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Märchen vom Schrat Goldstiefel

Märchen vom Schrat Goldstiefel

 

Johann August Schulz war ein Fuhrmann gewesen viele Jahre lang in einer kleinen Stadt, im kleinen Fürstentum B. Seine Equipage, bestehend aus einen halboffenen Wägelchen und dem Fuchswallach Anton, gehörte zum Stadtbild, wie der zweimal abgebrannte und dank freigiebiger Bürgerschaft zum dritten Male errichtete Turm der Stadtkirche St. Anna dazugehörte.

War Schulze auch als Kutscher der kulanteste nicht, so waren Geschirr und Wagen dennoch immer fein sauber blinkend und wer mit ihm fuhr, der gelangte sicher an seinem Ziele an, ohne an den Branntweinschenken unnötig gewartet haben zu müssen und das galt schon etwas, so sprach mancher, der weit über Land reisen wollte, zu seinem Diener: „Schaff er mir August Schulzen ´ran, dass ich wohlfeil und sicher kann zur Mess gelangen!“

Wer aber sollte sonst sich wohl des brummigen Kutschers erinnern? Seine Mutter hatte man schon lange zum Kirchhof geschafft und seit ihrem Tode logierte er in einer Dienstbotenkammer des „Gueldenen Sterns“ zum halben Tarif, wobei der Wirt sich zur Bedingung gemacht, dass Johann August die Gäste seines Etablissements vorrangig kutschiere und weder Wirt, noch Gäste, noch Schulz fuhren schlecht dabei.

In jungen Jahren soll Johann August Schulz ein strammer Bursch gewesen sein und manche Luise, Clara oder Dorothea schielte zu ihm und ihr Herzchen klopfte gar, wenn Johann August sie zum Tanze lud.

Tanzen konnte er fürwahr, wie er räsonieren gekonnt, damals und es heute dem maulfaulen und griesgrämigen Gesellen so recht keiner zugetraut hätte, immerhin, wen sollte es verwundern, hatte er doch ein Stück Welt gesehen in seinen Wanderjahren, da er schließlich den Gesellenbrief des Hufschmiedes erlangt.

Nun heimgekommen, entsann er sich so recht des alten Liedes, da es heißt: „ . . .ihr Jungfraun sollt kein Burschen freien, die nicht recht gewandert sein“ und er erkor sich auch richtig ein Mädel, das rotwangige Bäckchen, ehrbare Aussteuer und einen guten Leumund hatte. Dies reichte ihm zunächst, doch wie er sie aus dem Kirchlein geführt, der Brautschmaus vorbei und so mancher Tag verronnen und schließlich im Gleichmaß der Stunden, die er zwischen seinem ehelichen Heim und der Hufschmiede verbracht, ein Jahr vergangen, da war ein schüchterner Vogel, den kaum jemand noch – am allerwenigsten wohl Johann August selbst – erwartet haben mochte zu Gast und sang ganz sanft ein kleines Liedchen, dies Vögelchen, ach darf man solches noch schreiben, es sang die Liebe.

Mit solchen Zaubervögeln aber mag es eigenartig gehen, zuweilen fühlte man sie rasch sich in wärmere Gefilde empfehlen, um sie dann unverändert und wie in Stein gehauen am alten Ort zu erblicken, andernmal lässt uns ihr jähes Flügelrauschen aus einem Traume schrecken oder wir sind recht die Genasführten und haben nichts vernommen, nichts bemerkt, allein der Zaubervogel ist geflohen.

Nun die Flucht des scheuen Sängers war ein grimmiges Erwachen gewesen, damals, für Johann August Schulz. Über Nacht war ein Schnee gefallen, Eisatem hing in der Luft. Tyche, die Göttin des Schicksals, hatte es nicht unterlassen können, auch noch den Neck zu Hilfe zu rufen. Man schrieb den 6. Dezember, es war der Nikolausmorgen und Johann Gottlieb, der auch in seinen reiferen Mannesjahren sich Reste kindlicher Unschuld bewahrt, hatte sich auf einen Lebkuchen oder ähnliches gefreut, was ihm seine Marie wohl würde in den Stiefel tun. Auch er hatte für den Nikolausmorgen eine Überraschung im Schrank verwahrt: ein Lebkuchenhaus. Lang hatte er mit sich gehadert, ehe er den Beutel aufgetan und einen Taler gegen das Häusel eingewechselt. Aber schließlich, so ein Häuschen, sogar eine Katze saß auf dem Schornstein, da würde Marie Freude haben und der Bub auch.

Fürwahr eine feine Bescherung brachte unserem armen Freund der St. Nikolaus: keine Marie, kein kleiner Hans. Auf dem Tisch aber lag ein dünnes Pergament: Verzeih, aber es muss sein. Ich nehme den Buben mit und gehe nach Amerika. Länger halt ich´s nicht aus in dieser muffigen Stadt. Ich muss noch ein bisschen was . . .Und der Rest war durch eine Feuchtigkeit unleserlich.

Da raste er, die Leute wollen es gesehen haben, wie er mit dem Vier-Pfund-Hammer auf den Amboss hieb, dass dieser bis zur Hälfte in die Erde fuhr und ein junges Kutschpferd, welches fahrenden Zigeunern gehört haben soll, stemmte er aus und warf es gegen die Wand seiner Schmiede, dass er ihm nimmer die Hufe beschlagen gebraucht. Darum, aber dies ist eine andere Geschichte, soll es damals ein langes Prozessieren gegeben haben, denn der Gaul, so kam es schließlich ans Licht, war auch nur gestohlen gewesen.

Der grimmigste Schmerz, wir wissen dies wohl von uns selbst, verlischt allmählich in uns und aus dem lebensfrohen Hufschmied war ein devot-beflissener, aber wortkarger Kutscher geworden und die Welt wunderte sich darüber nicht, denn solcherlei Geschichten gab es für sie jeden Tag, nur für Schulz selbst war die Sache schlimm, zumal er an einer Krankheit litt, die wir unserem ärgsten Feinde nicht wünschen, es war dies jenes Nicht-vergessen-können. So blieb dem tugendsamen Manne denn auch bis ins hohe Alter eine Unart treu, an jedem Nikolaustage war derjenige, welcher sonst so gar keinem Laster ergeben, so sternhagel über das Maß gestrichen voll, dass St. Nikolaus, auf den er förder wohlweislich gern verzichten wollte, ihn im Bette nie mehr ansprechbar antraf. Dies sah ihm aber auch der Wirt des „Gueldenen Sterns“ gern nach, nicht etwa weil er Schulzens Lebensgeschichte wichtig nahm, sondern weil wir uns ja bekanntlich auch nicht echauffieren, wenn ein Esel gar selten, aber eben doch einmal bockt, wie der Wirt sich gedacht haben mochte, warum soll der nicht auch einmal trunken sein, wenn er doch auch nur ein Droschkenkutscher ist, worauf er sich gar selbst und ohne Murren um des Gaules Wohlergehen gekümmert haben soll.

So hätte dies wohl lange Jahre gehen und Johann August im „Gueldenen Stern“ und mit seinem Klepper zufrieden alt werden können, aber die Wege des Herrn, so meinte schon der städtische Schwarzrock in der sonntäglichen Schoppenrunde zu seinem Kaplan „seien unerforschlich“ und sicher wird schon sein Vorgänger diese Weisheit nach der Heiligen Messe zum Besten gegeben haben.

Alles begann ganz harmlos, wenn auch etwas verwunderlich, weil Schulz, der wahrlich nie wegen eines geringen Zipperleins lamentabel veranlagt gewesen, sich des Abends zu einem Arzte schlich, der erst vor kurzem im Stern abgestiegen und von dem man allerlei löbliches vernommen hatte.

„Seid ihr der berühmte Herr Magister Vanitas?“ frug, zugleich einen tiefen Diener machend, der Fuhrmann den gelehrten Herrn. „Mein Sohn, ich sehe wohl, du besitzest credo at intellicum“, erwiderte darauf wohlwollend derselbe und da es sich trocken, so meinte der weitgereiste und kluge Herr Magister, schlecht reden lässt, schlossen die beiden einen Vertrag, der freilich des Siegels durch einen guten Trunk bedurfte, und war Schulz versprochen, dass er mittels einer Tinktur in sieben Tagen geheilt sei von einem Leid, von dem der Charlatan wusste, dass er ihm gar nicht beikommen konnte und es geheißen war: der graue Star. Aber wie ein rechter Tunichtgut ließ er davon nichts verlauten und da Schulz keine Erwiderung schuldig bleiben wollte, becherten die beiden so artig, als wenn schon wieder St. Nicolai wäre. Besonders lustig ging es zu, da sich noch ein bunter Gesell zum Freitisch mit gar weltmännischer Großzügigkeit selbst einlud, der sich Ulenspiegel nannte und allerlei Posen zum Besten gab, sonderlich, wie er sich in einen Wolfspelz gekleidet und einen großmäuligen Wirt genarrt habe.

So begann die wunderliche Kur des Magisters Vanitas, der seinem Patienten eine so schauderhafte Mixtur verordnet, so eklig, dass wohl selbst der Teufel den Mist nur mit Wein eingenommen hätte, was man denn auch tat, wobei der Gelehrte immer wacker Gesellschaft leistete, so dass er seinem Patienten, wenn schon nicht das Aug, so doch den Beutel kuriert, der arme Schulz aber konnte von einer Besserung nichts merken, nur sah er, wie Vanitas bereits schon vorausgesagt, in mancher Stunde für Zwei, das heißt: zwei Wirte, zwei Glasel usw., was ja nun allseits bekannte Ursache hat.

So ging das Treiben sieben Tage fort und der Kutscher, den manch einer jetzt nahezu ehrerbietig behandelte, schied in gutem Einvernehmen vom Charlatan und man sagte in der Stadt, selten geht’s, dass zwei von unterschiedlichem Stande eine Woche lang so amüsierlich Gesellschaft pflagen und der Herr Apotheker soll Johann August hernach manchmal zuerst gegrüßt haben.

Da der Glaube, um es wieder einmal mit einem angestaubten Unicum aus des städtischen Schwarzrocks Sprüchelkiste zu versuchen, bekanntlich Berge versetzt, wie soll er da nicht auch einen Fuhrmann heilen, zumindest vorerst.

„Ich seh dich in einem ganz neuen Licht erstrahlen, Augenzier“, scherzte er mit der Wirtin des „Gueldenen Sterns“ und eilte zu seinem Gaule, der ihn lange nicht gesehen und vor Freude wieherte. Lustig pfiff er sich eins, striegelte dem Fuchswallach und spannte an. Sein erster Kunde war, für solches hatte er sich in seiner langen Dienstzeit einen Blick erworben, ein Kaufmann und zwar ein Reicher. „Zum Hause des Gerichtspräsidenten“, hatte der herrisch befohlen. Welchen Strauß mag der, ein Fremder, hier auszufechten haben?, dachte August Schulz bei sich, da begann sein Passagier schon zu reden. „Kennt er einen Magister Vanitas, welch selbiger Charlatan sich soll haben als Kurpfuscher betätigt und von dem ich hier für mein gutes Geld einen Haufen gefälschter Wechsel in Händen, ah büßen soll mir der Lump . . .“

Das war denn doch zuviel. Für Schulz, dies muss hier erwähnt sein, war es wahrlich nicht mehr an der Tagesordnung gewesen, dass er mit jemandem bis in die Nacht herein plaudern konnte und was er bis gestern nicht vermisst, erschien ihm jetzt als höchstes Glück. So hatte der Magister denn auch, nachdem er sein reichlich bemessenes Honorar empfangen, Schulz in beide Arme geschlossen und ihn „mein lieber Freund“ genannt, was auf unsern alten ehrlichen, aber einsamen Gesellen ohne Eindruck nicht geblieben war.

Mehr, man hatte beschlossen, sich übers Jahr zur selben Stunde im „Stern“ zur Nachbehandlung und eines dankbaren Patienten Nachtmahl zu treffen. Zu diesem freilich, das verschwieg wohlweislich der Herr Magister, hätte den dankbaren Patienten ein Diener oder ein Hund führen müssen. Doch was soll´s, Johann August, der den Doktor nach wie vor hoch verehrte und im Geist wohl seinen Retter nannte, besann sich auf seine übliche devote Dienstbotenhaltung und tröstete sich damit, dass der gute Mann ja solcherlei Spitzfindigkeiten nicht mit anhören müsse. Später wird er sich vorwerfen, dass er dem Schwätzer und seiner üblen Nachrede überhaupt zugehört hat und dem Wucherer, dem vermaledeiten, überhaupt die Schuld geben dafür, dass alles so gekommen ist, wie es bedauerlicherweise kam. Es war Mittag und Markttag, also ein emsiges Laufen auf den Gassen und Straßen der kleinen Stadt, sonderlichst auf dem Markte, wo ein orientalischer Händler allerlei Teppiche feilgeboten, auf denen kunstvoll gewobene Paradiesvögel in allen Farben prangten, so dass mancher wohlgestellte Bürger sich ein Stückchen fernen Landes in seine Stube holen konnte. August freute sich an seinem vermeintlich guten Augenlicht und verließ, seinem Geschäftssinn zuwiderhandelnd, einen Augenblick sein Gefährt, um einen Wandteppich zu bewundern, auf dem ein pfeiferauchender Soldat zu sehen war, der ihn wohl besonders beeindruckt, weil er so hilflos und doch hoffend, aber auch erstaunt an seinem Pfeifchen sog, darüber verwunderte er sich. Wäre des weitgereisten und geselligen Magisters Kur zum Heil ausgeschlagen, so hätte unser armer Fuhrmann gesehen, dass es sich bei der Gestalt auf dem Teppich um den Soldaten aus dem Märchen „Das Feuerzeug“ gehandelt hatte, aber so konnte er den dienstbaren Hund mit den riesigen Augen nicht sehen. Auch wäre ihm wohl aufgefallen, dass der Händler mit seinem württembergisch uniformierten Soldaten aus dem dänischen Märchen wohl so orientalisch und von weit her angereist, wie er sich ausgab, vielleicht gar nicht sein würde.

Aber all das blieb ihm versagt, auch waren es wohl doch mehr die paradiesischen Vögel, die es ihm angetan hatten und für einen Moment dachte er wieder an seine Marie, an den kleinen Buben und an Sankt Nikolaus und wie er vielleicht jetzt Meister seiner Innung sein und ihr solch weitgereisten Teppich bringen können und an das armselige Kämmerchen im „Gueldenen Stern, dachte er und wie es ihm doch gut getan, mit dem gelehrten Herrn Conversation zu machen und immerhin, vielleicht hätte auch aus ihm noch etwas Rechtes werden können . . .

Auch diese Gedanken, so meinte er später und schimpfte sich hoffährtig und Spintiseur, seien daran schuld gewesen, dass er nicht gesehen habe.

Da war nur ein Schrei, dann viele Schreie der Umstehenden, plötzlich scheute das Pferd, das Wägelchen kippte schräg und auf dem Boden lag ein kleines, höchstens dreijähriges Kind.

„Ach Gott, ach Gott, das Arme“, lamentierte August Schulz, als zwei Gendarmen, den noch vor Schreck benommenen, nach der Stadtvogtei abführten. „Tot, tot . . .“, murmelte er fassungslos, gar nicht bedenkend sein eigenes Geschick, das ihm mit dem Henker drohte.

 

 

 

Währenddessen ließ sich im „Gueldenen Stern“ ein getreuer Denunziant Tinte und Feder auf sein Zimmer schaffen und schrieb mit großem Schnörkel am ersten Großbuchstaben:

 

Hochlöbliches geheimes Concilium, Durchlauchtigster, allergnädigster Herr Criminalrat!

Hiermit erlauben wir uns, Euch untertänigst Kunde zu geben von jenem unseligen Fuhrmann, der gleich den Teufeln am Tage des Weltgerichtes unter die Menschen raste, dass man ihn - hochlöbliches Concilium, hochverehrtester Herr Criminalrat! - mit Verlaub, selbst gar für den Leibhaftigen, Gott sei bei uns, hätte halten mögen.

Besagter Frevler, der in hiesiger Stadt wohl zur Tarnung als Kutscher gearbeitet, zeigte denn auch sein wahres Gesicht, als er mit seinem Complicen, einem berüchtigten Charlatan und Wechselfälscher in einer Weise und unter Absingen anrüchiger Lieder eine ganze Werktagswoche gezecht, so dass das Gewissen aller recht und billig denkenden, frommen Bevölkerung aufs Tiefste gekränkt. Weshalb, so es mir mit Verlaub gestattet sei zu bemerken, an dem Bösewicht, Gotteslästerer, Säufer und Kindsmörder sollte ein Exempel statuiert werden, das zur Wiederherstellung von Ruhe und Frieden in des gnädigen Churfürsten Lande uns dringend nötig erscheint. Verbleibe ich also als Euer gefolgsamer Diener, nicht ohne allererlauchtigsten Herrn Criminalrat untertänigst wegen ausstehenden Honorars erinnert zu haben

 

Euer Filius

 

Ja, dieser verdammte Schmierfink goss Öl in das Feuer, auf dem ein armer, ehrlicher Mann sollte gesotten werden. Kein Sterblicher, dies stand jedenfalls fest, würde ihm aus der Patsche helfen können.

Aber es ist ein altes und lächerliches Unterfangen, dass sich ein stümpernder Gott als eine menschliche Grundeigenschaft ausgedacht haben mag: die Selbstgefälligkeit und selbige wuchert immerzu gleich einem Unkraut, lässt uns nicht hoffen auf außermenschliche Hilfe. Für Johann August Schulz, der keinem Menschen mehr wert gewesen, als höchstens dies: Ruf er mir nur Schulzen, damit ich wohlfeil und sicher ankomme, der vielleicht als einziges ihm zugetanes Wesen seinen alten Gaul besaß, für den wiegte sinnend ein kleiner Kerl, nicht größer als eine Elle, seinen Kopf. Da wo nämlich wir Menschen nicht mehr leben können oder wollen, sind sie zuweilen noch zu finden, jene elbischen Wesen. Auch da, wo wir, weil Schönheit nicht in Gestalt einer holden Jungfrau leuchtet, keinen Blick mehr heben, herrscht immer noch Laurin mit seinem Zauberstabe aus dem Fabelreich der Fee Phantasie. Aber verwoben liege die Reiche jenseits, klüger mir zuweilen dünkend. Im Reich der Elfen siegen die Gesänge über die Unzulänglichkeit der Worte, so wägt sinnend sein Köpfchen Schrat Goldstiefel in seiner einsamen Höhle, dreißig Klafter unter dem Erdboden und doch den Menschen so nah. Es scheint sich um einen philosophischen Wichtel zu handeln, würden wir in unserer plumpen Menschenrede sagen. Der Kleine studiert den Menschen, auch seinen wunderlichen Freund den Teufel. Manchmal reden sie zusammen durch die gläserne Muschel. Aber der Teufel hat keine Zeit für Schrat Goldstiefel und dessen Sorgen um einen Fuhrmann, der Herr der Hölle bosselt an einem neuen Spielzeug: Martin Luder - nicht so deutlich gedeutoboldet - also besser Martin Luther soll es heißen und wird viel Spaß machen, rechnet er sich aus.

Schrat Goldstiefel sinnt lange nach, er will, und gelte es Laurins Unwille auf sich herab zu ziehen, dem armen Tropf von Unglückskutscher einen Dienst erweisen.

Aber wie soll ich´s anstellen, denkt er bei sich, schlechte Hilfe macht das Leid nur schlimmer, die Menschen sind unberechenbar. Einer von ihnen hat es selbst beschrieben in der Geschichte vom Faustus, schlimm steht es, wenn einer höhere Gewalt an sich reißt, Mord und Totschlag ist das mindeste. Ach wären sie nur Jäger und Sammler geblieben, aber der eklige Teufel will ihnen ja demnächst noch Buchdruck und Aufklärung bringen, schlimm sind seine Pläne. Wie soll das ausgehen? Jede Seherin schweigt, die magische Kugel, die er gleich den Menschen in Sanskrit und Latein befragt, beschlägt sich blutigrot. Nur der Teufel und doch, er mag ihn, ja der mitleidige Schrat liebt den Durcheinanderbringer, denn was ewig bliebe, wäre Marter – fürwahr langsam steigert er sich, kein Cäsar, kein Nero, nein ein Tintenfuchser reicht, um das Panoptikum aus den Angeln zu heben. Wäre es doch besser gewesen, wenn sie alle bei Arrarat . . . einschließlich Noah, aber der Alte hat so seine Launen da droben. „Da sitz ich nun und simmiliere“, spricht der Kleine zu sich selbst, wie das einsame Wesen, auch Elbische, zuweilen tun, und derweil . . .wahrlich, die magische Kugel, die ihm alles erschaubar macht, was im Panoptikum der Menschenwelt sich bietet, zeigt ihm kein tröstliches Bild, der Fuhrmann hat seine letzte Nacht, auch dessen längst verstorbene Maria sieht er, der Alte oben hat ihr verziehen.

Goldstiefel denkt nicht schmeichelhaft von ihm, wer soll wohl eines Tages ihm verzeihen, spricht er zu sich, wo er solchen Jammer doch in einer Woche eilig hin gezimmert.

In der dunklen Zelle des Fuhrmanns gab es ebenfalls allerlei zu schauen, Bilder der Erinnerung zogen an ihm vorüber. Das Gesicht des Kindes schiebt sich immer wieder dazwischen. Das Auge seiner Seele sieht besser als die seines Kopfes, so ahnt er auch die Wahrheit um Magister Vanitas, verschweigt sie aber sich selbst. Das Bildnis der untreuen Gemahlin hatte er damals verbrannt, aber die Erinnerung hat sie ihm in ihrer Jugend aufbewahrt. Manchmal scheint es, als wenn sie ihn um Verzeihung bittet. Der alte Mann schläft ein, dies war momentan der einzig mögliche Balsam, den ihm Schrat Goldstiefel senden konnte. Im Traum begegnet Johann August wieder dem Soldaten, der an seinem Pfeifchen saugt und zu dessen Füßen zahme Paradiesvögel sitzen. Hinter dem Soldaten steht ein Harfner, der spielt eine Weise von der stillen Sanftmut jenseits des Flusses.

Wer ist nun der Kleine da, mit den goldenen Stiefeln? Winkt er ihm nicht zu? „Hab Mut, hab Mut“, scheint er zu flüstern und so erwacht, selbst darob verwundert, der Todeskandidat mit einem Lächeln auf den Lippen.

Auch der Allvater lächelt an diesem Morgen, freilich weniger selig, eher zerknirscht, redet er mit kaum merklich bewegten Lippen zu Goldstiefel:

„Also an eine Totenerweckung des Kindes im Stil des Jünglings zu Nainz ist überhaupt nicht zu denken, dies würde mir die theologische Aussage zerstören. Was soll denn ein Wunder, wenn es alltäglich wird. Er, Goldstiefel, hat sich den Weg umsonst gemacht. Was will Er Schicksal spielen? Mitleid ist sein schlechter Ratgeber. Ich segne seinen Eingang, seinen Ausgang gleichermaßen!“

Der Erzengel Michaelis erscheint, ihn zur Pforte zu geleiten. Die Audienz ist beendet.

Wütend murmelt der Schrat: „Stiefel golden blitzend grell, fliege schnell aus dem Himmel in die Höll und dann auf des Brades Loh in anderen Himmel, zu Cupido!“

So geht das Märchen gut aus durch die List des kleinen Schrats: Er hat es beschlossen, der Kurfürst muss sich schleunigst verlieben, der Teufel will auch noch seinen Spaß und so soll es eine Marketenderin sein. Erst freilich scheint die Sache nur halb gelungen, eine Mätresse mehr auf Erden. Aber Goldstiefel versteht sich auf das Fabrizieren schlimmer Albträume. Böller und Glocken verkünden die Hochzeit zwischen dem Fürsten und der Marketenderin, die inzwischen längst mit allen Rechten und Privilegien sich Freifrau nannte, den Rest besorgt so ein Schrat mit dem kleinen Finger. Wer unterschreibt schon am Brautmorgen ein Todesurteil?

Gnade findet unser Fuhrmann, darf laufen in die freie Welt. Schrat Goldstiefel freut sich vor der magischen Kugel am Gesicht seines Schützlinges und solche Freude ist doch wohl besser als die des Mephistopheles, denn Grund zum Jubeln meint auch er zu haben, wir schreiben den 10.11.1483, sein neues Lieblingsspielzeug ist fertig.

„Gute Fahrt, Fuhrmann!“, murmelt Schrat Goldstiefel und legt sich in seine Schlummerecke.

 

 

 

 

 

 

 

märchen vom schrat goldstiefel

  1. und 2. august 1984 von holger leisering

 

 

 

 

 

Nachwort:

 

Wieso Hans Christian Andersen (1805 – 1875) sein Märchen „Das Feuerzeug“ schon erzählt haben kann, sogar ein Soldat nach dieser Geschichte auf einem Teppich zu sehen ist, während andererseits Martin Luthers Geburt (10.11.1483) noch bevorsteht, gehört zu den Geheimnissen dieses Märchens.

Aber im Märchen liegt die Zeit vielleicht nicht auf einer Linie, sondern im Kreis und so ergeben sich da andere Möglichkeiten.

Die Wahrheit aber wird sein, dass ich einfach drauf los formuliert haben, Zeitformen und Zeitabläufe und andere Details oftmals außen vor.

Soeben habe ich das Papier zur Seite gelegt, auf dem die Typen der Schreibmaschine in - nebenbei erstaunlich gutem Zustand – zu erkennen sind. Im August 2014 werden es dreißig Jahre, dass ich dieses Märchen aufschrieb. Später hatte es eine kleine Lesung gegeben, wahrscheinlich im Café Surprise, in der Kohlschütter Straße zu Halle, wo u.a. das Märchen vom Schrat Goldstiefel seine Bewunderer, na ja oder zumindest Publikum fand. Es stand Bier auf dem Tisch, die meisten Leute waren mir persönlich bekannt. Natürlich begann ich erst nach dem Künstler-Viertel und irgendwer raunte: „Der Meister kommt.“

Finstere DDR damals, ich war noch nicht ganz einen Monat aus dem DDR-Knast ´raus und rettete mich in diese neoromantische Tönung mit gelehriger Pose, wie sie mir etwa durch die Lektüre Wilhelm Raabes zur Verfügung stand. Kein Wunder, ich wünschte mir dringlichst nicht mehr in meiner Zeit zu leben. Natürlich galt als abgemacht, dass ich später ein großer Schriftsteller werden würde, wahrscheinlich nach meiner Ausreise. Die Zeit lacht freilich über solche Faxen und ich bin nun froh, dass ich das kleine Märchen bei BookRix einstellen kann, denn es ist in den vergangenen 30 Jahren von niemand zum Druck begehrt wurden.

Sanfte Angleichung an gängige Rechtschreibung gab es da, wo das antiquierte Deutsch nicht bewusst gewählt war, wie zum Beispiel bei Criminal statt Kripo habe ich belassen, gueldener statt goldener Stern, aber andererseits „dass“ und ähnliche Neuerungen einbezogen. Zuviel allerdings konnte und wollte ich nicht ändern, weil sich während des Abschreibens ein eigenartiger Singsang, auch aufgrund der zahlreichen Wiederholungen im Text offenbart hatte.

Eine der wenigen Texte, wo der antiquierte Klang durchaus in zeitgenössische Aktualität überspringt ist „Lichterfest“, nur wenig später geschrieben.

Ach ja, JG heißt Junge Gemeinde und solche jugendlichen Mitglieder der evangelischen Kirche und deren Sympathisanten, von Diakonen oder Jugendpfarrern begleitet, gestalteteten Opposition in den Achtzigern, vor allen in Fragen des Umweltschutzes, der Friedensbewegung, Betreuung von Ausreisewilligen und darüber hinaus bleibt Dank zu sagen, dass innerhalb der evangelischen Kirche Raum und Möglichkeit wurde für Ausstellungen und Lesungen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Lichterfest

 

 

Langsam vermischt sich das Abenddunkel des Boulevards mit dem Schummerlicht des Cafés.

Es sollten mehr Liebespaare hier sein, dann wäre es leiser. Neben mir sitzt Jason mit einem Freund, sie blicken wie gebannt zum Denkmal des großen Komponisten. Nicht, dass es da etwas besonderes zu sehen gäbe. Die Patina, die mit allerlei Schadstoffen gemischt, verdeckt noch immer das Relief der Harfenistin auf der Rückseite des Notenständers und die rechte Hand ist etwas zu weit nach unten gebogen, als wolle sie abwinken. Kein Wunder, an ein Jubiläum war erst in ein paar Jahren zu denken.

„Da!“, sagte Jasons Freund aufgeregt, „Sind die von der JG aus der Südstadt. Markus mit seinen Leuten will auch kommen.“

„Mal sehen“, meint Jason skeptisch und bläst eine Rauchwolke vor sich hin.

In der Drogerie nebenan schmunzelt der alte Harkendahl. „Emmy“, ruft er nach hinten „Schaff noch mal die Haushaltkerzen nach vorn, ein Betrieb heute, fast wie Anno 71, als die alle beim Urgroßvater nach Kaiserbildern anstanden“ und er zeigte auf das nachgedunkelte Bild an der Wand, auf dem nicht Wilhelm, auch nicht Erich, sondern der Gründer der Drogerie, der ersten am Platze zu sehen war. Die Glöckchen der Registrierkasse mischen sich munter zum Klingeln der Ladenglocke und könnte man sie am Denkmal hören, wäre das eine muntere Untermalung des romantischen Treibens, denn hier sind die Lichtlein angezündet. Auch Jason und sein Freund sitzen nicht mehr im schummrigen Café. Wie eine Krippenspiel-Illumination anzusehen, halten allerlei Zeitgenossen, sonderlich solche mit Kutten und Bärten, ihr Lichtlein in den Wind!

In dichten Scharen quillt der Zug derer, die ihrem verdienten Feierabend entgegen schreiten, am Denkmal und den Leuchtenden vorbei.

Die Stearin-Kerzen brennen für den Frieden!

Da fährt ein militanter Windstoß, so recht des Äolus wackerer Gesell, in die Flämmchen.

Der alte Harkendahl macht Abrechnung und pfeift leise die Wacht am Rhein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 13.02.2014

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