitszimmer hörte ich Stimmen, irgendwer kicherte . . .
Evi und Fischke hatten Gehacktes, Milch und frische Brötchen mitgebracht. Weil meine Tür, irgendwie muss ich nach dem Arztbesuch zu nervös gewesen sein, offen stand, wollten die beiden mich noch schlafen lassen und hatten das Frühstück schon vorbereitet. Alles in Ordnung. Der Aschenbecher quoll über, Fischkes Joint verpestete die Bude, Evi schien nur deshalb noch nicht Wein statt Milch getrunken zu haben, weil der Pegel noch vom Vorabend her stimmte. Unter dem Tisch lag eine bunt bebilderte Tageszeitung und aus meinem Kassettenrecorder dudelte eine Punkband. Die beiden lachten über mein blaues Notfallnachthemd. „Wie siehst de denn wieder aus Holli?“, meinte Evi. „Wo hasten deine Zipfelmütze. Komm mal her. Kommst du aus ´ner andern Zeit oder was?“ „Ihr seht irgendwie alt aus!“, versuchte ich zu kontern. Fischke wiederum zeigte sich nicht faul und holte ´ne Flasche Weißen, also Schnaps, aus dem Rucksack. Jetzt solche Worte wie Behördenweg oder Wohngeldstelle zu erwähnen, wäre mir wie Körperverletzung vorgekommen. Ich machte also gute Miene zum mir nicht lieben Spiel, leerte den Aschenbecher und holte Gläser. Ungefähr zwei Stunden später klopfte der Mann an meine Tür, die aus irgendeinem Grund noch immer offen stand.
Er stellte sich mit Personellpohst vor, überreichte mir eine CD-Rom, ließ mich auf einer dieser neumodischen Folien unterschreiben und ging. Komischer Kauz, meinte Evi noch, während Fischke, neugierig, wie ich ihn nicht anders kannte, die Scheibe in das Laufwerk schob. Meinen Computer hatte ich immer für zu veraltet gehalten, um eine DVD abspielen zu können. Stimme und Bild kamen wider Erwarten glasklar herüber, auch wenn mich Wortwahl und Satzbau etwas verunsicherten, hielt ich den folgenden Film doch für einen gelungenen Gag.
Ein älterer Herr, in Phantasieuniform, begrüßte mich im Namen der Wöhrldkonförderäschen: „Ihr Zeitsprung 35,6. Das heißt im deutschsprachig antiquierten Sprachgebrauch, fortfolgend senophon genannt, die Differenz zur letzten Terminierung beträgt fünfunddreißigeinhalb Jahre nach altem europäischen Kalender. Bitte erschrecken sie nicht! Es besteht keine Gefahr! Wir haben die Mitteilung vorbereitend in den surrealen Untertext ihres Traumes eingespeist. Für Verzerrungen und Nebenwirkungen in der Schlafphase bitten wir um Entschuldigung. Ihre äußeren Lebensumstände haben sich hinsichtlich Kommunikationsverhalten nur geringfügig verändert. Der Weltstaat besteht aus Bundesstaaten, die sich im Wesentlichen an den Grenzen der früheren Nationalstaaten orientieren. Bis auf wenige Liebhaber orientieren sich die Weltbürger an Audiosystemen zur Übermittlung von Sprachkonversation, die Syntax ist verkürzt und anglifiziert, Englisch wird als Behördensprache angesehen, bei senophonen Personen wird auf Wunsch in die alte Nationalsprache übersetzt. Schriftsprache betreiben nur wenige als Hobby. Nun die gute Mitteilung: Aufgrund der gesteigerten Lebensquantität sind während der vergangenen fünfunddreißigeinhalb Jahre nur wenige ihrer Bekannten verstorben. Klicken sie hierfür über worldnet auf die Mitteilung ihres Statistikamtes.
Kriege werden nur noch virtuell geführt, die schlimmsten Krankheiten und Seuchen sind eliminiert. Zur Desillusion: kein Beamen, keine Außerirdischen, keine Raumschiffe zur seriellen Fortbewegung.
In den Innenstädten werden Rolltreppen und lautlose Gleitstraßenbahnen benutzt.Persönlichkeitsprofilgebunde Bekanntmachungen: Statt Sozialhilfe bzw. ALG II oder Hartz IV zahlen wir Alimenta, die Grundversorgung für den Weltbürger. Für mündlich in Talkshows vorgetragene Lyrik gibt es gute materielle Vergütungen, außerdem liegt für Sie ein Begrüßungsgeld bereit. Der zur Zeit meist bekannte Lyriker nennt sich Perikles W. Open Mike. Für schriftsprachliche Kunst in Deutsch gibt es einen Stammtisch in Fusion mit Stammtisch der Freunde einheimischer Mundart. Es existiert ein Verband für Vortragskunst. Bonbon zum Schluss: Ein Präparat gegen Alkoholmissbrauch und Entzugserscheinungen gibt es preiswert über jeden Pharmaversand frei Haus geliefert. Außer ihren Freunden stehen ihnen für die Eingewöhnungsphase ein Sozialtherapeut und unsere Sicherheitsberater zur Verfügung. Bye.“
Irgendwie rührte mich die ganze wirre Geschichte. Den Gag fand ich zwar eigentlich billig, aber die beiden hatten sich immerhin ziemlich viel Mühe gemacht, um mich – senophon ausgedrückt – zu nasführen oder, wie Fischke umgangssprachlicher gesagt hätte, zu verarschen. Das Übereinstimmen mit meinem Traum hielt ich für einen jener Zufälle, die größer sind als ein normal Sterblicher verkraften kann, ohne religiös zu faseln. Dummerweise hatte ich doch noch von dem Weißen aus Fischkes Rucksack getrunken, wenn ich auch den Joint ablehnte. „Was is´ nun mit Gleitstraßenbahn?“, fragte ich Fischke, als wir über die Straße vor meiner Wohnung liefen, um uns mit einer weiteren Flasche zu versorgen. Langsam nervte es mich, dass der anscheinend nicht mehr aufhören würde, seine Rolle in fünfundreißígeinhalb Jahren Zukunft zu spielen, er erklärte mir nämlich: „Das sind nur Nostalgiegeräusche, die sind hier aufgespielt, wegen der Touristen!“ „Wo kommen denn hier Touris her, etwa wegen Händel?“, wollte ich wissen. „Nee“, behauptete Fischke, wegen Händel kämen nicht so viele, aber Halle-Neustadt, das sei ein einzigartiges Flächendenkmal, das wolle jeder sehen.
Auch weil ich hoffte, der angeschlagene Geisteszustand meines Begleiters würde sich nach einem Fassbier – wie ich das in der Vergangenheit des öfteren beobachtet hatte – wieder verbessern, schlug ich vor, in der nächsten Pinte ein Helles zu zwitschern.
In der Kneipe war es allerdings dann an mir, vom Wahnsinn gefährdet zu sein. Weil ich keinen Automaten gesehen hatte, verlangte ich am Tresen meine Sorte. Der Wirt nickte, griff hinter sich ins Regal und sagte nur eine Zahl: „Acht!“
Für acht World, so hieß die Währung - und nun kommt es, was mich endgültig schockte - für acht World händigte mir der Wirt eine einzelne, in Plastikfolie verpackte Zigarette aus. Fischke klopfte mir auf die Schulter. „Nun komm, hast es doch bis jetzt gut aufgenommen, Alter!“
Ihr könnt euch vorstellen, wir hatten unendlichen Gesprächsstoff. Später mischte sich ungefragt der Sicherheitsmann ein. Er fände es komisch, wie es uns Senophone immer in diese Kneipe zöge, obwohl die relativ neu sei. So Schnaps und Bier machten mich auch schlappe sechsunddreißig Jährchen später noch mutig, weshalb ich entgegnete: „Jedermann an jedem Ort, mehrmals in der Woche: Gucken, Horchen, Greifen – was?“ „Mir klar“, meinte der Sicherheitsmann „gewisse Analogie zum früheren Geheimdienst.“ Immerhin, eine Frage konnte uns der Aufmerksame gleich mal beantworten. Wenn ich schon zwangsweise zeitverschoben worden bin, was wird dann aus den Menschen, die mich in meiner Zeit kannten, die mich vielleicht dort besuchen wollten. War ich für die jetzt tot? Ja, nach der Antwort brauchte ich wiederum einen Schnaps, fast mein ganzes Begrüßungsgeld versoff ich in dieser Kneipe. Der Kerl, dieser Sicherheitsmann antwortete mir doch wirklich: „Sie haben selber noch einen Vortrag besucht, in dem es um die Anfänge im reproduktiven Klonen ging.“
Es kommt noch dümmer. Am nächsten Tag fuhr ich nach Halle-Neustadt. Die Neubaublocks standen leer, wurden aber mittels projizierter Details für den Touristen als bewohnt imitiert. Schauerliche Kulturdarbietungen musste ich da erleben, was waren die Leute vergesslich. Ich habe ABV´s mit sowjetischen Militärmützen gesehen und an der Magistrale, der früheren Hauptstraße durch Neustadt, waren zur Erinnerung, wie es hieß, Grenzsicherungsanlagen aufgebaut. Nur die Honecker-Bilder in den Klassenzimmern einer Polytechnischen Oberschule wirkten echt – bis zum auf der Rückseite befindlichen Inventarstempel. Ich war wirklich froh, wieder aus Halle-Neustadt zu verschwinden. Wenn es schon nie mehr meine Zeit, erst recht nicht meine Kindheit und Jugend sein durfte, dann bitte keinen Themenpark darüber, mich jedenfalls bitte ich, mit solchem Geschichtsmüll zu verschonen.
Paar Wochen später, ich hatte mich einigermaßen eingelebt, wenigstens soweit, wie man das von einem senophonen Außenseiter erwarten konnte, war ich es, der den Sicherheitsmann aufsuchte. Diesmal sprach er nicht wie in der Kneipe mir zuliebe senophon: Es gäbe, instruierte er mich, nun einmal keine Möglichkeit für die Zurückgebliebenen, eine Nachricht retour zu übermitteln, auch wenn es sich lediglich um einen Zeitraum von fünfunddreißig Komma sechs Jahren handelte. Ein Kollege vom Stammtisch für schriftsprachliche Kunst in Deutsch gab mir dann doch noch den entscheidenden Tipp. Es gelang mir wirklich, den kleinen Text als Scifi zu tarnen und unter die Gegenwartsliteratur von vor fünfunddreißigeinhalb Jahren zu schmuggeln. Bei den Papierfluten, die die damals bedruckten, hatte der Kollege noch gemeint, dürfte das nicht auffallen.
Anmerkungen:
Porträts des Genossen Erich Honecker hingen nach Walter Ulbrichts Tod, in den Siebzigern, in jedem Klassenzimmer.
Seine Frau Margot Honecker, Ministerin für Volksbildung, überlebte ihn noch 16 Jahre im chilenischen Exil.
Tag der Veröffentlichung: 08.07.2023
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