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Die Farben der Friseurin

 

 

 

 

 

 

 

Das Not-Buch

 

 

Therese hörte im Dämmer des Halbschlafs, wie Fred, oder wie er sich vorgestellt hatte, die Lederjeans überzog, den Reißverschluss schloss, seine Hand nach dem Feuerzeug tastete. Ihr Liebhaber sog den Rauch der Post-Coitus-Zigarette gierig ein – draußen, im Treppenhaus.

Am Nachmittag des neuen Tages drehte sie die Dusche bis zum Anschlag auf, tippelte tropfend über die Auslegware. Ins Badehandtuch gewickelt merkte sie, dass die Nachttischlampe und die Leuchtröhre am Spiegel über Nacht eingeschaltet geblieben waren.

Íhr Handy, seit gestrigem Disko-Besuch auf Vibration eingestellt, rutschte wie ein fern gesteuertes Spielzeugauto gegen die chice Sprayflasche, die der Designer einem Campanile nachempfunden hatte. Sie fing den herunter rutschenden Flacon gerade noch rechtzeitig ab und öffnete gleichzeitig die Klappe des Handys.

So späte und noch die Handwerker drüben!, grummelte die Nachbarin.

Ihre Nachbarin, Frau Mildner, konnte nicht nur das rhythmische Anstoßen der Liege an die Wand, sondern auch das Aufdrehen der Dusche, den prasselnden Wasserfall und das beginnende Telefongespräch hören. Anna Mildner, die bis über das Rentenalter hinaus in den Kleiderwerken gearbeitet hatte, wo ihre Tochter Annegret die Facharbeiter-Prüfung absolvierte, es dann aber nicht lange aushielt. Eigentlich müsste ich dieser Therese sagen, meinte die alte Frau zu ihrem Enkel Florian, dass ich sie hören kann, ich bin schließlich nicht eine von den Tratschtanten, die die jungen Leute im Haus belauschen, um auf der Treppe oder beim Bäcker was zu erzählen zu haben. Taktvoll und diskret zu sein, bedeutete ihr etwas und so war sie böse über Florian gewesen, der Naseweis ging zu weit, sich an Sachen von anderen Leuten zu schaffen zu machen. Der hatte so ein kleines, aufklappbares Kästchen mit gehabt, sah aus wie ein kleiner Fernseher, unten waren aber die Tasten wie bei einer elektronischen Schreibmaschine. Was der Junge aber doch nicht alles konnte! Sie hatte ihm nur äußerst ungern die Fotos von Willi, ihrem Mann, der aus dem Russlandfeldzug nicht zurück gekommen war, gegeben. Florie hatte alles eingesackt, auch die lustigen Fotos von der Betriebsfahrt oder wo sie mit den Nachbarinnen hinter dem Haus Wäsche auf die Leine hängte - niemals am Sonnabend, sinnierte sie, denn da wäre ja von der Stange zum Teppichklopfen der ganze Dreck ´rüber gekommen. Eigentlich hatte sie Mietpreisminderung beantragen wollen, wenn sie jetzt auf den Hof ging, klickten die Bewegungsmelder und wie von Zauberhand ging das Licht an, das ja, aber die Teppichstange und die Halterungen für das Aufhängen der Wäsche, die hatte der neue Hausbesitzer einfach geklaut, genau wie die Wäschespinne. Für was die im Westen wohl eine Wäschespinne brauchten? Wäsche auf ´m Hof, das ist ungängster, hatte Florian gemeint. Nach einem längeren Dialog und zwei herunter geschlungenen Eierkuchen mit Apfelmus meinte die alte Frau verstanden zu haben, zu ihrem Enkel sagte sie: Du, Florie, ich bin noch nicht senil. Wäsche hinterm Haus auf dem Hof zu trocken, das gilt neuerdings als unanständig und arm, weil man das in einer modernen Waschmaschine mit einem Gebläse erledigt. Außerdem registrierte sie das hässliche Wort uncool, das sie früher vergeblich versucht hatte ihrer Tochter Annegret ab zu gewöhnen, das hieß jetzt ungängster bei den Steppkes und sie hörte in ihrer Erinnerung die Vorkriegsstimme ihres seit über sechzig Jahren vermissten, in ihrer Erinnerung nicht alternden Gatten, wie sie ihn im Atelier der Damen- und Herrenmaßschneiderei hatte schwadronieren hören, um der immer geizigen Gattin des Bankiers zu erklären, sie müsse das Kleid ändern lassen und nicht den alten Mantel dazu tragen, nur so, Madame, geht die gnädge Frau von heute comme-il-faut, wenn Sie gestatten zu bemerken, wäre andererseits degoutant, Madame. Anne Mildner seufzte, was Florian falsch deutete und deshalb nicht wagte, gleich noch eine Ladung Eierkuchen zu bestellen, während Anne Mildner gerade resümierte, die Männer, wenn sie eine Schweinerei vorhaben, kommen ihnen glitzernde Worte aus dem Mund. Dabei hätte er sich die Eierkuchen verdient, fand Florie, denn die Fotos, die er eingescannt, vergrößert und die Schärfe verbessert hatte, waren jetzt wie echt, und erstmals nach Jahrzehnten konnte Oma die Gesichter ihres vermissten Gatten, ihrer viel zu früh verstorbenen Schwester und die der Kolleginnen erkennen und wenn es ihr noch zu klein war, sagte Florian: Momento, nix Problemo, Oma und vergrößerte einfach nochmal – zoomen nannte der Kleine das. Schön war so ein Zauberkästchen schon, und Anne Mildner, deren Schallplattenspieler die letzte technische Anschaffung gewesen war, staunte nicht schlecht. Muss doch ein Heidengeld gekostet haben, Florian, gehört das Muttis neuem Freund? Ach wo, hatte der Enkel geantwortet Das gehört dem hier, der jetzt bei der Krankenschwester Anke wohnt. Und der gibt dir das einfach so? Na klar, der braucht das doch nicht, der läuft den ganzen Tag in der Stadt ´rum, hat schon zwei Wochen nichts mehr an seiner Geschichte getippt, Spiele macht der auch kaum, hat eben keinen Plan. Willst du mal sehen unter Verlauf? Aber Florian, der coolste und cleverste kleine Bursche, den er sich selber vorstellen konnte, begann zu stottern und sich zu widersprechen, der viele Zucker zwischen Eierkuchen und Apfelmus hatte ihn unvorsichtig gemacht, und die Oma erklärte ihm sehr empört, dass man sich nach allen gängigen Regeln nur etwas leihen kann, wenn der Besitzer darüber informiert ist und ausdrücklich zugestimmt hat.

Du, die von nebenan habe ich auch im Internet gesehen. Florian versuchte verzweifelt seiner Oma zu erklären, dass es jetzt erst richtig was zu sehen gäbe und er nur kurz nochmal los müsste, um den neuen Stick zu holen, weil das Notebook dann klar wäre für Internet. Erstmals gab es richtigen Streit zwischen Anne Mildner und ihrem Enkel, als sie zu ihm sagte, einen kleinen Dieb wolle sie nicht im Hause haben und dass der, den sie den Poeten nannten, ein komischer Vogel sei, der nicht richtig arbeiten ginge und die Anke sowieso nur schwer enttäuschen würde, der Faulpelz und Liederjan, täte nichts zur Sache und er müsste die Fernsehschreibmaschine - Notebook heißt das, Oma!, berichtigte Florian! - sofort zurückstellen, sie wolle gerade noch ein Auge zudrücken, dass er das heimlich täte und wie er überhaupt in fremde Wohnungen herein käme, wollte sie lieber gar nicht wissen und musste doch daran denken, wie schnell er ihr hatte helfen können, als sie sich damals ausgeschlossen hatte.

 

Die Friseurin Bernadette Fleischer, ihre Freunde nannten sie Babsy, hätte auch gern so ein Notebook gehabt und sei es nur, um bequemer bestellen zu können.

Es war Mode geworden, sich einen Strandkorb, wie man ihn sonst aus Seebädern kannte, zu Hause oder im Schrebergarten aufzustellen. Sie hatte Hottie, deswegen sonst was in die Ohren geflötet. Mein Traummann war das niemals, aber wenigstens handwerkliches Geschick bringt er mit, hatte sie bei unpassenden und passenden Gelegenheiten verkündet, doch Hottie hatte zunächst genervt reagiert, aber dann doch eingelenkt, immerhin der Garten war sein Paradies, ihre gemeinsame Liebeslaube, in der sich für ihn alle Träume von der schönsten Friseuse der Warschauer Vertragsstaaten erfüllt hatten. So eine Hollywoodschaukel, das ist vielleicht was für Mutti, hatte Babsy argumentiert, denn sie träumte von Ostseesand und einem Strandkorb aus Kühlungsborn, nicht etwa so eine Kiste aus dem Baumarkt, sondern wirklich geflochten, blau-weiß und eine gestreifte Markise und an der Seite drehbare Tischchen. Da kann ich ja wenigstens die Drehtischchen von der Hollywoodschaukel wieder anschrauben, hatte Hottie einlenken wollen und damit einen Wutanfall provoziert. Auch sein gutmütig gemeintes Versprechen, sich nach so einem Ding ´mal umzusehen, kam nicht gut an. Von wegen umsehen, damit du einen Grund hast, tagelang in der Kneipe zu quasseln und zu saufen, bei uns im Salon gibt es jetzt kostenlos Internet, da geben wir einfach Strandkorb ein, können uns die Fotos ansehen und dann bestelle ich. Hottie wurde also anscheinend nicht gebraucht, obwohl er sich dann doch grimmig auf den Tag freute, was er auch sagte, an dem dieser Luxus-Korb hier im Karton abgestellt würde und er wäre dann zum Aufbauen gut genug, wahrscheinlich würden die für sein teures Geld noch verlangen, dass man sich wie ein Bekloppter in der Therapie hin setzte und Weidenruten nach Mustern flechtet. Aber ohne mich hatte er protestiert und schließlich waren sie doch eingehenkelt und nicht zum Friseursalon, sondern zum Internet-Café geschlendert. Hottie roch an Babsys Nackenhaar, was ihn in den ersten Wochen jedesmal ganz verrückt gemacht hatte. Und du bist meine Strandkorbnixe!, turtelte er. Wer hatte bloß das Stichwort Strandkorbnixe angeklickt? Lass den Quatsch, meinte Babsy, aber da ließ er das Filmchen schon abspielen. Ausgerechnet Hottie, der wenig Grund zum Moralisieren hatte, schüttelte nur mit dem Kopf: Diese Therese macht ja wirklich vor nichts halt. Die Strandkörbe sahen zunächst wie auf Urlaubsfotos aus: Sand, Dünen, hohe Wellen und Gischt waren auch da. In jedem der Strandkörbe ausgesprochene Schönheitsköniginnen, die sich den Bikini auszogen, was noch hätte durchgehen können, nicht aber, wie sie begannen sich von wechselnden Herren befummeln zu lassen, bis ein Button um die Eingabe der Kontonummer für das Abonnement der Freunde des Schmuddelfilmchens bat. Im halbdunklen Computercafé, das hatte sie beide beruhigt, starrten die anderen Nutzer weiter auf ihre Bildschirme, in ihre Ballerspiele, zwei Freundinnen tuschelten über die Mitteilungen ihrer Chat-Partner.

Ich hingegen machte mir nichts aus den Träumen in den virtuellen Räumen der Chats und anderen Internet-Abenteuern, denn ich hatte begonnen für Therese zu schreiben, aus der ungünstigsten Ausgangsposition, die ein Schreiber nur haben konnte, nämlich, weil ich mich verliebt hatte. Noch hörte ich Bernd Wilkes Spott: Die weibliche Psyche ist ein Intercity-Express mit Security hinter verschlossenen Türen, der an dir vorüber rast und du stehst vor der Schranke und träumst, wie ich dich kenne, von einer der Dampflokomotiven auf dem Dorfbahnhof deiner Kindheit, Alter, lass es!

Na gut, sollte er bei seinem Bier und seinen Sprüchen verrotten. Meinen Bürstenhaarschnitt, den ich mir bisher nach dem Morgenschiss mit dem Elektro-Rasierer vorm Spiegel verpasst hatte, ließ ich mir im teuren Friseursalon nachbessern und ich hatte Glück, obwohl mir Babsy anfangs verschlossen und misstrauisch schien. Nachdem ich sie aber zum Eis einlud und ihr, ziemlich stotternd eingestand, dass ich in Therese eigentlich verliebt sei, das aber niemals auch nur im geringsten angedeutet hatte, fand sie mich ziemlich crazy und sie platzte ohnehin so vor Neugier, dass ich es war, der sie an ihren Termin mit dem dreieinhalb Meter großen, blonden, blauäugigen, Porsche fahrenden Immobilienmakler erinnern musste. Du schreibst über Therese, hatte sie gesagt und ich registrierte die Andeutung eines Schmollens: Komme ich da in deinem Buch auch drin vor? Sie machte also, wie sie es formulierte, aus ihrem Herzen keine Mördergrube, und ich erfuhr so doch noch über Therese, was ich meiner blöden Schüchternheit wegen nicht schon früher erfahren hatte. Na, lassen wir das, denn vielleicht gäbe es nichts zu erzählen, wenn ich mit Therese Händchen haltend durch den Stadtpark gelaufen wäre, statt jetzt zu recherchieren.

Therese hätte mich niemals geliebt, wirklich nicht, und Händchen haltend im Stadtpark hätten wir die Leute grinsen gemacht, ich bin nur einsfünfzig, meine Jeans beulen aus, ich vergesse oft mich zu rasieren und Therese war blonde Nixe, Gang eines Rassepferdes, ihre Stimme spielte für arme Tröpfe wie mich Arcangelo Corelli, selbst dann, wenn sie einfach nur issen Ding oder das fasse ich nicht sagte.

Wenn ich Babsy glauben durfte, verfügte Therese über eindeutige Kategorien, nach denen sie ihre Liebhaber einteilte. Ein Wort wie Liebhaber hätte sie nie benutzt, Macker, Wichser oder Hampelmann schon eher.

Nicht nur die Gedanken sind frei, auch das Sexuelle - für einen wie mich, der über Missionarsstellung nicht wesentlich rausgekommen war und Gruppensex für Sünde hielt, war diese Sexualmoral nicht leicht nachvollziehbar. Therese wollte Männer, Männer, Männer, die ihr das gewisse konvulsivische Zucken ermöglichten, und sich dabei nicht zu trottelig und schüchtern anstellten, aber auch nicht rücksichtslos und brutal waren.

 

Babsy hingegen suchte mit über Dreißig noch immer - Abstriche mache ich da nicht, entrüstete sie sich, ohne dass ich ihr diese Zumutung angetragen hätte - suchte immer noch nach dem Traumprinzen, der jung und erfahren zugleich, brachial männlich und rücksichtsvoll, handwerklich begabt, Geige spielend, Motorrad fahrend, romantisch und beschützend, treu und selbstredend so einer sein musste, dass diese Zicken, wie sie welche kannte, vor Wut im Damenklo mit dem Vibrator randalieren würden.

Für Therese, die ins Bewusstlose verschweben wollte, in das Land hinter den grünen und blauen konzentrischen Kreisen, war das, was die alte Nachbarin für das rhythmische Werkeln verspäteter Handwerkers gehalten hatte, wie Sucht, sie wollte, eigentlich mit dem Kopf an den Bettgiebel geknallt werden bis zum, sie sagte cat no.

Die ihr das bieten konnten, liefen bei ihr unter Kategorie A = alltagstauglich, der Rest waren Spinner, Wichser, mit denen sie sich sowieso nicht abgeben würde. BW - Die Initialen von Bernd Wilke bedeuteten für sie nicht nur Abkürzung für den Namen ihres Freundes, sondern auch für Bücherwurm. Kategorie B bestand eben aus Softies, die während der Rhythmen ihr Köpfchen schützen wollten und eine Hand zwischen ihr blondes Haar und die Platte am oberen Ende des Bettes schoben. Mit dem Abtauchen in die konvulsivischen Kreise ihres Glücksgefühls wäre es durch diese schützend gemeinte Geste nichts geworden. Babsy erzählte mir blindem Maulwurf solcherlei, ich rückte zur Seite und gab ihr eines von meinen wegwerfbaren Taschentüchern. Therese hat keinen Makel, nicht mal ´nen Leberfleck, sagte sie, überhaupt nichts.

 

Wie war die nur an Bernd Wilke, den Bücherwurm, besser der an sie heran gekommen?

BW hatte zunächst mal gar nichts gemacht, schon gar nicht seine Hand zwischen ihr Köpfchen und die Platte am Bettgiebel geschoben. Therese brauchte drei Wochen, bis er sie Botticelli-Engel nannte und die Arbeit an seinem wissenschaftlichen Buch für längere Zeit unterbrach. BW war weltfremd genug, sie in den Lesesaal zu schleppen und ihr erklären zu wollen, was eine Handregistratur wäre und warum der Freiherr von Ponickau sich hätte der Büchersammelei und ähnlichen Spinnereien besser widmen können, da er eben Junggeselle geblieben war, was seinerzeit Hagestolz hieß. Aber, das war es eben, der schlaue Hund hatte mit seinem einsamen Dasein im Studierstübchen und seiner Bücherversessenheit kokettiert, weil er in Wahrheit zu diesem Zeitpunkt Therese nicht etwa wie einer von den Jünglingen in der Discothek begehrte, in die Sammlung einverleiben oder schlicht ´mal flach legen wollte, der falsche Bücherwurm lechzte nach ihr wie nur selten einer und die Arbeit an seinem Buch oder der auf allen Abbildungen immer mit Haltungsfehler gezeigte Schöngeist und Büchernarr von Ponickau waren diesem Heuchler, so könnte es gewesen sein, in Wahrheit schnuppe oder aber doch zeitweilig Mittel zum Zweck gewesen. Therese hatte sich dann jeden Tag mit Bernd, dem Bücherwurm getroffen, er schlief bei ihr, zog bei ihr ein, ja – und ich fragte prüfend nach – sie soll sogar seine Hemden gewaschen haben, und es gab Streit, weil sie nicht nur Klamotten weggeworfen hatte, sondern seine alte Tasche gegen ein Design-Produkt austauschte, ausgerechnet die Tasche, in der bereits Wilkes Urgroßvaters die Manuskripte seines seinerzeit stark beachteten Kommentars Die Allegorien in den Prophezeiungen des Johannes von Patmos zum Verlag getragen haben soll.

Bernd gab sich ja Mühe, wenn er sich auch tapsig angestellt haben mochte, er nahm Therese mit in die Oper, wo sie hätte staunend wie ein Kind sitzen können, stattdessen setzte er auf Vorbereitung, las mit ihr den Roman von Henry Murger, zu dem Puccini dann La Bohème komponiert hatte, den großen Roman über arme Studenten, Dichter und Philosophen und über Liebe, Eifersucht und ein Ende in Prostitution, Krankheit und Elend.

Warum nimmt er mich nicht mehr mit in die Oper, wenn er mich liebt?, fragte sich Therese später, aber BW - so war so einer nun ´mal, hatte sie für nicht vorbereitet genug gehalten, um Elektra von Strauß zu verkraften, er selbst hingegen wollte sich die Wiederaufnahme nicht entgehen lassen.

Abseits der beendeten Jugendzeit – einer wie Wilke hätte sicher differenzierter von der nach der Pubertät einsetzenden Adoleszenz gesprochen - ist Dünkel mir kaum verständlich. BW war voll davon, dieser mickrige Schreiber in noch zerbeulteren Hosen, als es meine waren, er hätte gesagt, Therese wäre nicht prädestiniert. So kam es, wie es kommen musste, eines Abends, Therese hatte sich die langen blonden Haare besonders gründlich gebürstet: Du Bernd!, rief sie. Der stutzte, er hatte sich an das BW fast schon gewöhnt. Sie sprach so beiläufig, als würde sie an den Einkauf von Kondensmilch erinnern: Du Bernd, ich habe mir das überlegt, wiederholte sie aufstehend und legte ihm von hinten die Arme um die Schultern. Er hörte auf in seinem Kaffee zu rühren. Du, Bernd, ich habe mir gedacht, wenn du Zeit zum Arbeiten brauchst, ich fahre für zwei, drei Wochen ans Meer, ich werde da kellnern in der Saison! Dieser Gedanke war ihr gerade erst gekommen. Wilke stand langsam auf, verbeugte sich formvollendet, gab ihr einen Handkuss: Gnädige Frau, war mir eine Ehre Sie kennen gelernt zu haben, wenn Sie gestatten . . .

Er räumte seine Schnellhefter und Notiz-Zettel aus Thereses Fernsehschrank, verstaute die Literatur, die ihm am wichtigsten schien, in der neuen Designertasche – seine wichtigsten Bücher hatte der Fuchs sowieso separat gestellt und nicht etwa mit Thereses Romanzeitschriften und Astrologiebüchern vermischt. Die anderen Bücher-Kisten würde später ein Bekannter von ihm abholen, teilte er ihr noch mit. B. W. soll sich auf der Treppe nicht mal mehr umgedreht haben, kein Wort, nicht eine Geste. Sein Schritt war fest, der alten Frau Mildner, die ihm entgegenkam, hielt er die Tür zuvorkommend auf.

 

Babsy, die mit Therese befreundete Friseuse, mit der ich mich noch paar mal in der Eis-Konditorei getroffen hatte, hatte mir inzwischen nicht mehr viel über Therese zu erzählen.

Liebte ich Therese? Wäre sie die Erfüllung meines Traumes, des Absoluten im Hohen Lied des König Salomo – der Liebesdichtung in der Bibel – , wäre sie meine Sulamith gewesen? Anke W. dagegen, die ich durch eine Annonce kennen lernte, nachdem ich längst vergessen hatte, dass ich ein Vierteljahr vorher auf einen Vierzeiler aus der Wochenendbeilage geantwortet hatte, versuchte mir das Rauchen zu verbieten, stand auf genau die Art von immer wieder abgenuddelten Rock-Klassikern, bei denen ich mich noch ´mal erbrechen würde, aber sie hatte gegenüber Therese und anderen Traumprinzessinnen und Klasseweibern einen nicht zu verachtenden Vorteil: Ich durfte sie vögeln! Und ich konnte mich noch gut genug erinnern, wie ich mich gefühlt hatte, als diese Möglichkeit dauerhaft entfiel, meine letzte Pause hatte fast fünf Jahre gedauert. Was sollte ich machen? Das vage Gefühl Liebe änderte nichts daran, dass mein Körper kein Ehrgefühl kannte, die Anweisung lautete im Klartext: Sicherung des Ventils hat oberste Priorität. Ich gehörte nicht zu denen, die im Puff hormonelle Entlastung gefunden hätten, und Masturbation war mir nur Notbehelf, nicht Erfüllung. Und nun hatte ich ein ernsthaftes Problem: Wenn einer mit anderen Weibern ´rummacht, das kann ich nicht leiden, hatte Anke mir erklärt und dabei meinen Hemdkragen zugedreht, dass die Sache aufhörte ein Spaß zu sein.

Aber eine Alte aus Papier oder meinetwegen in deinem Scheisscomputer, an dem du neuerdings stundenlang abhängst, das ist besonders fies, hörst du, Freund Blase. Du stehst heimliche auf blonde Dummchen aus der Disko, das wundert mich nicht, ist bei den meisten Schwachköpfen so, also lösche diese Scheiß-Datei, oder du siehst mich nie wieder. Mit Scheiß-Datei meinte sie wirklich meine lyrischen Dichtungen für Therese.

Nach dieser Drohung begann ich mich wieder besser mit Bernd Wilke zu verstehen, er bewahrte eine Sicherheitskopie für mich auf und es kam noch besser; er mokierte sich zwar über mein Therese – Projekt, aber weil in Maßen ein Sonderling mitunter dem anderen Solidarität zu zeigen bereit ist, erklärte er sich bereit, mir Bilder und ein paar liegen gelassene Cremedöschen etcetera zu hinterlassen, die ich Narr wie Reliquien in Empfang nahm.

 

Für den heutigen Tag schwante mir Böses. Anke war mit der Schwiegermutter zum Baumarkt gefahren, die beiden würden von da mit Tapeten, Farbe und ähnlichen mir absolut hassenswerten Gegenständen zurückkommen. Im Verkehrsbericht hörte ich, mir ein Grinsen nicht verkneifen könnend, von mehreren Staus, die für mich Ankes verspätete Rückkehr und also einen letzten Aufschub bedeuteten. So las ich meine Aufzeichnungen zu Therese und nicht nur die, auch die Briefe zog ich aus den pastell-farbenen Kuverts, an denen ich roch, jedes Restchen Parfüm wie eine verbotene Freude genießend. Therese, das wäre es gewesen, so nahe am Glück vorbei . . . Warum war ich nur so ein Trottel? Ich hätte versucht haben können, es ihr zu sagen.

Babsy Fleischer klingelte mich an, während ich in Thereses Briefen las, und ein paar Kilometer weiter gondelten Anke und die Schwiegermutter und Tapetenkleister. Wie gesagt, ich brauchte Anke, aber Therese hielt mich umschlungen, ich träumte von ihr und ich . . .

Der Stau, von dem ich im Verkehrsbericht gehört hatte, würde nicht ewig dauern, bedauerte ich und steckte die Daten-CD in die für Transportprobleme extra erweiterte Innentasche meines Jacketts und ging nach draußen. Unterm Kaufhallenvordach stand eine Clique Bier trinkender Leute. Zwei Punkies mit Hund hatten sich abseits gesetzt. Ältere Männer standen sonst noch ´rum und eine Frau, schüchtern eingehakt. Blaugraue Farben, alle dieselbe Sorte billigsten Biers und Zigaretten haltend. Ein der Männer winkte mir zu, sprach mich an, zwei Zwillinge, also zwei Zwei-Euro-Stücke, die ich ihm ´mal während einer meiner wenigen finanziellen Glücks-Phasen zugeworfen hatte, waren von ihm nicht vergessen worden. Die meisten von denen bettelten dich auf dem Rückweg mit der gleichen Lügengeschichte an, die sie dir zwei Minuten vorher vor dem Weg in die Kaufhalle erzählt hatten. Nicht so dieser Alte, der hatte sein Erinnerungsvermögen offensichtlich noch nicht versoffen, was mich freute, denn ich hatte ihm Thereses Bild gezeigt, auch ein am Computer simuliertes mit schwarzen Haaren, allerdings sagte er, er hätte sie nie gesehen.

Während ich mich noch bei ihm bedankte, sah ich gegenüber einen anderen alten Mann: Anorak undefinierbarer Farbe und Form, blaugraue Jeans und Stoffbeutel. Da vergaß ich, weiter in meiner Jacke nach der Pfandmünze für den Einkaufswagen zu suchen. Der Typ hatte Bügelfalten in der Jeans, sogar am Anorak waren noch welche zu erkennen. Arm kann man sein, aber niemals schmutzig, so nach dem Motto war der Mann gekleidet. Ich beobachtete ihn, wie er die Punkies ansprach und - was anscheinend diese Blumenkinder mit Minusvorzeichen beeindrucken sollte - sogar deren räudige Töle tätschelte. Meinen Einkauf, den ich noch durch einen Besuch des Backwarenstands hinaus zögerte, streckte ich fast auf eine halbe Stunde, in dem ich sorgfältige Auswahl und Prüfung der Verfallsdaten vortäuschte. Die Befürchtungen erwiesen sich allerdings als unnötig, draußen wartete niemand auf mich: Der Typ, den ich für mich im Stillen Kommissar getauft hatte, war verschwunden. Die Punks bettelten mich an und ich zeigte ihnen fast schon routinemäßig meine Therese-Bildchen. Einer von denen setzte die Flasche ab, rulpste und meinte:

Geiles Fickbrett, Alter, geiles Fickbrett!

Der zweite stellte die Flasche ab, guckte mich an und nuschelte nur: Du musst in den Bunker, Alter. Ihr seid Arschlöcher, aber trotzdem, sagte ich und warf meine Pfandmünze auf den Teller. Als ich mit den Einkäufen fast um die Ecke gebogen war, rief der Punkie wieder: Im Bunker, Alter, in Bochum!

Verarschen kann ich mich allein!, wollte ich abwehren, als er mir hinterher rief: Bunker in Bochum, ob da mal übelst Notschlafstätte drinne ist, unter der Erde, dass de übelst kaum atmen kannst, verstehste Alter. Therese is das, war schrill drauf, die Alte, die hab ich da gesehen.

Ich setzte mich zu den Punkies auf die Gehwegplatten und ließ mir immer wieder erzählen, was der Bunker in Bochum wäre, nämlich eine schlecht gelüftete, unterirdische Notschlafstätte für Obdachlose, und wie und wann der mit den bunten Haaren Therese dort gesehen hätte.

Auf dem Rückweg von der Kaufhalle den Heimweg ausdehnend, sah ich, dass das Fenster zur Wohnung von Thereses Freundin nur angelehnt war. Ich kauerte mich einfach darunter und konnte mithören, auch wenn die nichts anderes von sich gab als: Häh, hm, hm und sag ich´ s doch, hab ich´ s mir gleich gedacht, ach nee, sag ich doch. Unter dem Balkon der Hochparterre-Wohnung bückte ich mich und verknotete meinem Schnürsenkel. Babsy benutzte - wie Bernd Wilke formuliert hätte: im Boudoir - also im Schlafzimmer, zwischen Spiegeln, Lampen und Drogerieartikeln sitzend, eine Freisprechanlage und kleine Lautsprecher, so konnte sie zwischen Auftragen von Make up und Lidschatten noch am Telefon sprechen. Nein, natürlich habe ich den gesehen, ach Quatsch, dem geht es gut. Dann ratterte die Straßenbahn. Das mit dem Lauschen war nicht in Ordnung von mir, trotzdem knotete ich meinen Senkel wieder auf. Wenn Anke mich sehen könnte! Wir waren ja noch nicht lange zusammen, kein Vierteljahr. Anke hatte viel fern gesehen, also war es nicht schwer ihr vor zu lügen, ich würde ein Buch schreiben, weil man damit Geld verdienen könne. Ich kannte einige - im Gegensatz zu mir ernsthaft arbeitende – Schriftsteller, die über die Idee, durch ein Buch Geld zu verdienen, schallend gelacht hätten, während ich dreist vorgegeben hatte, so zum Unterhalt unserer entstehenden Familie beitragen zu wollen. Therese wäre nur der Aufhänger, die geistige Anschubfinazierung, eben die Inspiration gewesen, hatte ich halb Ausrede, halb Erklärung zu liefern versucht. Wir hatten lange über Fiktionen gesprochen und ich hatte versucht zu erklären, warum ich auch ´mal was ausdenken müsste, was lügen müsste, um ganz wirklich zu sein. Als sie einlenkte, hatte ich schon gedacht gehabt, Anke hätte was begriffen, aber nein, die Sache mit der toten Therese wollte sie mir vorläufig noch erlauben, wenn ich endlich aufhören würde, um die Friseuse herum zu streichen, dieses Biest mit dem Tuschkastengesicht, das die Wolle über dem Hohlraum jede Woche anders einfärben würde. Sie übertrieb da, auch wenn die Friseuse in ihrem blonden Haar neuerdings eine grüne Strähne trug und ich hatte sie auch schon rotblond gesehen, das mochte stimmen, im Gegensatz zu Anke hatte ich mir darüber weniger Gedanken gemacht. Auch sonst war Anke ungerecht, überlegte ich, während ich unter dem Balkonvorsprung hervor krabbelte. Von wegen Hohlraum, Babsy las durchaus ein Buch und nicht nur Arztromane oder so was, sogar Zola las sie und hin und wieder den Spiegel und nicht nur die Revue, im Gegensatz zu mir konnte sie sogar Englisch. Ein Typ haute mir von hinten die Pranke auf die Schultern: Hör auf, um die Braut ´rum zu schleichen, ist mein Revier! Ich versprach das sofort. Die riecht nach Krankenhaus und die hier, jetzt kam er meiner Nase verdächtig nahe, die hier . . .Was denkst du? Friedhof!, antwortete ich, denn ich kannte das blöde Spiel noch vom Pausenhof meiner Schule. Die Straßenbahn ratterte und auf einmal veränderte sich sein Gesichtsausdruck, vielleicht nötigte ich ihm Achtung ab, gerade hatte ich ist schon gut, bin ja schon weg murmeln wollen, aber ich presste hervor: Warte mal!, und hielt meinen Zeigefinger vor die Lippen. Hatte ich es nicht genau gehört? Der Typ guckte zum Balkon und grinste. Warte mal, sagte ich, es geht um Leben und Tod. Jetzt schüttelte er nahezu mitleidig das Gesicht, er schaltete um auf Abblendlicht und hebelte sein Bike auf den Ständer. Die steht nicht auf so Vogelscheuchen wie dich, Männeken und er pfiff auf zwei Fingern. Mir blieb nichts anderes übrig, als wieder an meinen Schnürsenkeln zu knibbern. Babsy würde, wenn der Biker ihr von unserer Begegnung erzählen würde, sicher unschwer richtig vermuten, dass ich unter ihrem Balkon gelauscht hätte. Du bist schlimmer als ein Weib, hatte Anke mal zu mir gesagt, dabei war ich nur neugierig, wenn ich Grund dazu hatte. Babsy musste den Biker inzwischen hoch gewunken haben. Dann hörte ich es genau, wie sie ins Telefon sagte: Warte ´mal, Hottie ist jetzt da. Ich war ja froh, dass der jetzt zu ihr hoch gestiefelt war, sonst hätte er mich vielleicht aus Langeweile doch noch ein bisschen massakriert. Zum verfrühten Abbruch des Telefonats schien für sie kein Grund zu sein, das war zumindest ihre Botschaft an den Motorradmann, auch wenn sie ihn mit mein Bärchen begrüßte. Ihr Lachen gluckerte: Na, das kannst du wohl sagen; der denkt doch, dass du tot bist. Dann hörte ich die verzerrte Stimme, in der ich vage die Thereses vermutete: Nein, nicht was du schon wieder denkst, nett finde ich den so als Kumpel.

Nein, der weiß nichts, der denkt, dass du tot bist, trotzdem will er sogar über dich ein Buch machen - ist das nicht nett?, fragte Babsy.

Stellte sie den Freisprech lauter oder hatte ihr Besucher das Fenster weiter geöffnet, um nach mir zu gucken, jetzt hörte ich wieder ihre, Thereses Stimme: Von Bücherwürmern habe ich genug. Nur nicht noch so einer, mir reichts. Sag ihm, wenn er mich wirklich liebt, soll er nicht noch irgendein Geschreibsel zusammen murksen, sondern Bernd Wilke, das Arschloch ab murksen. Ach nein, sag nichts, ich bin ja tot.

Mit dem Tod schienen es die Leute an diesem Tage besonders eilig zu haben. Dich schlacke ich jetzt tot, rief Babsys Biker, weil ich immer noch unter dem Hochparterre-Balkon kauerte, vor dem dummerweise seine Maschine stand. Los, komm da raus, brüllte er, du bist so einer von den Schweinen wie die, die vorige Woche meinen Krümmer abgebaut haben. Mit einem Wisch zog der mich aus der Kuhle unterm Balkon vor. Er merkte, dass nichts zu fehlen schien. Vor ´ner Harley habe ich Respekt, würde ich mich nie vergreifen, versuchte ich zu schmeicheln. Babsy rettete mir wahrscheinlich das Leben: Hottie, flötete sie: Hottie, wir können fahren! Wird aber auch Zeit, grunzte der und ich nutzte meine letzte Chance, im Laufschritt. Fast wäre ich noch gefallen, die Schnürsenkel waren jetzt wirklich kaputt. An manchen Tagen aber kannte niemand ein Erbarmen mit mir, auf dem Küchentisch lag ein Zettel, auf dem stand, ich solle beim Nachbarn klingeln, der mir seinen Tapeziertisch leihen würde. Sicherheitshalber schloss ich mich im Bad ein, damit Anke nicht herein kommen und mich mitten im Nachdenken stören würde. So war das also, Therese lebte. Warum all diese Lügen, machte das Sinn, ein Jux konnte das doch nicht sein? Zufällig guckte ich in den Spiegel. Verdammt, der Typ hatte überhaupt noch nicht losgelegt, aber eine Schramme war doch an meiner Nase. In Ankes Schränkchen war nichts brauchbares zu finden, nur Zahnpasta und Mundwasser, ein kümmerlicher Rest Puder. Wie hatte ich mit meinen Schlussfolgerungen nur so daneben liegen können, schon gestern hatten mich die Punkies verarscht. Wenigstens den umgebauten Bunker, der für die Obdachlosen in Bochum als Notschlafstätte diente, gab es, das hatte ich im Internet nachgelesen. Therese, hatte der gemeint, als ich ihm das Bild gezeigt hatte: Das ist doch Therese! Daraufhin war ich zu fassungslos gewesen, um so was wie kritischen Verstand zu entwickeln, war viel zu gutgläubig. Er musste Therese in Bochum deshalb noch lange nicht gesehen haben, vielleicht hatte er nur an meiner Frage meine Sehnsucht gespürt und drauflos fabuliert, ihren Namen konnte er von anderen aus der Clique wissen, die ich schon befragt hatte. Willig und viel zu voreilig hatte ich Trottel Bier und Pizza spendiert und dann hatte der sich natürlich nicht mehr, wie noch anfangs, jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen lassen. Ausgeflippt sei die gewesen: Auf ´nem Konzert, Alter, das war vielleicht ´ne steile Braut, aber auch irgendwie melancholisch. Immerhin war ich noch an eine Information gekommen, die eine Vermutung bestätigte und mich nachdenklich stimmte, der Schnüffler, der mit den Bügelfalten in Jeans und Anorak, hatte nämlich seinen Dienstausweis gezeigt. Seit wann befragte die Kripo Leute, denen ich vorher eine Auskunft abluchsen wollte. Zufall? Therese war also nicht tot, sondern abgetaucht. Junge, Junge, die Nase tat mir jetzt doch irgendwie weh und draußen hörte ich Anke. Herr Buller muss zur Schicht! Wann holst du den Tapeziertisch ab? Warum dauert das so lange? Hängst du den ganzen Tag auf dem Klo herum, um dir beim Gedanken an die blöde Schnepfe . . . Na ja und so weiter, auch die sozusagen anständigen und arbeitsamen Frauen sind ordinär heutzutage. Dabei war mir auf dem Klo nochmal durch den Kopf gegangen, dass es nicht nur um das Geld schade war, für das ich den Punkies Bier und Pizza spendiert hatte, auch mein Besuch im Internet-Café war in der Sache unnötig gewesen, beim Eingeben von Thereses Namen war ich sogar im Verzeichnis der Heiligen der katholischen Kirche gelandet. Nach unserem Streit, als ich mich mit Anke ausgesöhnt hatte und sie mir eine kühlenden Salbe auf den Zinken schmierte - ich hatte in den Spiegel geguckt, irgendwie sah ich wie ein Clown aus - lachte sie mich aus und nannte mich Dummerle. Du, da könntest du doch die Therese ´mal einfach umbenennen, vielleicht in . . .ach Quatsch, warum schreibst du nicht endlich ´mal was über mich, muss es der Nachbarsgarten sein?

 

Nicht nur Anke, überhaupt die Leute nervten mit ihren unbequemen Fragen.

Sage mal, wovon lebt denn der nun eigentlich, wollten die immer gleich zur Sache kommen und Befragter oder Befragte begannen notgedrungen ihre Ausrede oder wie Bernd Wilke dann formuliert hätte: Apologie.

Bernd Wilke lebte von gewissen Subventionen, staatliche Unterstützungen, einer vom hohen Consistorii wohllöblich ausgesetzten Apanage, in Kennerkreise einfach Arbeitslosengeld genannt, und zwar in dessen niedrigster Variante. Für seinen Gang in die Bibliothek, wo sich im gewohnheitsmäßig benutzten Spind das Aroma seiner Leberwurstbrote konservierte, während er es sich im Lesesaal gemütlich machte, für den kleinen Kaffee aus dem Automaten reichte es anscheinend, seine alte Mutter steckte ihm ab und an was zu. Er hatte sogar ein Diplom in der Mappe und einige wissenschaftliche Artikel und außerdem auch Abhandlungen für den interessierten Laien geschrieben. Sein Stil mochte ein bisschen zu sachtrocken sein, um noch wirklich im Touch jenes Zeitgeistes zu sein, wo im Rokokospiegel schon ´mal das Barbypüppchen mit Kussmündchen philosophierte und Johann Sebastian Bachs Kunst der Fuge auch als Klingelton für´s Handy in der Jugendkultur übelst retro-trendy war. Für die chice Schreibe ist einer, der nicht kapiert hat, dass man jetzt Vinyl statt Langspielplatte sagt und der bei MP-Drei an Maschinenpistolen denkt, nicht zu retten. Bernd versteht auch was von Physik und Süßwasseraquarien, die Tusse vom Lifestyl-Magazin, die in der Befindlichkeits-Rubrik Männer in Kategorien ablegt, hätte ihn einen Nerd genannt. Bernd hätte solchen Jargon ohnehin nicht verstanden, der kapierte noch nicht mal, warum die Studentin aus der Nebenwohnung ihn kaum noch grüßte, nachdem er sie mit Fräulein angesprochen hatte.

Vielleicht hätte er zu andern Zeiten einen guten Archivar abgeben können, aber so gut war er nun auch wieder nicht präpariert, lateinisch konnte er schreiben, das ja, aber griechisch Fehlanzeige wie bei Schillern und sein Englisch reichte wirklich nur für Konversation in der Art, Sandwich und Whisky zu bestellen.

Babsy - Bernadette Fleischer, die Friseuse, lebte ebenfalls von Arbeitslosengeld und in des Abends blauer Stunde frisierte sie im engeren und weiteren Freundinnenkreis für kleines Geld, ihre Stärke war das Auf-Toupieren, ihre Spezialität Löckchen und gefärbte Strähnchen.

Im Friseursalon, da war sie noch viel zu gutdumm, ja gutdumm, so hatte Babsy immer wieder gesagt, sich den ganzen Tag das Gesülze im Laden und zwischen durch noch das Mobbing der Chefin anzuhören, wo sie doch fürs Zuhausebleiben nur schlappe Hundertfünfzig weniger bekam und abends das Frisieren ihrer privaten Stammkundinnen ihr viel mehr Spaß machte. Die Flattermaus Babsy, bei sich zu Hause umflatterte sie die Kundinnen in einem weißen Rüschenkittel und babbelte immer und rauchte viel zu viele leichte Zigaretten . . .

Bernd mochte ein Diplom im Bilderrahmen und künftige wichtige Werke der Fachliteratur in der Klemmmappe haben, aber er hatte, genau wie die Friseuse, im Stillen eine Kosten-Nutzen-Rechnung gemacht, als er amtlicherseits nahe gelegt bekommen hatte, für eine Münze unserer Währung pro Stunde in der Bibliothek zu arbeiten. Was für ihn auch bedeutet hätte, dort niemals mehr in seiner frühen Art als Leser auftreten zu können, der schon mal nervte, wenn er zeitweise verstellte Bücher anforderte oder das Fehlen wichtiger Nachschlagewerke monierte. Davon könnte dann keine Rede mehr sein, sondern er hätte als Mitarbeiter, wenn auch unterster Kategorie, die bestellten Bücher mit dem Karren zwischen Magazin und Lesesaal transportieren und die Regale abstauben müssen. Babsy und Bücherwurm kannten sich nur flüchtig, dennoch hatten sie eine weitere Gemeinsamkeit, es reichte nicht, was das Amt so zahlte. Wie denn nun Bernd, dessen letztes Honorar für einen Artikel noch in Aluminium aus dem Ostblock ausgezahlt worden war – gab er Nachhilfestunden, schrieb er für ausländische Mitbürger gegen kleines Geld Briefe ins Reine?

Indiskret bin ich nicht, einzig um Thereses Willen meinte ich damals, müsste ich mich den Marotten und auch den Schwächen Bernd Wilkes nach zu forschen bemühen, denn sie hatte ihn geliebt. Wenn ich Therese finden wollte, die, über die ich schreiben wollte, dürfte ich den Bücherwurm nicht ignorieren, überlegte ich. War ja nicht so, dass ich mit Wilke nicht klar gekommen wäre, wir unterhielten uns gelegentlich in einem der Cafés, die von ihm verfassten Künstlerbiographien boten mir hingegen so wenig Neues wie seine Erzählungen, es klang zu sehr nach den Autoren, die er immer noch gerne las. Armer Bernd Wilke, wie hatte ihn einer seiner schärfsten Kritiker verrissen: Die Leute lesen fast alle nicht mehr, die wenigen aber, die noch lesen, lesen ihre Lieblinge bevorzugt im Original.

Therese hatte ihn geliebt, diesen Sonderling, dessen Schuppen auf sein Jackett schneiten, der jeden Zahnarzt wie einen Bruder Inquisitor floh, der es oft genug für den inneren Garten seiner Gedankenspaziergangswälder so hielt wie der von seiner Frau Bettina getrennt lebende Romantiker Achim von Arnim auf Schloss Wiepersdorf: Frauen raus! Und Franzosen hätte er sowieso nicht verstanden.

Wie hingegen hätte ich Therese behütet und beschützt, hätte nur noch und einzig für sie gedichtet, und überhaupt: Ich war doch viel moderner, lebensnaher und unverkrampfter, das blöde Abziehbild des gebeugten Studier-Idioten mit Buckel, Baske und abgeschabter Aktentasche hatte ich doch längst unter Papierkorb leeren und erst recht in der Systemsteuerung gelöscht - oder?

Bernd Wilke mochte Frauen, wenn sie, wie er formulierte, nicht an seinen Schreibtisch rührten, aber er würde sich nie wieder wie damals – oh großer Jugendschmerz Wilkes aus der Zeit des Schwarz-Weiß-Fernsehers - nie wieder abhängig machen. Nochmals hatte ich rekapituliert: Auf den sanften Anbeginn der Szene, die ihm Therese machte, antwortete er, mit Andeutung eines Handkusses: Danke gnädige Frau, war mir eine große Ehre, bitte, unterthänigst zu gestatten, anfragen zu dürfen, mich zu Ihro Gnaden Wohlbefinden zurückziehen zu dürfen. Geschraubtheiten war Therese von diesem komischen Büchervogel schon gewöhnt, aber der langte nach seinen persönlichen Aufzeichnungen und Lieblingsbüchern, als wenn jeder Griff bereits in heimlichen Probealarmen eingeübt gewesen wäre.

Frauen leiden in der Beziehung, Männer danach!, hatte die Lifestyl-Tante in einem der Magazine, die im Wartebereich des Friseursalons herum lagen, geschrieben - im Fall von Therese und Bernd schien das umgekehrt zu sein. Bernd hatte Therese um vieles gebracht, erst um jene gewisse ausschließliche Aufmerksamkeit, die eine Frau wie Therese zumindest in den ersten Monaten erwarten durfte - er hätte seinen Traum von Troja oder die Eckermann-Ausgaben ganz gut ´mal gegen eine Trauminsel und den Neckermann-Katalog austauschen können. Und darüber hinaus verwehrte er ihr die Nachbeziehung, schlich sich wie ein Statist von der Bühne, wo er doch für sie, wenn auch nur in einem gewissen Anflug von Verwirrung, wie ich es interpretierte, der Hauptdarsteller gewesen war.

Therese versuchte es wie früher, zog das lange schwarze Kleid mit den Seitenschlitzen an. Vor der Sperrholzplatte des Bettendes lag nun kein Kopfkissen mehr, richtig den Brägen an die Bettwand knallen sollte es bei der Kopulation, nur nicht wieder einer, der ihr über´s Haar strich. Auf ihren nächtlichen Streifzügen wird die blonde Raubkatze mit den kirschroten Krallen sicher fündig geworden sein.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Natursekt, Wurstmaxe und die Tankstellen-Kids

 

 

Mein Stern beginnt schon zu sinken, flüsterte Therese dem Toilettenspiegel zu. Sie hatte an diesem Tag kein Abschminktuch, kein Clinex dabei, sie würde nicht weinen. Ein smarter Junge, der eben noch mit ihr geflirtet hatte, meinte zu einem Kumpel an der Bar: Die Tusse nervt, genau die Art, die erst auf nuttig machen und später klammern. An die denkst du sowieso noch lange, sie geht dir nicht mehr aus dem Sinn, gibt dir ein Andenken mit, Sackratten oder so sind das mindeste, so hatte er, absichtlich gut hörbar, einen seiner zynischen Kommentare abgeliefert.

Therese hatte sich längst überschminkt, wie es in ihrem Alter nicht mehr durch ging. Außerdem kam eine neue Mode auf, eine extra-bekloppte, wie sie fand, die meisten Bars waren strahlend weiß, hell ausgeleuchtet, die Scheiben ohne Gardinen, wie damals die Werkhallen, in der sie den blöden Teilfacharbeiter für Schneiderin machen sollte – eklig. Therese war nicht mehr das Zentrum, spürte sie, der Spaghetti-Träger überdeckte einen Pickel, wie sie erschreckt entdeckte, eine Tarnung des Makels, die jede Sekunde verrutschen konnte. Ihr Make-up stimmte für diesen Abend irgendwie nicht, ein Absatz war leicht schief, für die Lippen war der Stift mit den Pastelltönen einfach weg gewesen, so wie der Carrial-Stift für die Augenbrauen. Hatte der Bücherwurm doch geklaut? Sie war total durcheinander, durcheinander wegen des Bücherwurms oder kam der schmierige, grintige Faxenmacher aus der Stroboskopkugel der Disco? Partymaus und Discogirl, die morgen wieder in der Schule erwartet wurden, warfen eine Pille ein. Therese nahm nie etwas, worauf sie stolz war.

Zu Hause am anderen Morgen wieder ihre Rituale: Lämpchen über dem Spiegel angeknipst, die Vorhänge blieben geschlossen. Beim Ausrasieren der Achselhöhlen im Bad hatte sie begonnen, sich zu erinnern. Der von gestern würde niemals Liebender sein, sie wusste so was intuitiv, auch wenn sie es nicht von den Leuten gehört hätte, wie arrogant er über Frauen dachte. Was kam ihr für eine Erinnerung übel hoch? Hatte der wirklich so mies gesprochen oder war das aus ihrem Traum, oder Einbildung? Es ging ihr nicht um diesen kalten Jäger, sondern sie war beunruhigt über das, was sie den Schluss-Gong nannte. An den Wochenenden machte sich das besonders bemerkbar, wenn die Schulmädchen in der Disco auftauchten, nicht dass sie nicht mehr gefragt gewesen wäre, aber. . . Die Musik schwappte in Wellen, immer wieder derselbe Refrain, das passierte ihr immer öfter, dass sie die Musik wie in einem Aufbranden am Morgen nach der Disco wieder zu hören schien. Sie achtete auf Stimmen und Gerüche, Bewegungen, bis sie hin und her geschleudert wurde, wusste nicht, dass sie tanzte und kaum, was sie geredet hatte, außer dass sie dem Namen des Drinks noch „on the rocks“ zugefügt hatte und den schlanken Händen des Barkeepers zuschaute, jetzt, wo sie sich hin und wieder selber die Drinks bestellen musste. Bestimmt hatte der ober-coole Typ recht gehabt, zu den ABBA´s hatte der bei „Money, money“ auf deutsch mitgesungen: „Geld ist alles, sonst bist du nur ein dummer Clown!“

Therese telefonierte. Es ging jetzt den dritten Tag so, ewige Wegbeschreibungen für die potenziellen Kunden, die, je nachdem, von der Autobahn am Abzweig sowieso abbiegen sollten. Dieser Teil der Arbeit musste sein, wer nach dem Weg fragte statt nach erotischen Details, der würde vielleicht ernsthafter interessiert sein als einer, den man bei einem Wort wie Körbchengröße schon hecheln hören konnte und der nach der Standardformulierung: Mache alles mit, was Spaß macht!, sich vor geilem Stammeln nicht mehr halten konnte. Therese kauerte an dem kleinen Nachtschränkchen, an dem sie sich auch schminkte und wiederholte immer wieder ihre Litanei der Abzweigungen, die Nummern der Autobahnen und Bundesstraßen, erwähnte die Wahrzeichen in der Umgebung, die Tankstelle und das Kriegerdenkmal als Orientierung. Ein Stammkunde, der die Wegbeschreibung nicht gebraucht hätte, war selten unter den Anrufern. Den dritten Tag war sie jetzt schon ohne Einnahme, nur wenige waren überhaupt vorbei gekommen, hatten geguckt und waren mit Ausreden wie: Muss mal eben noch zum Bankomat!, wieder entschwunden. Nur gestern, da waren zwei Typen, die wollten erst etwas ganz Junges und dann schlugen sie vor, einen Dreier zu machen, waren aber schon angesoffen, da hatte sie drauf verzichtet. Edita Maria de Jesus war aufgekreuzt, die große schwarze Mutti, und hatte den Bubies, wie sie es sagte, den Arsch getätschelt, dass die ganz kleinlaut wurden. Einer war dann mitgegangen – für fünfunddreißig, wie sich herausstellen sollte. Edita hatte Therese nur im Vertrauen davon erzählt, denn für unter Fünfzig, das machte man nicht, war direkt ehrenrührig. Black Mama wollte ja auch nicht die Preise unterbieten, sie hatte nur keine Lust auf den Skandal, den Tanz, den Hottie mit dem Kleinen veranstalten würde. Wieder und immer wieder klingelte ihr Handy und Therese war schon skeptisch über die Qualität des Anrufs, wenn sie auf dem Display Anonymer Anrufer las. Die raue Stimme eines Schuljungen fragte an, ob sie auch Arsch- und Tittenfick machen können, das Lachen seiner Kameraden im Hintergrund. Ein komplexbeladener, schüchtener Manager, der keinen hochkriegte und dafür aus Schuldgefühl hundertfünfzig hinblätterte, weil sie so nett war, von so einem guten Kunden träumte Therese, von einem, der nur labern wollte. Edita hingegen hatte an solchen Jobs wenig Freude, gutes Geld für gute Gymnastik war ihre Devise, ihr machte die Sache Spaß, das sparte den Aufwand mit dem Vibrator, selbst das Jüngelchen hatte sie noch gemolken, so was war ihr beruflich Ehrensache. Kannst du sprechen mit diesem Mann, ich nicht verstehen seine Dialekt, hatte sie Therese beim nächsten Anruf um Hilfe gebeten.

Der Mann war, wie sich herausstellte, ein LKW-Fahrer aus Bayern, mit dem sie aber nicht handelseinig werden konnten, denn er gab vor, eine Gummi-Allergie zu haben, wollte es ohne Kondom machen. Oh mein Gott, Jesus, es kocht über, rannte Maria Edita Jesus davon. Therese ihr nach, das Handy ließ sie liegen. Der Duft von Hühnchen mit Reis kitzelte in der Nase. Es duftete nach Zimt und Wüstenblume: Weil ich mische guten Zauber hinein für viel zu blasses teutsches Mädchen, hatte Edita ihre traurige Kollegin aufzumuntern versucht, aber aus dem gemeinsamem Essen wurde nichts. Und Therese konnte nicht allein essen, wusste, sie würde nichts herunter bekommen.

 

Maxe ließ den Türgong ertönen, so einer rief nicht vorher an, der kannte die Adresse zu genau, die Adern in seinem überhitzten Gesicht waren so deutlich wie der Autobahnzubringer auf dem Stadtplan zu sehen. Therese riegelte sich ein und sah noch, wie Edita dem Maxe auf die Wange küsste. Vielleicht passten die beiden ja gut zusammen, die Kolleginnen erzählten sich, dass Edita das meiste Geld sowieso in Bratenfleisch und Hühnersuppen verwandeln würde. Maxe war kein schwieriger Gast, er verrichtete Seins und versuchte weder anfassen noch knutschen, trollte sich auch bald ohne lange Nachrede, aber seine Währung schmeckte eben nicht jeder. Hottie hatte schon mehrmals getönt, ihm dürfte der Wurst-Maxe nicht unter die Finger kommen. Wenn einer schon Scheiße baut, solle er das mit eigenen Tricks versuchen und nicht mit der Nachkriegsnummer seines Opas. Wurstmaxes Großvater sollte nämlich, so erzählte man sich, einen Bauernhof gehabt haben und nach dem Krieg, als alles knapp war und nur auf Marken oder für Filterzigaretten und ähnlichen Luxus aus Armeebeständen zu haben war, da war Wurstmaxes Opa tagelang versackt und hatte in den Bordellen einfachen mit Schweinespeck, Schinken und und Schlackwurst bezahlt. Jetzt, nach der Wende, hatte sein Enkel, der auf dem Markt an einem Wurststand aushalf, dieselbe Nummer versucht und nach Anfängerpech, wo sie ihm noch versprochen hatten, ihm das nächste mal eins drauf zu puchen, doch wirklich wieder Dumme, oder besser gesagt, Dummchen gefunden. Wurstmaxe erzählte auch ohne Nachfrage gern, wie schwer er wieder gearbeitet hätte und wie das eben heute so wäre, der Chef würde ihn hinhalten. Was soll´s, so lange Edita darauf einging, war Wurstmaxe ein Kunde und ein Kunde ist ein Kunde, ist ein Kunde. So ein Etablissement war schließlich keine Gängsterkomödie, wo das Auftauchen der Bullen erst Schwung in die Dramaturgie bringen würde. Das hätte durchaus passieren können, als Hottie die Brieftasche aus der Hose, die Wurst-Maxe nach dem Baden neben der Wanne liegen gelassen hatte, heraus zog und nicht schlecht staunte, es waren drei Hunderter drin gewesen. Hottie hatte das Geld drinnen gelassen und die Brieftasche zurückgesteckt, wenigstens aber Edita in Kenntnis gesetzt, da aber hatte der saubere Wurst-Maxe schon vorgebaut: Chefchen ist so dummfrech, mich jedesmal abends zum Einzahlen der Penunze auf die Bank zu schicken, ohne an meinen Lohn zu denken.

Therese zerknüllte die zweite leere Schachtel, bald würde sie die Zigaretten bei den Kolleginnen schnorren oder sich Kleingeld leihen müssen, ihre Zimmermiete war auch noch offen. Sie lüftete die kleine Küche, in der sie jetzt den dritten Tag wartete, das Handy klingelte und es begann ihr immer schwerer zu fallen, mit der Stimme zu lächeln. Fünf Minuten später war er da, so was lief nach drei Tagen Wartezeit und der endlosen Litanei von Ortsbeschreibung unter: Der Prinz! Thereses Prinz hieß Rolf, so sagte er gleich unten am Eingang und hatte noch gemeint: Du gefällst mir, sind fünfzig okay? Er roch etwas penetrant nach Deospray und billigem Rasierwasser, aber immerhin hatte er seinen Atem mit einem dieser Dragées aufgefrischt und, so ahnte Therese, so sorgfältig wie die Bügelfalten seiner Hose, würde er den Fuffi in einem Extra-Fach gefaltet haben. Richtig zog er den Schein aus dem separaten Fach seiner Handgelenk-Tasche, legte ihn gleich zu Anfang auf das Tischchen. Therese dimmte das Licht und half ihm beim Ausziehen. Sogar die Socken zog er aus, mehr konnte sie an Höflichkeiten nicht verlangen. Ihr half es meist bis Dreiundzwanzig zu zählen und gucke, da hatte er sich abgehaspert, schloss beglückt die Augen, was Therese genug Zeit ließ das Läppchen, mit dem sie für ihn die Schamlippe vorgetäuscht hatte, in der Ritze zwischen Bett und Tapete verschwinden zu lassen. Sie hätte ihm aus Höflichkeit sein klein geschrumpeltes Teil gewaschen, wenn sie schon, wie man in der Branche sagte, mittels des Läppchens eine Pfanne geschoben hatte, aber der arglose Rolf hatte es eilig, er fand allein raus, auch gut, dachte Therese und küsste – den Geldschein. Sie warf den Gummi in hohem Bogen in den Klappeimer, während gleichzeitig das Handy und der ach so melodische Türgong ertönten. Edita ging nicht zur Tür, sie schien Wurstmaxe anscheinend noch zum Essen eingeladen zu haben, den Schwiemel. Im Vestibül stand ein alter Kerl mit Glatze: Ich bin´s Eberhahardt, stotterte der: Weißt du Mähchen, wir haben doch zusammen telefoniert. Sie hatte ihn nie ernst genommen. Dass der wirklich noch gekommen war, Eberhardt, das Schweineferkel, der sich für ihr Pipie interessiert hatte und der immer wieder, besonders nachts, wenn sie gerade bisschen weggedämmert war, angerufen hatte, um zu fragen, ob sie es wirklich machen würde. Nicht nur ein geeignetes Glas fehlte ihr, so dass sie, um Zeit gewinnen, Eberhardt vom billigen Sekt spendierte, sondern sie bereute jetzt auch, bereits auf der Toilette gewesen zu sein. Der Alte hatte allerdings seine Vorteile, denn er zog zwei Hunderter heraus und bot ihr von seinen Zigaretten an. Ne Menge, für so einen Spinner, der sie nicht mal berühren würde. Er sah ihr zu, wie sich quälte, endlich ein paar Tropfen in sein Sektglas zu pinkeln. Hätte sie gewusst, dass ihm die Sache zwei Hunderter wert sein würde, wäre sie zuvor mit ihrer Körperflüssigkeit sparsamer umgegangen. Vielleicht brauchte er dieses Getränk aus medizinischen Gründen, denn ihr war aufgefallen, dass er nach der Prozedur kaum noch stotterte. Sie tranken danach noch zwei Gläser vom billigen Sekt. Eberhardt machte ihr ein paar plumpe, aber gut gemeinte Komplimente, gab so eine Art delikaten Opa mit ein paar Macken und einem Faible für die Enkelin, die sie gut hätte sein können. Er meinte noch, er würde gern wieder kommen, und sie bemerkte irritiert, nachdem sie ihn zur Tür gebracht hatte, dass er ihr leid tat.

Immerhin, so einzigartig pervers war seine Macke nun auch wieder nicht: Natursekt nannten sie das in der Branche. Eberhardts Hunderter wiesen alle Sicherheitsmerkmale auf, trotzdem hätte sie beinah zu flennen begonnen. Ob es draußen noch irgendwo gesunde, normale Männer gab, solche, die sonnabends ausgingen, vielleicht auch mal tanzten und sich danach mit einem netten Mädchen verabreden wollten, die gut rochen und denen der Geifer nicht schon bei der ersten Verabredung aus den Mundwinkeln tropfte? - Aber sie lernte ja nur noch die Spinner kennen. Therese hörte die Stimme, obwohl es still war, auch das Handy endlich mal pausierte, sie hörte aus ihrer Erinnerung Wilkes Stimme: Miese kleine Nutte, musst dich aufregen, miese kleine Nutte.

Ihre Schritte schwebten über das schmuddlige Rot des Läufers die Treppe hinunter. Dreihundertfünfzig, da würde sich das Bienchen, wie sie ihren gelbbraun rostenden, klapprigen Ford nannte, aber freuen. Dreihundertfünfzig!!! - nach diesem ewigen Kleingeld zählen in den letzten Tagen und der Feststellung, es wären immer doch noch nur dieselben zweiunddreißig Cent. Da sollte es Leute geben, die Chemikalien aufkochten, spritzten oder schnüffelten, um einen Kick zu bekommen, na schönen Dank auch, ihr Kick hieß Bar-Cash. Vor der Tür mit dem Spiegel zum einseitigen Durchgucken, bremste Thereses Gleitflug der Träume von Salatbar, Ananas, frisch gepresstem Orangensaft und vollgetanktem Bienchen. Denkste mal an die Miete, schob sich Hotties Kopf mit einem dicken Grinsen durch die Tür. Alles klar, log Therese und versuchte ihrer Stimme diese Forsche zu verleihen, die der Alte, der Chef, gegenüber ihm oder dem Hausmeister anschlug, wenn Finanzielles zu besprechen war. Hottie hatte sicher versucht zu überschlagen, wie hoch ihre Einnahmen gewesen sein könnten, das war ihr klar. Hör mal, bei mir ist jetzt ein bisschen die Luft raus, versuchte sie es mit einem Schmollmund. Hottie lachte, er war der mit der freundlichen Tour: Von dir hätte ich das nicht gedacht, wolltest du nicht ´ne Spende für meinen neuen Außenspiegel machen Baby, statt dessen bunkerst du?

Nicht mal ihrer Samtkatzenstimme half, wenn sie jetzt in Aussicht stellte, es sich demnächst mit Hottie mal richtig gemütlich zu machen. Solange sie noch die Freundin gewesen war, die Babsy besuchte, war Hottie spitz wie Rettich gewesen und dazu rührend schüchtern, jetzt stand sie nur vor dem Zahlmeister, der abkassierte und in der Tabelle mit Datum und Zimmernummer hinter drei Daten bezahlt kritzelte. Na also, brummte Hottie und pfiff: Love, love, love . . .

Die Tanke habe ich für uns gerettet, Bienchen, flüsterte sie und strich übers Lenkrad. Das Ziel ihrer kleinen Reise war ein Dreieck am Stadtrand: Tankstelle, Baumarkt und Möbel-Plotz, vielleicht würde es noch für einen Besuch bei ATW, Auto-Teile-Wunger reichen. Wonach roch es nur im Bienchen - überhaupt nicht Biene? Gammelten da irgendwo matschige Früchte? Außerdem roch sie schmorenden Gummi. An der Ampel wartend, merkte sie, wie eine Wutwoge in ihr auf wallte: Schwein, dieser Hottie, der kassierte Babsy bestimmt noch privat ab, so waren die Kerle, mit ´mal schnell die Haare richten hatte es angefangen, lächerlich, ein Rocker mit Kaltwelle und die neuerdings strahlenden Zähne konnten auch nur aus Plastik sein. Sie guckte in den Spiegel, ob sie sich auch richtig abgeschminkt hatte, und diese kleine Eitelkeit nutzte geschickt der Schutzengel des überholenden Bikers, den es sonst vom toten Winkel über das Bienchen ins Krankenhaus oder die Leichenhalle geschleudert hätte. Das Ausweichmanöver, das nicht nur dem Bienchen Beulen ersparte, schien Therese gar nicht richtig bewusst geworden zu sein: Jetzt bin ich Thea, verlangte sie von sich selbst; nichts mehr von Wangen-Rouge sollte bleiben, die blonde Haarflut nur noch ein Knoten unterm Base-Cape. Weißt du, Bienchen, ich freu mich irgendwie auf den Tag, an dem ich alt bin wie du, altes Bienchen, dich will keiner klauen oder pfänden und bist doch mein liebstes. BW flog in großen leuchtenden Buchstaben an Therese vorüber, was für Bürobedarf Weidner stand, Therese natürlich an Bernd Wilke denken ließ. Auf einmal war ihr Groll verflogen, Therese steuerte die Abfahrt an: Sie blieb im Auto sitzen, konnte durch das Seitenfenster auf die Schreibtische, Computertische, Roll- und Aktenschränke sehen. BW, Bücherwurm, komisch, dem hatte sie selbst ein bisschen Kleingeld geradezu aufdrängeln müssen, ausgenutzt hatte der Spinner sie nicht, aber wie konnte der aufbrausend sein. Therese kaufte nämlich viel lieber auf der Shopping-Mall im Winndorff-Center ein als in der Innenstadt, wie Bernd Wilke das gerade zu verlangt hatte. Gott, war der ausgetickt, wenn auch nur mit Worten. Was war das nur für ein seltsames Wort? Also, wenn sie jetzt mit dem Bienchen zur Tankstelle fahren und dabei noch am Baumarkt und bei den Möbeln vorbei gucken würde, wäre das, er hatte sie da mit so einem komischen Wort genervt. Sie hatte es ja damals versucht, aber sie mochte keine Gebrauchtmöbel und einen Laden für neue Möbel gab es in der Innenstadt schon lange nicht mehr. Gebrauchtmöbel waren für Therese igitt, weil da die Liebesbriefe fremder Tussen aus verdäcksten und verschmandeten Schubfächern krochen. Bernd hatte gemeint, so was wie diese Einkaufszentren auf der grünen Wiese würde wachsen wie diese Krebsknuppel, na, sag schon: Methastasen. Therese suchte die Telefonnummer einer Freundin, um die zu fragen, ob sie sich noch an BW´s Telefonnummer erinnern könne, aber da quakte schon wieder die Stimme: Ihr Guthaben reicht nicht aus, gut, dass es ihr doch noch einfiel, das gesuchte Wort, der Richter damals, der wegen den Carrialstiften und dem kleinen Röhrchen Parfüm so einen Aufriss gemacht hatte, der hatte so einen ähnlichen Namen gehabt wie Bernds Wort, Urban hatte der geheißen, komisch: Suburban, hatte Bernd gewettert und noch so was abgefahrenes: Abort, ach nee, Unort hatte der so was genannt, wo man von der Tankstelle neben dem Imbiss am praktischen Container-Hotel vorbei fahren konnte. Therese fühlte sich wohl am suburbanen Unort, sie schleckte Fruchtsalat in sich rein, natürlich erst nachdem sie ihr Bienchen mit dem bleifreien Gemisch, Öl und einer Massage mit Wischer verwöhnt hatte. Den Sitz schob sie sich in eine bequemere Position und erwachte erst, als das Geräusch des auf die Karosse pladdernden Regens verebbte. Auf dem Parkplatz sah sie jetzt junge Leute vor aufgestylten Autos, sah Heckspoiler, schwarz abgeklebte Fenster, verchromten Radkappen, blau getönte Scheinwerfer. Ihr fiel auf, wie jung die Mädchen waren und dass sich welche von denen, viele davon offensichtlich tubenblond, die da in der Clique herumstanden und rauchten, in den engen Tops und bauchfrei oder den Blick auf die smarte Passage über den Po, dass die sich freiwillig so kleideten, wie man es in ihrer Branche nur zum Empfang tat, die Kolleginnen nannten den Fummel, der dem Kunden den letzten Zweifel an der Richtigkeit seiner Geldausgabe nehmen sollte: Kampfanzug. Mochten bestimmt über dreißig Autos sein, paar Cabrios darunter, vor denen die jungen Leute Cola-Dosen und Zigaretten in Händen hielten und aus bassigen Anlagen gedämpft Musik hörten. Die gläserne Tankstelle erstrahlte in einem blauen Licht wie die erleuchteten Kabinen eines Luxusliners in der Nacht, trotzdem musste Therese das Einrangieren wiederholen, ehe sie einen funktionstüchtigen Kompressor für den Reifendruck gefunden hatte. Tankstellen-Kids erklärte der Chef, der statt blauer Latzhose so etwas wie einen Abendanzug trug, der neugierigen Touristin mit dem plattduetschen Dialekt.

Is ja nu ok alls neet so eenfach vandaag, bi de Preisentwicklung . . .!

Bei der Preisentwicklung! - habe ich schon gehört, dachte Therese, die von ihrer Mutter mal derb eine geschossen bekommen hatte, damit sie sich merkte, dass man nicht dazwischen quatschte, dennoch hätte sie sich gern nach dem Toilettenschlüssel erkundigt, aber es half nichts, der Unternehmer sprach jetzt mit der Unternehmerin über die Schwierigkeiten, geeignetes Personal zu finden und was einem die Arbeitsämter so vermitteln, brauche man bloß nach draußen zu gucken, meinte er, Tankstellen-Kids. Wegen denen war sogar neulich ein Reporter hier. Die tanken zwei Liter, wenn überhaupt, belagern stundenlang den Staubsauger oder zelebrieren Wolke, was auch Therese als Kurzwort für Wasser, Öl, Licht, Kraftstoff und Elektrik kannte. Ihre Blase drückte mittlerweile so stark, dass sie die rabiate Erziehungsmaßnahme ihrer Mutter vergaß und endlich den Kloschlüssel bekam und also nicht mehr hören musste, dass die Tankstellen-Kids zu fünft an einer Cola nuckelten und einem ehrlichen Unternehmer das Geschäft verdarben, auch wenn die sogar manchmal den Müll wegräumten und übrigens keinen Alkohol tranken, dafür aber alle bekifft waren, das waren eben doch frustrierte Jugendliche ohne Perspektive und er und die Kundin seufzten, als wenn die Tankstellen-Kids ihre gemeinsam in Marken-Klamotten und aufgemotzen Vehikeln moralisch verwahrlosten Nachwende-Enkel wären. Es hätte sich was anbahnen können, das war schon fast intim, dieses gemeinsame Seufzen, aber dann musste es ja wieder werden, weil: Von nichts kommt nichts! Eine nette Frau dachte der Tankwart im Abendanzug und starrte Therese, die den Schlüssel zurückgebracht und Hygienetücher gekauft hatte, gedankenverloren auf die Rücklichter.

 

 

 

 

 

 

 

Kaffeewasser vom Klo

 

 

Regen prasselte ohne Vorwarnung, feuchtwarmer Dunst, das Wasser verdampfte. Der Straßenbelag an der Kreuzung vor Krohmers Restaurant graublau und schmierig und meine Hand umkrampfte meine Umhängetasche, denn ich hatte Angst, dass der Regen in die Tasche und auf meine Mappe laufen könnte. Im Eingang zum Restaurant stellte ich mich unter, die Sturzfluten prasselten in einem für mich ungünstigen Winkel, ich wickelte das Regencape um die so gar nicht für Papierfracht taugliche Tasche, auf der was wie camping bag stand. In der Wolkenkarawane der Tieffront, die sich, wie sie heute morgen im Radio erklärt hatten, von Osten her heranschob, zog auch noch die Wolke mit, aus der es an der Parkbucht neben der Raststätte auf die Motorhaube von Thereses Bienchen geprasselt hatte – ein Geräusch, von dem Therese, die eingeschlummert war, erwachte. Dass Therese während dieser Zeit von der Arbeit aus Richtung Heimat gefahren war, auch dass die auf dem Fahrersitz verrenkt Schlafende einem Mitarbeiter der Tankstelle auffiel, würde ich erst später erfahren können. Was mich jetzt überkam, war das Ahnung? Der Dichter, dessen Zeilen mir im feuchtnassen und dummerweise immer noch verschlossenen Gaststätteneingang einfielen, hätte Ahndung geschrieben. Die Bäume waren noch dunkelgrün und meine Atmung wurde schwerer, die Luft wie schmierige Margarine, Gewächshausdunst. Ich konnte ganz gut wochenlang existieren, ohne in einen Gedichtband zu gucken oder überhaupt an eine Verszeile zu denken, jetzt aber murmelte ich: Im Osten grauts, der Nebel fällt. Ich würde nicht weinen, pissen musste ich. Der Regen war mehr als eine gewöhnliche Husche. Hatte ich zu zaghaft gepocht, Krohmer jedenfalls ließ sich nicht blicken, nichts rührte sich, das Schild mit den Öffnungszeiten hatte für die Belange des Alltags anscheinend so wenig oder soviel Gültigkeit wie mein spätromantischer Dichter. Peinlich, ich meine, wenn man nicht mehr Sechzehn ist und ohne Grund an einer Straßenkreuzung vor verschlossener Gaststättentür zu funzen anfängt - als Mann, Mensch, das ist nicht brauchbar, so was. Jetzt kamen sie alle hervor, diese Untermieter meiner Sentimentalität: Letztes Boot darin ich fahr, keinen Hut mehr auf dem Haar von Bobrowski und, man kann nicht immer originell sein, der Schmerz besitzt etwas originäres, einmaliges, die Worte die auf ihm hervor schwemmen hingegen nicht unbedingt, ich dachte peinlich genug: Meer der Schmerzen. Gegenüber entdeckte ich durch den nachlassenden Regen blickend auf weißem Schild, das erst seit paar Tagen da angeschraubt sein musste, den Namen eines Psychiaters. In der Regenpause frischte der Wind auf, ich hielt mein Regencape ratlos in den Händen, es war zu feucht, um es einpacken zu können, ich hätte die Mappe feucht gemacht. Es rührte sich etwas, nicht im Osten – oder doch? Krohmer schlürfte herbei, murmelte eine Entschuldigung, sah verschlafen aus und guckte ärgerlich, als ich entschieden ablehnte ein, wie er formulierte, schönes Bierchen zu trinken. Lustlos schraubte mein unrasierter, verschlafener Wohngebiets-Gastronom an der Kaffeemaschine herum, irgendeine Havarie wäre angeblich gewesen, nuschelte er. Auch wenn das Aufkochen das Wasser sozusagen sterilisierte, ich fand es ekelhaft, als ich sah, wie er die Glaskanne am Wasserhahn dicht neben dem Gäste-WC mit Wasser füllte. Aber schließlich war ich nicht wegen des Kaffees gekommen, ich packte meine trocken gebliebene Mappe mit den Briefen und Aufzeichnungen aus und stöpselte mein Notebook ein. Die Steckdose da ist kaputt, Herr Poet, hörte ich die Stimme des Gastwirts, der jetzt nicht mehr schlurfte, sondern fast lautlosen Schrittes herankam. Vor ein paar Jahren, als meine gelegentliche Anwesenheitsfrequenz sich auf mehrmals in der Woche verschob und ich mit den merkwürdigen Weihen eines Stammgastes versehen wurde, hatte Krohmer mir, wohlmeinend, auch diesen Spitznamen verpasst: Herr Poet - also ich war froh, dass sich nur selten einer von den älteren Kollegen hierher verirrte. Naja, in der Kneipe an der Ecke war ich Herr Poet und im Literaturbetrieb Nummer Null; ich kannte immerhin welche, bei denen verhielt es sich umgekehrt. Ist so was eigentlich teuer? Iss ja ein schönes Ding!, fragte Krohmer nun. Mein schönes Ding musste ich einstöpseln, weil es mein Akku nicht viel länger als eine halbe Stunde machte und reich war nun schon lange keiner mehr, nur weil er ein Handy auf den Tisch legte oder ein Notebook aufklappte. Draußen platschquaddelte schon wieder Regen und im Gastraum endlich das Wasser - von dem ich vergessen wollte, wo es Krohmer hergeholt hatte - auf das Kaffeepulver. Nachdem ich einmal mit Erklärungen begonnen hatte, bestellte ich einen einmaligen Schnaps, die Betonung auf einmalig legend, auch das war wichtig, sonst würde er ewig um mich herum streichen, die Flasche parat. Den Kaffee und die Spirituose bezahlte ich nicht nur sofort, sondern ich ließ auch keinen Zweifel daran, dass der Herr Poet die nächste Stunde würde ungestört sein wollen. Mein Wohngebietswirt registrierte so was unter Künstlermacke und trollte sich, er hatte eben auch gute Seiten, mehr noch, er ließ die Glotze aus, in der jetzt irgend so eine Wiederholung einer Comedy-Serie lief, die er sonst, wie ich wusste, um diese Zeit zu gucken gewöhnt war. Für mich eine geniale Konstellation; der Regen prasselte und verscheuchte so noch den letzten Passanten, Krohmer döste und machte sich unsichtbar und trotz seiner gelegentlichen Schnieferei auch einigermaßen unhörbar und ich ordnete meine Aufzeichnungen, konnte beginnen: Ich las in den Aufzeichnungen aus der Anfangszeit, als mich noch allein jeder Gedanke an sie verwirrt hatte.

 

Damals hatte ich immer wieder Blümchen gepflückt, die dann doch in einer meiner Vasen vertrockneten. Wie verunsichert war ich gewesen, als Anke früher von der Arbeit gekommen war und mit einem - ach was für mich - herein gestürmt war. So war es mir passiert, als ich abends am Denkmal städtische Gladiolen abgeknickt hatte, wäre es wie sonst Schölle, Löwenzahn, Seifenkraut, Wegwarte und Gänseblümchen gewesen, hätte sich Anke nicht interessiert, das war für sie Unkraut, so was pflückten nur die Kinder. Unkraut waren jedenfalls die Verse, die ich anfangs noch für Therese geschrieben hatte. Nicht gut, dachte ich jetzt, dass ich Therese die Gedichte niemals gezeigt hatte, gut, wusste ich, dass sie kein literarisch interessierter Mensch je erblicken würde. Partituren bei Sturmflut wären ihre Schritte las ich da und mir war langsam danach, Krohmer doch die Flasche bringen zu lassen. Auf Regentropfen kann man eine Melodie komponieren, erfuhr jeder, der das Booklet der Klassik CD las und auch, dass Chopin ein Vorreiter der Neckermann-Touristen auf Mallorca war, aber Partituren bei Sturmflut? Draußen vertröpfelte die Flut und ich schob den Schwulst in die Mappe zurück. Was ich später durch Zufall unter Babsys Fenster erlauscht und begriffen hatte, dass Therese ihre Sexualität verkaufte, ging mich nichts an. Bernd Wilke, dem ich so eine Äußerung gar nicht zugetraut hätte, brachte es auf den Punkt, auch dieser wahre Satz fand sich in meinen Notizen. Er hatte es in seiner Art nicht unterlassen können, seine Überlegung mit einem Zitat einzuleiten, der polnische Sience-Fiction-Autor Lem hatte in einem Interview bekannt: Jeder Gedanke ist denkbar! Bernd war wie im Selbstgespräch fortgefahren: Wer weiß, wenn man so eine Woche nichts zu rauchen und nichts zu essen hat, wer weiß, worauf ich mich vielleicht eingelassen hätte. Nicht auszudenken, wie gut, hatte er mit gesenkter Stimme zu mir gemeint, dass wir keine Frauen sind!

Letztendlich gab ich, nachdem ich noch einige Zeit gelesen hatte, Krohmer ein Zeichen und er konnte die Wiederholung der Wiederholung seiner Comedy-Serie noch über einen anderen Kanal ´rein zappen.

Auf dem Rückweg, als ich mich im Park auf eine Bank setzte, tropfte es noch von den Zweigen, die Bank war feucht und ich setzte mich auf das Regen-Cape, rauchte, und es war mir ziemlich schnuppe, ob Regentropfen oder eine Sturmflut meine Aufzeichnungen – ach Gott, meine Partituren – anfeuchten würden, auch das Notebook klappte ich auf. Die feuchte Regendämmse tat ihr Übriges. Ich fühlte mich so unnütz, dass ich mir vornahm, aus Reue bereits morgen Ankes dringlichsten Wunsch zu erfüllen und es mit dem Tapezieren zu versuchen. Lustlos guckte ich auf das Display meiner Technik, von der ich einmal behauptet hatte, sie ausschließlich als hochwertige elektronische Schreibmaschine zu nutzen, und schoss Moorhühner ab. Als mir auch das zu dröge wurde, suchte ich unter den Programmen nach dem Spiel Quaaak, das so ähnlich aufgebaut war: Ich musste per Mausklick, was beim Notebook auf der Parkbank, also ohne Maus, eine gewisse Schwierigkeitsstufe bedeutete, die virtuellen Hühner erledigen, ein spielerischer Zeitvertrieb, bei dem ich für gewöhnlich die meisten Punkte bekam, wenn ich in Rage war. Bei Quaaak, dem Spiel, in dem die Hühner mit einem eigenartigen Mäppmäpp durch die zwitschernde Welt meines Displays segelten, gab es eine Besonderheit, eine Art Paradiesvogel, den Funky, wenn ich den versehentlich abschoss, bedeutete das Minuspunkte. Lange dauerte meine Spielerei nicht, mein schwacher Akku forderte mich zum sofortigen Abschalten auf, ich las noch: Das Programm reagiert nicht!

 

 

 

 

 

 

 

Rakete durch die Nacht

 

 

Auch Thereses Programm schien Energie zu verlieren. Sie kniff die Augen zusammen, fuhr konzentrierter. Heute arbeite ich nicht mehr, wir stinken ja, redete sie mit dem Bienchen und musste lachen, als sie murmelte: Du klebst, ich klebe. Ist das dein Honig, dummes Bienchen? Ein anziehendes Sekret mochten das Bienchen und seine Fahrerin in die abgasumwölkte Abendlandschaft ausgesandt haben, denn der weiße Brummi, so erfuhr sie am Handy, stand praktischerweise eine Raststätte weiter. Therese hielt schon wieder hinter einer Tankstelle, diesmal das abgedunkelte Bienchen als Umkleide nutzend, danach noch Gummi und Hygienetücher aus dem Handschuhfach gekramt, schon hüpfte sie in die gute Stube des Truckers. Der hatte wirklich alles zu bieten, einen guten Sound und die Stimme von James Brown mit Bild aus dem Bord-Fernseher, auf dem Armaturenbrett röchelte die Kaffeemaschine, die frisch aufgezogene Bettwäsche in der Schlafkoje duftete nach Weichspüler. Vorhänge zum Zuziehen gab es auch und er zahlte bereitwillig und mehr als verlangt. Sie plauderten, während er sich einiger Textilien entledigte und sie so locker wie eine Freundin nach dem Disko-Besuch bestieg. Anschließend bot er ihr noch ´ne Tasse Kaffee an. Mit dem schmalzigen Schmachtblick professioneller Dienstleistung überreichte sie die Visitenkarte mit dem Herzchen und der zentralen Nummer des Etablissements. Er faselte, sie sei etwas Besonderes, er liebe sie.

Hat die Bettwäsche dasselbe Muster wie die, die deine Frau zu Hause aufzieht, provozierte sie ihn. Nee, die hier gebe ich immer gleich in die Wäscherei, meinte der ganz sachlich. Was besonderes bin ich für ihn, er liebt mich, lachte sie. Sie würgte, unterdrückte den Brechreiz. Glubschbschaugen, warum hatte der Glubschaugen, blöde Glubschaugen? Was sollte das heißen: Sei froh, dass ich dich nicht noch abkassiere?

Das Messer kam von hinten, metallisches Aufblitzen. Rote Schaumgummiflocken, Blut auf dem Polster. Alles verdrehte sich in ihr und um sie herum. Sie rollte heraus aus Erbrochenen, aus Blut und Pisse. Der Trucker schlug zurück, mit der flachen Hand. Rot spritze das auf, rote klebrige Flüssigkeit verschmierte auf dem Hemd. Wieder ein Messer, sie sah das Messer, das rote aufspritzende Blut und eine zweite Therese neben sich, war dann wie über dem Mann, ohne ihn zu berühren und spürte noch keinen Schmerz und blutete und öffnete den Mund und konnte doch nicht schreien. Autos fuhren ab, Wortfetzen eines hastig gerufenen Grußes wehten herüber. Wie lange mag es gedauert haben, bis sie endlich laut aufschreien konnte? Wann glitt sie wie auf einer unsichtbaren Schiene hinüber in die Therese, die entkräftet neben dem Toten lag?

Blieb der Arm des Mannes starr auf ihr liegen? Warum lag das so schwer auf ihr? Alles schien ihr, würde sie später sagen, unendlich langsam und unwirklich, als ob es im Film gewesen wäre.

 

Nervös fummelte sie in ihrer Tasche und in der Ablage des Bienchens unterm Armaturenbrett. Ohne Zigarette würde sie das nicht überstehen. Scheiß, noch mal zurück, das bring ich nicht, fluchte sie, denn sie wusste, ihre Zigaretten konnten nur dort im LKW liegen geblieben sein. Nicht ich, wiederholte sie gebetsmühlenartig. Nicht, nicht ich! Lieber Gott, mach, dass es aufhört, lass alles nicht wahr sein!

Sie schrie auf, versuchte die Tür zu erreichen, ließ sich dann aber doch beruhigen, nahm eine Zigarette, an der sie gierig saugte. Wer war die Fremde, hatte die alles gesehen? Vielleicht nicht, versuchte sie sich zu fassen und bemühte sich, ihren immer noch keuchenden Atem zu unterdrücken: Ich bin ja so dankbar für ihre Hilfe, danke, dass sie gekommen sind, entschuldigen Sie, es ist alles so furchtbar, der hat versucht mich zu ermorden, wir müssen die Polizei holen, ja? Der hat mich angegriffen, mit dem Messer, wissen Sie?

Erzähl keinen Blödsinn Kindchen, aber du bist ja noch ganz durcheinander, meinst du wirklich, der stellt erst die Kamera an und will dich dann abstechen? Der hat immer gefilmt, das ist ja das Problem. Sieben Einstiche habe ich gezählt, sogar ins die Ogen, so was macht ein braves Mädchen nicht. Der hat also über sein eignes Handy deine Nummer gewählt, um dich in eine Falle zu locken und abzustechen, so deppert blöde kann einer nicht sein, das glaubt dir keiner.

Diese durchtränkten Klamotten, voll von Blut und Pisse, ekelten Therese an, ihr wurde kalt. Sie wollte sich nur noch umziehen. Brav so, Kindchen, kommentierte die norddeutsche Stimme. Nennen sie mich nicht Kindchen. Wieso sind Sie überhaupt hier, wollte Therese wissen.

Zufall, ich bin der Zufall und das Glück! Kannst du ja nicht wissen. . . aber lassen wir das und jetzt geh ´rüber, keine Angst, nicht in den LKW, das regle ich, komm mit in mein Auto, wenn du umgezogen bist. Das Aufnahme-Studio bei dem im Truck ist übrigens vom Feinsten, der wollte sich die Nummer auf DVD hinterher im Heim-Kino ansehen, was da jetzt drauf ist, kannst du dir denken.

Therese dachte nur eins, sie würde um nichts in der Welt auch nur einen Schritt in den Truck setzen wollen, aber ihr überreiztes Gehirn arbeitete: Sie wollen mich also nicht erpressen? Quatsch, weißt du was, ich hole jetzt die DVD.

Die verschmutzten Klamotten stopfte Therese in Plastiktüten und zog einfach die Kleidung an, die ihr die Unbekannte gegeben hatte. Beim Suchen nach dem Zigarettenanzünder bemerkte sie, im BMW mittels Zentralverrieglung eingeschlossen worden zu sein. Vielleicht wäre sie weggelaufen vorhin oder hätte wie wild schreiend gegen die Scheiben geklopft, aber die Fremde hatte ihr die Schachtel Filterzigaretten entgegen gehalten und sie war ihr dafür dankbar wie ein Kind und rauchte gleich zwei hintereinander. Nach ihr endlosen lange vorkommenden Minuten, kam die Unbekannte zurück, schwenkte die DVD wie eine Trophäe, bat den Gurt anzulegen, regulierte die Klimaanlage und startete. Therese zerrte die Lederjeans, die sie angeboten bekommen hatte, einfach über ihre verschmutzte Hose, war sowieso Übergröße. Sind das deine Jeans, übrigens Danke, murmelte sie. Warum hast du mir geholfen? Ich? Einfach so, sagte Brigitte, einfach so, Wicht.

Die Leute bei mir, meine Kolleginnen und Hottie, der, na der Wirtschafter, die werden mich vermissen.

So meinst du, vermissen vielleicht, aber die werden kaum eine Anzeige machen wollen, unsere unangemeldete Mitarbeiterin der unversteuerten, illegalen Prostitution hat sich unangemeldet entfernt. Wenn überhaupt, dann sucht irgend so ein Pomadenhengst, so ein Angeber mit falschem Goldkettchen nach dir, na, der soll nur kommen, da kenn ich noch wen . . .

Der BMW war kein tuckelndes Bienchen, der sauste wie eine Rakete durch die Nacht. Brigitte half beim Aussteigen, stützte Therese. Draußen hatte der Wind aufgefrischt, weit draußen, das war keine Stadt, so nachtschwarz nach den vielen Lichtern der Autobahn. Eine Wildgans flog auf. Was war das, ein Bauernhaus? Ein Kater umschmeichelte Thereses Beine. Hör auf den Clown zu machen, du Dummer du, ermahnte ihn sein Frauchen und der kleine Kerl schien noch verschmitzter zu gucken und ließ sich mit sichtlichem Wohlbehagen die Halskrause massieren.

Therese duschte sich, drehte auf bis zum Anschlag, schrubbte sich mit der Bürste, wollte nur noch schrubben, alles weg schrubben. Dankbar registrierte sie das über die Badheizung angewärmte Frotteehandtuch in Übergröße. Sie schlüpfte zwischen die angewärmte Bettwäsche und schlief sofort ein.

 

Therese war als Baby, so wie das in ihrem Dorf noch üblich gewesen, getauft worden, aber das war ihr selber später kaum noch erinnerlich. Tischgebete und Christenlehre, Bibelverse oder sogar Konfirmation hatte es für sie nicht gegeben, das war auch nicht so wichtig, war keine Bedingung gewesen. Der Engel, der durch die weiße Woge des Medikamentennebels in ihren Traum schwamm, wäre auch so gekommen. Cherubbel, ein kleiner, erst Dreijähriger, von der anderen Seite des Pleoramas ausgesandt, war erstmals zu einem Einsatz eingeteilt worden, weil die schwache Stimme ihres ersten Gebetes ihn gerufen hatte. Das war die einzige Bedingung gewesen, die Therese zu erfüllen hatte, den Engel anzurufen aus der tiefen Not ihrer Seele.

 

Kann ich nicht wenigstens das Pferd oder wie in der alten Sage Flügel bekommen, hatte der unsichere Neuling vor dem ersten Einsatz auf der Erde seinen Paten gefragt. Du kannst dein irdisches Dasein noch immer nicht vergessen, spottete sein Pate, der Cherub gutmütig. Hast du Zweifel an der Weisung der Seraphim? Aber nein!, hatte Cherubbel geantwortet und für sich behielt der kleine Engel, dass ihm doch ein bisschen bange war, als er von seiner Koordinate durch das Rauschen des Regens über das Gästezimmerfenster direkt in Thereses Traumumlaufbahn flog.

 

Auch mir war bange, aber ich schrieb immer noch in Liebe zu Therese und deshalb war mir egal, ob sie mich kitschig nennen und unter die sentimentalen Autoren rechnen würden, schnell entfernte ich die eventuell die Landung störenden Reste meiner Autoren-Eitelkeiten und ließ den Abgesandten Gottes sanft im Traum der Kranken landen, denn der Atem eines gutwilligen Autors kann schon ´mal einem kleinen Engel die Flügel ersetzen. Cherubbel schloss für sieben Traumnächte Therese den Garten der Kindheit auf, in dem alle gut und mild waren und das Böse nur eine Verirrung, so wie ein Schulkind, das versehentlich beim Spielen eine Blume knickt, ohne es zu wollen. Die Schlafende in ihrem Heilschlaf krümmte sich zusammen und in dieser halben Kugel ihrer Schlafstellung empfing sie alle Signale, die Cherubbel ihr schenken durfte. Ich muss nicht erwähnen, dass es in diesen sieben Traumnächten des Heilschlafs nicht nur keine Trucker, Autobahnen und Tankstellen, sondern natürlich auch keine Mörder, kein Geld und deshalb keine Geldnot und so auch keine Frauen gab, die die Imitationen der Liebe verkaufen mussten.

Am siebenten Vormittage aber, ganz wie es in Cherubbels Dienstanweisung stand, erwachte Therese vom Duft frischen Kaffees, auf einem Tablett standen Croissants und ein Glas Orangenmarmelade bereit. Für Kenner des herben englischen Orangenjam las sie auf dem Etikett des Marmeladenglases. Neben einem Kristall-Aschenbecher sah sie in einer weißen Schachtel Filterzigaretten ihrer Lieblingsmarke. Sitzt du schon lange hier, fragte sie Brigitte, die neben ihrem Bett auf einem Korbstuhl saß und in einer Illustrierten blätterte. Nur ein Weilchen, antwortete diese mit einem Lächeln, ich habe dir zugesehen. Weißt du noch, gestern habe ich dir doch warme Milch mit Honig ans Bett gestellt, da habe ich . . .- na, ich soll ja nicht mehr Kindchen sagen, ich glaube, du hast gut geschlafen und über das andere, Brigitte lächelte, d a r ü b e r bräuchten sie nicht mehr zu reden. Auch Brigittes Stimme klang seltsam sanft, aber natürlich hätten die beiden Frauen in der Diesseits-Welt nicht über die Heilkräfte des schönen Engels reden können. Nur der Kater hatte im Erscheinen des Engels etwas zwar nicht alltägliches, aber doch vertrautes gesehen. Die Kirche hatte die alten Götter aus der Wesenheit in Abwesenheit verwandeln wollen, da blieben ein paar Privilegien über und wie sollte die Katze, das heilige Tier, den Engel nicht sehen, wo es doch nur einen kurzen Augenblick her war, dass ihresgleichen der Göttin Freya geliebteste Vertraute waren. Der Kater wusste, dass alles in schönster Ordnung war und für ihn nichts zu fressen übrig bleiben würde, denn die Genesende frühstückte mit gutem Appetit.

Das Bienchen, dachte sie noch. Ach ja, nahm ihre Wohltäterin anscheinend mühelos die Gedanken auf. Du solltest dein Auto vermisst melden. Müssen Halbstarke sich für eine Spritztour ausgeliehen und danach angezündet haben, man kennt das ja, was jetzt alles so rumlungert, Tankstellen-Kids.

Das Frühstücksei war handwarm und halbflüssig, wie Therese es mochte, sie war wirklich verlegen vor lauter Dankbarkeit. Und der Film, den brauchst du nicht anzugucken, also da hast du Glück gehabt, gewissermaßen, da ist nur eure, naja, die Nummer drauf und du bist überhaupt nur einmal im Profil zu sehen. Du, ich hab da was für dich, ich habe das schon gestern bemerkt, wie süß du in ´ner schwarzen Jeans aussiehst, Wicht, ach, na ja du . . . sie hielt sich lachend den Mund zu. Therese gab ihr einen Kuss auf die Wange. Irgendwo musste der Preis sein, diese Brigitte war zu nett. Laut fragte sie: Wieso bin ich nun ein Wicht ´mal ehrlich, das kann doch nicht das Wort für Mädchen sein, das heißt nämlich Deern, soviel weiß ich auch noch.

Im Fernsehen vielleicht, wenn die da plattdeutsche Sendung machen und ich dachte gar nicht mehr, dass ich noch so oft Mundart hinein mische. Nein, hier sagen die Leute die Wicht, wenn sie junge Mädchen meinen.

Vielleicht eine fanatische Männerhasserin, irrten Thereses Gedanken ab, der ist es egal wen und warum, Hauptsache, ich habe einen von diesen schrecklichen Männern gekillt. Gekillt!, schrillte es in Therese nach.

Was ist dir, es ist alles in Ordnung, ich habe alles abgewischt, wo Fingerabdrücke hätten drauf sein können, auch von außen am Türgriff. Nu maak neet all so`n Gesicht as`n Duddelapp, sprach Brigitte jetzt zum Spaß im Dialekt. Ich meinte nur, du sollst nicht so ein Gesicht wie ein Döspaddel machen. Tschuldige, aber das habe ich damals zuerst gedacht, als ich dich sah. Auch ich war nämlich durcheinander damals, nicht nur du.

Brigitte war eine von diesen mit den Jahren rundlicher werdenden Ehefrauen. Ihr Mann, der Walther, war Speditionskaufmann, hatte bis vor kurzem noch als Disponent selbst in der Firma mit gearbeitet, erzählte sie. Der hatte angeblich vorgehabt, am Wochenende am Car-Port auf dem Grundstück der Tochter was an zu bauen, drüben in Dahlkow. Die Kinder waren nun aus dem Haus und ihre Autofahrten, wenn sie eins der Kinder besuchte oder Besorgungen machte, waren ihre einzige Abwechslung, da hatte ihre Freundin Evelyn sie manchmal begleitet, also das war noch ihre Freundin von der Schule her, die arbeitete bei ihrer Schwester im Papierwarenladen. Also kurz und gut, diese beiden wussten alles voneinander, auch, dass Walther fremd ging, was nun schon eher langweilig wurde. Erst spät, viel zu spät waren sie darauf gekommen, dass er die selbst gedrehten Pornos nachbearbeitete und verkaufte. Endlich würde sie ihn überführen können. Wenn schon Scheidung, dann nicht die vom Konto in der Schweiz. Wenn sie ihn damit bloßstellte, hatte sie gedacht, wäre es vorbei mit dem christlich-sozialen Unternehmer, der professionell mit internationalen Hilfsorganisationen zusammenarbeitete und auch im Ausland jungen Frauen gern ganz persönlich half. Das Schwein!, konnte sie nicht unterdrücken zu fluchen. Nachdem sie den BMW abseits geparkt hatte, um noch eine zu rauchen, war sie auf das vibrierenden Fahrerhaus aufmerksam geworden. Sie kannte nicht alle Fahrzeuge der Spedition, aber den Scania hatte sie sofort erkannt und da ihr Sven, das Nesthäkchen, während seiner letzten Ferien lange und geduldig erklärt hatte, dass so ein Handy eine Menge mehr als telefonieren konnte, wollte sie die Kamera gleich ausprobieren. Ihre Freundin, die würde Augen machen, nicht nur Sex im LKW sondern auch, sozusagen durch Vergleichsmaterial, der Beweis, dass er einen ekelhaften Schmuddelfilm darüber in das Internet einstellte. Diesmal würde sie dafür sorgen, dass nicht nur die Wichser sein Gesicht sehen könnten. Das würde nun bannig rinhauen, hatte sie gehofft. Ja, und das hatte es ja dann auch. Jetzt natürlich war das Material nichts wert, sie brauchte ihn nicht mehr mit seinen widerlichen Praktiken konfrontieren. Auch die Tatsache, dass Therese ihr gezeigt hatte, wie unter der vom Trucker betriebenen strandkorbnixe.de. ihre Kolleginnen und sie selbst in der LKW-Koje schaukelnd und vögelnd zu sehen waren, war wenig nutze, der Alte war ja nun tot. Es war nicht nur wegen dem Geld, du weiß ja, ein Schwein erkennst du am Ehe-Vertrag, wenn er was hat. Nun bin ich frei, du warst die letzte . . . Sie wollte sagen, die er gequält hat, verstummte jedoch.

 

Im Stimmengeschwirr des Bahnhofs, eine Schulklasse lärmte vorüber, fühlte Therese sich bisschen schwindlig. Sie winkte Brigitte noch lange nach, drückte sich die Nase am Glas des Zugfensters platt. Der Himmel schien hier viel höher, die Kanäle wirkten wie mit dem Lineal gezogen, so wie der Weser-Ems-Kanal, auf denen die Schipper Jade und andere Kostbarkeiten transportiert hatten. Wenn das Schiff im Ort ankam, klingelte es, was die Leute hier anscheinend pingeln nannten, denn die Glocken hingen im Pingelhuus. Diese Landschaft mit ihren Linealkanälen und dem hohen Himmel schien ihr so unwirklich wie der Schaffner, der noch am späten Nachmittag ein Moin, moin! wünschte. Therese überlegte einfach irgendwo aus zu steigen, hier sollte es noch einsame Hütten im Moor geben, ohne Fernseher, ohne Zeitung . . .

Wenn ihr Gott so was wie eine Strafe geben würde, eine Moorhütte ohne Fernseher, aber nachts würde sie als Hexe auf einem dieser Lineale spuken und am Pingelhuus läuten. Scheiße, dachte Therese und lachte auf, ein junger Medizinstudent aus Mosambik begann, sich für wunderschöne weiße Lady zu interessieren, sucht gut Frau looking for marriage in Deutschland für Kinder und hat Arbeitserlaubnis, aber da wiegte sich Therese in ihren Lederjeans, inzwischen trug sie eine hautenge, schon zum Bordrestaurant. Aus dem Fenster blickend las sie den Namen einer Stadt, die einfach Leer hieß. Das wäre es, seufzte Therese, alles leer, hier könnten die Menschen zwischen all den Linealen nochmal von vorn anfangen. Therese sah auf einer Nahverkehrskarte, wie wenig weit es bis zu Norddeich-Mole wäre und widerstand doch der Versuchung, an die Nordsee zu fahren. Brigitte hatte ihr noch Geld zugesteckt, maak neet so`n Gedoo, hatte sie die höflich abwehrende Therese beruhigt. Nun konnte sich Therese die wichtigste Tagespresse leisten, aber nichts - dabei hatte sie ihr Gesicht auf dem Titelbild vermutet. Der Express-Zug fuhr fast ohne sie ab, sie las noch den kleinsten Artikel unter Vermischtes auf der Regionalseite; nicht nur wurde sie nicht genannt, auch eine Schlagzeile wie Raststätten-Mord suchte sie vergeblich. Es könnte schnell für sehr lange Zeit ihre letzte Zugfahrt sein, wurde ihr bewusst, aber sie wollte letztendlich nach Hause. Wer fährt schon nach Leer oder ins Leere – oder?

 

Schön, dass du auch mal wieder reinguckst, deine Klamotten liegen nämlich hier bei mir am Empfang ´rum, wurde Therese von Hottiebär begrüßt. Im Kopf saß ihr jetzt ein völlig unnötiger Quasselkasper. Ausgerechnet Hottiebär kriegte ein Küsschen ab. Plünnen heet dat nu. Ja, wie das Leven so spölt, neet. Das norddeutsche Dialektgebiet hatte ihr anscheinend so was wie eine kostenlose Zugabe spendiert. Nur gut, dass Hottie nicht der Typ war, der so was hinterfragte. Alles schien wie immer und dass sie mal weg war, ein verlängertes Wochenende, das bedeutete sowieso anscheinend nicht mehr, als wenn im Keller die Schippe umfällt, also kommentierte Hottie: Die Weiber hier machen ja doch was sie wollen! Er maulte was von: „Geschäft eher rückläufig.“

Erst am Dienstag reichten die Kolleginnen die bebilderte Zeitung herum, der Raststättenmord wurde Gesprächsthema. Selbst der Chef hatte angerufen, ein Mord, das verdarb das Geschäft. Maria Edita war, wie es anscheinend ihre Art war, ehe es richtig brenzlig wurde, längst über alle Berge. Therese kaute einen Apfel, ungeschält. Letzte Woche hat wer mein Feuerzeug geklaut, das coole mit der Spieluhr drinne, jammerte Hottie und ergänzte: Mein Messer ist auch weg, das, was ich mir direkt in Sohlingen an der Schmiede gekauft habe. Von wegen, dachte Therese, das war im Einkaufszentrum, wo sie für sich den Bikini mit dem orang-roten Tupfenmuster gekauft hatte. Sie war noch sauer gewesen an dem Tag, weil er sich die Fahrt hatte bezahlen lassen. Viel war nicht zu lesen, ein Bild vom LKW. Hatte der so ausgesehen? Tod als Tramper! war der Artikel überschrieben, denn der Tod fuhr per Anhalter, schrieb jedenfalls der Journalist.

 

 

Walther G., vielen über die Region hinaus als freundlicher Unternehmer bekannt, unterstützte unsere Leseraktion EXPRESS HILFT und stellte kostenlos zwei seiner Sattelschlepper zur Verfügung. Er ließ es sich nicht nehmen, gelegentlich selbst noch hinter dem Steuer eines Trucks seiner erfolgreichen Spedition zu sitzen. Die Arbeit an der Basis, der Blick vom Führerhaus, Terminfracht sicher und pünktlich vor Ort abliefern, aber auch die Rast an einer Tankstelle, das gelegentliche Klönen mit den Kollegen machte ihm immer noch am meisten Spaß, bestätigte auch die völlig in Tränen aufgelöste Ehefrau des Unternehmers aus Düsekow, dem idyllischen Maarschdorf in Ostfriesland.

Walther G. hatte sich wahrscheinlich eine kleine Entspannungspause gönnen wollen, der freundliche und gutmütige Trucker hatte wiederholt – trotz entschiedenen Warnungen der Polizei (Express berichtete) Anhalter mitgenommen.

 

 

Entspannungspause, so konnte man das auch nennen. Der alte Sack, der hatte die Fahrten doch gar nicht nötig gehabt, dem ging es nur um eins, wütete Therese im Stillen und fürchte sich davor, dass es doch wahr sein könnte, dass es Leute gab, die Gedanken lesen könnten. Außerdem fürchtete sie sich davor im Schlaf zu sprechen. Therese mochte solche Leute sowieso nicht und verstand auch nicht, weshalb so einer arbeitete, ohne das Geld wirklich zu brauchen. Wie konnte man nur so blöde sein? Und von wegen uneigennützig, Anhalterinnen jedenfalls nimmt so einer nur mit, um an die Wäsche zu gehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Porzellanfahrt

 

 

 

Einen LKW zu besitzen war bestimmt manchmal vorteilhaft, musste ja nicht gleich ein Sattelschlepper sein, hätte jedenfalls ganz gut einen brauchen können, fuhr ich doch mit dem Handwagen durch die Stadt. Da freuten sich die Leute, nur manche der geschichtsbewussteren Kreativ-Senioren blickten melancholisch, das erinnerte sie an Treck und Umsiedler. Vor allem die westdeutschen Seniorinnen verständigten sich mit so gerührten wie mitleidigen Blicken: War eben doch der Osten hier. Ich ratterte über den Radweg, hin und wieder überholte ich einen der angeblich unkaputtbar bereiften Fahrradanhänger voller Zeitungen und Reklameprospekte. Nur die Kinder waren am Wochenende zum Verteilen der Kostenlos-Zeitungen mit ihren Wägelchen unterwegs. Für mich, der ich nicht zur Mehrheit der automobilisierten Bevölkerung gehörte, wirklich wie ein Trumpf, dass ich noch den Handwagen im Keller hatte. Noch zwei Fuhren, dann würde ich die Bücherkisten-Touren geschafft haben. Gestern Abend war ich von all dem Fahren und Schleppen todmüde auf die Matratze gefallen. Auch für Anke war es besser so: Wer hätte gedacht, dass ich so schnell eine neue und bezahlbare Bude fand? Außer den Büchern nahm ich nicht viel mit, natürlich schleppte ich zwei Reisetaschen Papiers mit, eben die Klemmmappen und Schnellhefter, die wahrscheinlich jeder ältere Autor durchs Leben schleppte. Manuskripte fahre ich übrigens prinzipiell nie auf dem Handwagen. Auf der letzten Tour fand ich noch Regale und ein Sesselchen am Sperrmüll, das kam mir gerade recht. In meiner neuen Stube hängte ich das Bild eines blühenden Apfelbäumchens auf, das jahrelang unbeachtet im Abstellraum geblieben war. Ein Freund von mir hatte das gemalt: Apfelbäume und mondbeschienene Landschaften hatte der in Serie gearbeitet. Auch so ein verschollener, aber war eben keine Frau; wenn ein Kumpel aus dem Blickfeld verschwand, dachte unsereiner halt, der wird sein Glück schon machen, als ob das Verschwinden aus unserer ach so schönen Stadt bereits schon so was wie die Eintrittskarte zum Glück wäre. Es wurde Zeit, dass ich räumte, denn noch schneller als ich meine neue Wohnung hatte Anke ihr neues Glück gefunden. Ich könnte mich neben dem Handwagen vor Freude in den Dreck werfen, mich herumwälzen und nur noch das gibt´s nicht schreien, denn ihr Neuer und mein Nachfolger hieß Bodo Schaller. Schaller ging nicht auf Arbeit und schrieb schwer verständliche Gedichte. Endlich mal zeigte sie Humor, unser Abschlussgespräch war von Gelächter begleitet gewesen, so ausgelassen hatte ich sie während unseres Zusammenseins leider selten erlebt. Wieder einer, der nicht tapezieren will, hatte sie lachend geprustet. Ich werde eben nie schlauer, noch so ein Kuckuck. Es wunderte sie nicht, dass ich Bodo bereits flüchtig aus einem Literaturkreis kannte, in dem wir uns mal vor Jahren begegnet waren. Beim Einpacken der Bücher entschloss ich mich, unser Autorenhandbuch, das alle sechzig Schriftsteller unserer Stadt und außerdem noch die Nachwuchstalente mit Textprobe, Adressen, Mailadressen und Telefonnummern enthielt, heimlich in ihrem Regal abzustellen. Für die letzte Fahrt hatte ich mir was Besonderes ausgedacht, ich bin nämlich ein Liebhaber dünnen Porzellans, das ich mir auf Haushaltauflösungen, vom Sperrmüll oder auf dem Flohmarkt für nichts oder fast nichts besorgt hatte. All mein Lieblingsgeschirr stand schon lange abseits verpackt. VORSICHT GLAS! hatte ich auf die Kartons, die meine meist nicht für die Spülmaschine tauglichen Kleinodien enthielten, geschrieben. Mein weniges Geld und noch vier von Anke gepumpte Hunderter waren für die blöde Kaution fast vollständig drauf gegangen, aber für meine besondere Fahrt würde es noch reichen. Die Vase mit dem Eulenkopf wickelte ich vorsichtig in Seidenpapier und das mit Ankes Einwilligung, die - wo ich endlich raus war - sich sowieso endlich von dem ganzen Kitsch und Krempel trennen wollte, wie sie öfter gesagt hatte. Auf dieser Porzellanfahrt, die Tasche mit den wichtigsten Manuskripten auf dem Schoß, fuhr mein Taxi an Krohmers Terrasse vorbei. Krohmer interessierte mich nicht, ich würde gleich Jasmintee in meiner chinesischen Porzellankanne aufgießen und wollte außerdem testen, wie gut mein Empfang für die Radio-Antenne wäre. Auf die Terrasse von Krohmer warf ich dennoch einen Blick: War das dort Therese, konnte das sein? Ganz Weltmann, ließ ich das Taxi wenden, wenngleich ich jetzt außer dem Blick auf die Terrasse einen zum Taxameter nicht unterlassen konnte. Hallo, Therese, rief ich. Hallo, Dichter! rief sie zurück, winkte und wendete sich wieder ihrer Gesprächspartnerin, einer älteren, offensichtlich leicht molligen, blondierten Dame zu. Na, wie wärs mit einem Bierchen, Herr Poet?!, rief Krohmer. Vielleicht später, bin noch in Geschäften, antwortete ich und ließ weiterfahren. Therese war doch nur eine hübsche Frau auf der Terrasse meines Wohngebiets-Gastronomen, Totgesagte leben wohl blasser weiter. Vielleicht sollte ich sie alle zur Einzugsfete bei mir einladen und zwar so, wie man das in den Siebzigern mal zelebrierte, zur alkoholfreien Tee-Fete. Meine erste Nacht in neuer Behausung schlief ich, ohne mich an einen Traum erinnern zu können und ich war auch ganz froh, dass mir, wie es der Geheimrat aus Weimar formuliert hatte, die Pforte auf lieber Angel schwieg oder moderner formuliert: niemand eingefallen war, sich über die Wechselsprechanlage zu melden. Die Bücher, von deren Transport mir noch der Rücken schmerzte, begannen mich übrigens an staubige Briketts zu erinnern, so nervte der ewige Ballast. Der Umzug wäre Gelegenheit zum Aussortieren gewesen, die ich hätte nutzen sollen, begann ich nun zu spät zu bereuen. Was ich nicht alles gesammelt hatte! Als ich mit dem Wasserkocher zur Küche stolperte, stieß ich an einen Stapel mit Frauenliteratur, das Buch vom Cinderalla-Komplex fiel vom Stapel und darunter sah ich Arthur Schnitzlers Roman Therese. Schnitzler war besser informiert als ich, der kannte wirklich die Psyche der Frauen überlegte ich, während ich in der Reisetasche mit den Lebensmitteln nach Kaffeepulver kramte.

Alles sollte bereit sein: Eine Rose von der Rabatte im Vorgarten hatte ich in die Eulenkopfvase aufs Fensterbrett gestellt, selbstverständlich sofort den kleinen Aschenbecher ausgepackt. Anke hatte mir noch belegte Brote eingepackt, ich hatte Hunger bekommen. Als ich das Kaffeepulver in meine Tasse löffelte, unterdrückte ich ein Fluchen, denn in der Küche gab es weder Herd noch Spülbecken, so entschloss ich mich, mein Wasser aus dem Bad zu holen und musste nun selber handhaben, wofür ich den alten Krohmer noch vor kurzem im Stillen kritisiert hatte: Ich entnahm das Wasser für den Kaffee unweit der Toilette. Für den Morgen mochte ich die dunkelblaue Keramiktasse mit den weißen Tupfen, bauchig und einem Henkel zum Festhalten, die stellte ich schon bereit. Mein Röhrenradio spendete, mangelnde Trennschärfe hin oder her, leise Klaviermusik, als die Klingel schrillte.

Vor mir stand ein Steppke mit Walkie Talkie in der Hand: Sorry mal, Herr neuer Mieter, dass ich Sie störe, aber ich wollte nur sagen, der Bekloppte von nebenan, der hat ihren Handwagen kaputt gemacht.

Die Deichsel hing in einem Gebüsch im Vorgarten, mein treuer Handwagen, mein Weggefährte und Umzugshelfer lag zertreten auf dem Fußweg. Ich war mir nicht sicher, ob der Junge, der hinter mir her lief, nicht unverschämt grinste. Gerade jetzt musste das Handy klingeln, ich stellte den unbekannten Anrufer aus und räumte das Kleinholz zur Seite. Habt ihr was gegen mich, weil ich der Neue bin, fragte ich den Jungen. Nee, das nicht, der ist eben so der Kautzes, der ist plemmplemm. In dem Moment bemerkte ich wieder das Leuchten auf dem Display meines tragbaren Telefons, ich hörte Thereses Stimme. Wie geht es dir denn?, fragte sie. Ach, mein Wagen ist kaputt, sagte ich. Meiner auch!, antwortete sie und wir verabredeten uns, sie schlug das vor, aber es klang nach Terminvereinbarung, nicht nach Rendezvous. Aber nicht bei Krohmer!, bat ich, wenn sie, wie sie sagte, was zu besprechen hatte, hielt ich das für ungünstig. Bei mir an der Ecke . . . ach ich bin umgezogen. Ah so, das weißt du, ach Anke hat dir die Nummer gegeben. Bei mir gegenüber gibt es einen Imbiss, ja, da stehn Stühle draußen: Yilditze, deutsche und anatolische Küche steht da dran, genau, also dann bis gegen zwei.

Der Steppke war immer noch da. Haben Sie kein Auto?, wollte der wissen. Mir reichte das jetzt und mir war klar, ich konnte nicht die Wahrheit erzählen, dass ich nie fahren gelernt hatte und mein Geld noch nicht mal für ein Fahrrad reichen würde: So sprach ich und meine Stimme war nicht mehr die schüchterne vom Telefongespräch: Meinen Lamborghini haben die Bullen gekrallt, weißt du, wir sind hinten an der Schleife illegale Rennen gefahren, um Kohle – alles weg.

Therese klingelte, der Umweg über deutsche und anatolische Küche war ihr wohl, vielleicht auch wegen des Gepäcks, zu umständlich gewesen.

Kann ich ein paar Tage bei dir schlafen?, hatte sie noch mit Koffer und Tasche in Händen gefragt.

Sie schlief nun in meinem Bett, aber dieser Satz hatte mich nicht, wie zu erwarten gewesen wäre, dusslig vor Glück und blöde wie ein Lämmchen auf Rokokowolken gemacht. Der harte Korrekturstift der Zeit hatte so ein Wort wie Botticelli-Engel aus meinen Gedichten für Therese endgültig ausgestrichen. Die kleine, hilflose Frau, die jetzt bei mir übernachtete, musste Botticelli so hart am Rand gemalt haben, dass sie der Rahmenmacher hatte verschwinden lassen.

Die Frau, die bei mir wohnte, ach, wohl besser Unterschlupf gesucht hatte, trug halblange, schwarze Haare und bevorzugte pludrige Sport- oder Freizeitkleidung, sie sprach kaum und rauchte Kette. Mir wurde klar, in gewisser Weise half ich nur einem weiblichen Kumpel, so wie ich auch für Bernd Wilke oder sogar für Bodo Schaller in der Stunde der Not die Luftmatratze aufgepumpt und die Molly-Decke hervor gesucht hätte, allerdings mit dem Zusatz: Für zwei, drei Tage geht das mal, Alter, du weißt ja und am zweiten Tag hätte es mich schon interessiert, ob es angekreuzte Annoncen unter der Rubrik Wohnungsangebote gegeben hätte. Im Unterschied zum Kumpel, den ich für zwei oder drei Tage aufgenommen hätte, verhielt es sich nun so, dass ich es war, der im Schlafsack übernachtete. Paar Tage nach meinem Einzug hatte ich in der Küche hinter einer mit Blumentapete überklebten Tür noch eine kleine Abstellkammer entdeckt, in der ich mittels Schaumgummimatratze und Schlafsack übernachtete. Mein Kuscheltier, ein blauer, schon bisschen abgewetzter Kater, blieb mein einziger Trost. Die kleine Kammer hatte ein Fenster, zumindest so eine Art Guckloch. Da lag ich nun neben meinem Kuscheltierkater und guckte in den Mond. Mittels Fantasien über Therese zu onanieren wäre mir wie ein Sakrileg vorgekommen, bei Anke, so nett sie letztendlich gewesen sein mochte, fiel mir nur Tapetenkleister ein, so drehte ich mich noch stundenlang hin und her.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Woche geht schnell ´rum

 

 

Therese und ich hatten in meiner spärlich eingerichteten Küche Rommé gespielt. Ich war schon froh gewesen, dass sie von meinen Spaghetti etwas gegessen hatte. Wenn es klingelte, schickte sie mir einen flehentlichen Blick. Wieso ich, dachte ich manchmal, sie wollte nicht mal ihre Freundin Babsy sehen.

Drei Tage verließ ich die Wohnung nicht, für mich ungewohnt lange, aber einer dieser behördlichen Termine, den ich wirklich nicht aufschieben konnte, zwang mich, Therese allein zu lassen. Kurz vor dem Arbeitsamt machte mir ein älterer Bauarbeiter ein Zeichen. Zunächst verstand ich nicht, was der von mir wollte, er steckte mir durch den Bauzaun eine Handvoll Kleingeld hin. Kannst du mir mal ´ne Kurze holen, die verpfeifen mich sonst. Da begriff ich und ging rüber zum Kiosk, das abgezählte Kleingeld reichte genau für die kleine Flasche. Als ich zurück kam, stand er mit dem Rücken zu mir und buddelte im aufgeschütteten Kies. Ich steckte mir eine Zigarette an und wartete, bis seine Kollegen auf dem Gerüst oben außer Sichtweite waren, dann überreichte ich ihm seinen Flachmann. Wenigstens ein einziger Mensch, dem ich jemals hatte helfen können, kommentierte ich selbstmitleidig.

Irre wurde ich, versuchte ich zu analysieren, scheintiefsinnig und sentimental.

 

Im Wartebereich des Amtes sitzend, blätterte ich in einem Ratgeber und las die wichtigen Tipps, wie man seinen Körper durch gesunde Ernährung und sportliche Aktivitäten gesund und fit halten könne, selbst diese zufällige Lektüre schien mir zu gefallen. Auch das Gespräch mit der Sachbearbeiterin tröpfelte freundlich dahin, nur wie nebenbei deutete sie fast unentschlossen an, welche Maßnahmen mich auch treffen könnten, wenn meine Bewerbungsunterlagen beim nächsten Termin nicht vollständiger sein würden.

Auf dem Rückweg trat ich noch in eine Bäckerei mit Kaffeeausschank ein, saß lange über meinem Tässchen, lauschte den Gesprächen der Pensionäre und Arbeitslosen. Ein älterer Herr, in graues Sakko und Bügelfaltenhose gekleidet, verkündete: Ich habe schon am Montag gesagt: Die Woche geht schnell ´rum!

Nervös fummelte ich am Schloss, ob sie noch da wäre? Überraschung, fiel mir eine gold-weiß gekleidete Prinzessin mit grünen Haaren um den Hals. Sie war fast nicht wieder zu erkennen und lachte: Habe ich nur für dich gemacht, du hast so über den Verlust meiner Haare gejammert, dass ich dir wenigstens ersatzweise die grüne Perücke anbiete. Mein Zimmer duftete nach Orangen und aus dem Recorder tönte Charpentiers Messe, die Kassette leierte, aber ich kann überhören, wenn etwas so gut gemeint ist. Die Musikkassette mit dem feierlichen Barock, vermutlich aus der Musikaliensammlung für das Bienchen übrig geblieben, war sicher damals als ein Zugeständnis an Bernd gedacht gewesen, der, wie ich auch, Barockmusik mochte. Komm schon, es glüht, kokettierte Therese. Ich mache dir deine Lieblingsspeise: Eierkuchen, Apfelmus habe ich auch besorgt.

Ihre Eierkuchen waren wirklich gut. Übrigens hatte sie anfangs schon mal gekocht, na eine Büchse aufgewärmt, das war Laabskaus gewesen, ein norddeutsches Gericht, welches ich bis dahin für eine Erfindung der aus dem Kinderfernsehen beliebten Figur Hein Blöd gehalten hatte.

Irgendwie hatte ich eher vermutet, dass Therese während meiner Abwesenheit verschwunden sein könnte und hatte mir sicherheitshalber, als ich die Besorgung für den Bauarbeiter machte, noch für mich selber eine Flasche Wodka gekauft. Hör zu Poet, ich bin dir was schuldig, aber ficken ist nicht, da war sie wieder, die harte Stimme der neuen Therese mit dem Bubikopf, die meine Geste in Richtung Flasche falsch gedeutet hatte. Die mir langsam widerliche Bezeichnung Poet mochte sie wohl bei Krohmer aufgeschnappt haben. Bei mir klemmt die Schleuder, hörst du, schrie sie exzentrisch auf und dann begann Therese, während ich mir nun doch ein Glas eingoss, zu weinen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Florians Papa oder: Die Erzählung vom Glück

 

 

Vielleicht hatte alles mit den albernen Anrufen der Schuljungen angefangen, begann sie: Weil die mich doch sehen konnten, der Florian konnte mir doch am Telefon sagen, dass ich damals die Ohrringe mit den blauen Steinen trug, und ich fürchtete mich und dachte zuerst, die hätten so kleine Kameras versteckt wie in dem Thriller über das FBI, aber alles war viel einfacher, die Jungs konnten mich aus den Häusern von gegenüber mit dem Fernglas gut beobachten, jedenfalls wenn ich zum Lüften die Vorhänge zurückgezogen hatte. Die alten Häuser, die sollten doch saniert oder abgerissen werden, was weiß ich, jedenfalls hatten die da ihre Bude, so was wie das Hauptquartier ihrer Bande, da rauchten die und taten sich wichtig, mit Säbel und verrosteter Pistole an der Wand, wie Jungs in dem Alter nun mal spielen.

Vielleicht begann alles mit dem Tierarzt, der keiner war und für Florian doch der beste Papa wurde, damals, als seine Mutter Annegret doch nicht in den Westen ging, überlegte ich und versuchte, was Therese verständlicherweise nicht gelang, ich jetzt aber, nach dem Therese und Wodka verschwunden sind, versuchen wollte, von Anfang an und der Reihe nach zu erzählen, wobei ich immer noch unsicher verbleibe:

 

Florian hieß also der zwölfjährige Junge. Therese hatte ihn gern gehabt, der, wie sie sagte, manchmal ganz weich sein konnte, der kleine liebe Junge, der die Mutti suchte, der noch spielen wollte und sich ein Zuhause wünschte, aber im nächsten Moment markierte er ganz die coole Geste: den gereckte Mittelfinger, die raue Stimme des Pubertierenden . . .

Altneubau nannten die Leute diese fünfgeschossigen Mehrfamilienhäuser, die sich schon lang streckten wie Neubaublocks, aber noch mit Schornsteinen für die Ofenheizung erbaut worden waren. Einige Etagen waren noch in der alten Republik auf diese nicht ganz ungefährlichen Gasetagenheizungen umgestellt worden. 1989, das Jahr der Maueröffnung ersparte Annegret, der Mutti Florians, Tochter von Anna Mildner, nicht nur das Gesülze und die schnapsumwölkten Anmachen des Parteisekretärs, sondern auch die Scheidung von Harald, dem eifersüchtigen Schläger und Säufer, denn der verschwand einschließlich ihrer Schmuckkassette Richtung Westen. Annegret wollte ebenfalls in den Westen, der wird ja wohl groß genug sein, versuchte sie sich zu beruhigen, um ihrem Ex aus dem Weg zu gehen. Auch die desillusionierenden Berichte der Aussiedler, die aus Deutschland-West zurückgekommen waren, brachten sie nicht vom vom Umzugsplan ab. Florie sollte es besser haben und sie würde sogar auf Hilfe von Verwandten hoffen können, war sie sich sicher gewesen.

Auch wenn es Therese schwer fallen mochte, die verwirrte Geschichte nicht noch verworrener zu erzählen, so merkte ich doch, wie viel sie ihr bedeutete. Nicht ein blindes Hühnchen, sondern die halbblinde Katze fand sozusagen das Körnchen des Glücks und das kam so: Florian hatte geweint, aber die Katze würden sie nachholen, versprach seine Mutti und versuchte ihn zu trösten, auch wenn das alles nicht so sicher war. Die Verwandten im Westen hatten am Telefon nachdrücklich von einer Katzen-Allergie gesprochen, außerdem war da eine Bulldogge im Haus, kein guter Spielkamerad für ein altes, halbblindes Kätzchen. Gegenüber, wo früher die Lotto-Annahmestelle gewesen war und ihre Mutter sich manchmal Tombola-Lose gekauft hatte, ohne jemals etwas zu gewinnen, da war neuerdings ein Schild: SEMJON TUDOROW Tierheilpraktiker. Annegret hatte sich auf lange Verhandlungen vorbereitet, bestenfalls eine günstige Empfehlung erhofft und sich vorgenommen, wenn dieser Florian nicht immer so am Schürzenzipfel hängen würde, wenn der Junge sich nur ´mal ablenken ließe, vorsichtig anzufragen, wie teuer es wäre, dem kranken und altersschwachen Tier unnötiges Leid zu ersparen. Semjon Tudorow aber, der mochte den Tod nicht leiden, der kannte den nicht nur vom Fernseher, sondern von ein paar Ländern, in denen er zu tun gehabt hatte. Er hatte keine Gift-Spritze übrig, auch nicht für ein altes halbblindes Kätzchen. Aber alles das erzählte er natürlich nicht, sondern sagte nur:

Stellen sie das Körbchen ab, ich kümmern mich drum, kenne Familie, die nimmt sowieso schon immer auf, wie sagt man auf Deutsch: Streuner.

Am Nachmittag klopfte Florian an die Tür der Praxis, seine Mutter hätte es sich überlegt. In Wahrheit hatte er in seinen Rucksack Luftlöcher für Minka geschnitten und sich ein Messer scharf geschliffen, um die Dogge notfalls zu töten.

Was Florian und Semjon in der Tierarztpraxis sich alles erzählten, mochte sich Therese nur auszumalen, jedenfalls, als Annegret dem Katzenvieh anscheinend Lebwohl sagen wollte und sowieso richtig den ungezogenen Jungen, der Löcher in den Rucksack geschnitten hatte, dort beim Tier-Heilpraktiker vermutete, wurde daraus ein ganz neuartiges Umzugs- und Arbeitsprogramm. Weil nämlich Semjon mit dem Schreibkram und auch hinsichtlich des Scheuerbesens überlastet wäre, wie er sagte, brauchte Annegret nicht mehr bei der Abwicklung ihres Betriebes helfen, sondern würde halbtags in der Praxis arbeiten. Ihr neuer Arbeitgeber hatte versprochen, ihr nicht nur den Westen, sondern auch Paris und Venedig im Rahmen, wie er sagte, mehrerer Betriebsausflüge zu zeigen. Florian durfte an seiner Schule bleiben und die Katze Minka weiterhin im vertrauten Revier die Vögel ärgern oder unter den Stubenmöbeln schlummern. Sonntags krochen Florian und Minka manchmal zu Mutti und dem neuen Tierheilpraktiker-Papa ins Bett, am Nachmittag besuchten sie den Zoo, das Eis-Café oder Semjons älteren Halbbruder, der einen Bauernhof bewirtschaftete und Pferde züchtete.

An dieser Stelle der Handlung hatte ich nun auch für Therese ein klitzekleines Gläschen, einen Finkennapp Wodka eingeschenkt und wir klingelten die Gläser aneinander und tranken auf das Glück, oder auf ihre Erzählung davon, was mich heiter und verlegen zugleich stimmte, denn wenn sonst meine Besucher mit den Gläsern aneinander klingelten, war immer, so wie ich es kannte, Jammern oder ein Seufzen und stilles Resignieren dabei gewesen.

 

In der Kammer neben der Küche rammelte ich mir den Kopf, aber das machte nun auch schon nichts mehr aus, ich war mit einem Brummschädel aufgewacht. Lüften und Kaffee kochen waren eins, nach der zweiten Tasse duschte ich kalt. Ein Blick ins Schlafzimmer bestätigte mir, was ich schon wusste, denn wir hatten uns ja am Vorabend heulend in den Armen gelegen; Therese war nicht mehr da. Sie hatte alle ihre Sachen mitgenommen, sogar die Bettwäsche abgezogen, auf dem Küchentisch fand ich einen Zettel: Danke für alles und ein Briefkuvert, auf dem ich las: Für deine Unkosten! und das einhundertfünfzig Euro enthielt.

 

Ich bin unschuldig, hatte Therese mir gegenüber beteuert und ich zumindest glaubte ihr. Ob sie aber überhaupt fähig war, der Polizei gegenüber einen vernünftigen Bericht über das Geschehen auf der Raststätte und, soweit sie es konnte, über den Tod des Fuhrunternehmers abzugeben? Was würde überhaupt aus dem Geld werden, das ihr Brigitte aus Ostfriesland unter ganz anderen Voraussetzungen, eben weil sie Therese für eine Mörderin hielt, aus Dankbarkeit der jahrzehntelang drangsalierten Ehefrau geschenkt hatte?

Wie zum Hohn quatschte an diesem Morgen der Pfarrer im Radio: Es gibt kein richtiges Leben im falschen. Mein Gott, dachte ich, Bruder Schwafel, wenn das so einfach wäre.

Überlebenskampf kommt nicht ohne Raffinesse aus, überlegte ich. Thereses Bild erschien mir und zwar in der Version früherer Tage: Goldenes Haar, sanfte Stimme. Wie lange mochte ich am Schreibtisch wie erstarrt gekauert haben, bis ich, trotz der in Intervallen einsetzenden Kopfschmerzen, mit dem Aufzeichnen des unglücklichen Teils der Geschichte begann:

Gute Geschichte dachte ich, schreib sie auf! Glück aus Vater, Mutter, Kind – so wie es die Kinder nachmittags auf dem Rasen spielten, wenn eine alte Gardine als Brautschleier verwendet wurde. Alles hätte nach den Strapazen besser gepasst für Therese, als dass ich vielleicht noch eine überflüssige Liebeserklärung vom Stapel gelassen hätte. War ich nun nur über-schüchtern – verhemmt, wie es der Psychiater formuliert hätte, oder war ich rücksichtsvoll gewesen?

Sie kannte meine Neugier und meine Schwäche für alle Art von Lebensbeichten und Biographien. Ihre Rechnung war aufgegangen, denn was blieb mir, als zu versuchen zu Ende zu erzählen: Leite ich also mit einer Binsenweisheit ein:

Ärzte und Polizisten waren - statistisch gesehen - häufiger als Normalbürger damit befasst Unglücksbote zu sein. Angehörige letztgenannter Berufsgruppe trommelten 5.30 Uhr an die Wohnungstür von Florians Eltern. Holz splitterte, die Türfüllung knirschte und platzte mit einem Knall aus den Verankerungen. Haftbefehl lag vor und die Warnung, dass der serbische Hauptmann, ein Kriegsverbrecher, hochgefährlich und bewaffnet sei.

Der Flüchtling ließ die Makarow im Versteck, schlug aber den Ermittler, den er für einen Einbrecher hielt, krankenhausreif. Den dazu geeilten Uniformierten ergab er sich widerstandslos.

Die droschen hingegen, immerhin hatte er sich an einem der Ihren vergriffen, noch auf den mit Handschellen fixierten ein. Papa, Papa schrie Florian, noch lange nachdem sie Tudorow raus gezerrt hatten.

 

Das war nicht unser Papa, wir wussten nicht mal seinen wirklichen Namen, würde Mutti später sagen. Aber er war doch der Doktor für die Tiere und hat unsere Minka gesund gemacht, widersprach Florian. Woher willsten das wissen, dass die Katze besser sehen kann, der hat uns doch nur belogen, das Geld war doch überhaupt nicht in der Praxis verdient, dieser Verbrecher der . . . Aber zwei neue Lederjacken, die Schuhe und alles hat er bezahlen dürfen, gröhlte Florian, als Muttis harte Schläge seinen Kopf trafen. Da konnte Florian Mutter von da an nie wieder wie früher richtig lieb haben und später, als wieder der Plan mit dem Umzug zur Sprache kommt, würde er, wie die völlig entgeisterte Betreuerin des Jugendamtes ins Protokoll schrieb, schreien: Alte Schlampe! Meiner Scheiß-Mutter haue ich auf die Fresse! Entsprechend fiel das Ergebnis aus: Florian sollte in einem Heim untergebracht, vorher vorübergehend zur Beobachtung in die Kinder-und Jugendpsychiatrie eingewiesen werden.

Der Platz in der Psychiatrie war noch nicht frei, die Mutter bat um eine letzte Chance, die sie und ihr Junge, die beide verschiedenartigsten Stress- und Belastungssituationen innerhalb sozialen Umfelds ausgesetzt waren, wie auch die Fürsorgerin einlenkte, auch bekommen sollten. Die Psychologin baute in einem Kreis Figuren auf, die in dem Experiment Bezugspartner, also Angehörige und Freunde darstellen sollten. Florian schob Anna Mildner dichter an sich als die Figur für Mutti und so kommen Oma und Enkel in den Selbsthilfeplan. Kinderkram urteilte Florian dazu, beschwerte sich aber doch über das Fehlen einer Figur für die Katze.

Florian ging für Mutti immer öfter die Post holen und fing bald einen Brief des Hauptmanns ab, in dem dieser schrieb, dass er sie alle sehr lieb habe und bittet, sie mögen ihm den falschen Namen, seine letzte Kriegslist verzeihen und ihm doch bitte schreiben, angegeben war die Adresse eines Gefängnisses in Belgien.

 

 

 

Serbischer Ritter

 

 

 

In dieser Zeit hatte der überforderte, aber sehr aufgeweckte Junge Therese kennen gelernt. Sie hatten sich unter dem Dachstuhl eines dieser demnächst zum Abriss frei gegebenen Altneubauten, eine Bude, einen Raum für ihre Treffen improvisiert. Während Florian noch zum Abendbrot nach Hause ging, meistens auch zur Schule, war Chris, ein älterer Junge, längst abgehauen, schlief mal hier und mal da, wollte weder nach Hause noch ins Heim und dann war noch René, der mit einem Kochlöffel weißes Pulver aufkochte und sich den Arm abband, bevor er spritzte, sonst aber für einen Junkie, urteilte Florian, in Ordnung war. Therese gegenüber meinte er: Ich bin eigentlich nicht für Junkies, aber die werden von den Bullen alle gemacht, genau wie Papa. Wenn der Junkie und Chris noch nicht da waren, beobachtete Florian die Fenster des Puffs. Mit einem Handy, das Chris nicht hatte verkaufen können, weil es, wie er sagte, alt und ein Stein war, an dem die Außenantenne wackelte, rief er so lange die Kontaktanzeigen durch und rieb sich am Fernglas die Augen wund, bis er meinte, in den Fenstern gegenüber zu den Telefonnummern der Annoncen die passenden Damen gefunden zu haben. Therese war noch schöner, als er es sich erträumt hatte, fand er, eine wirkliche Prinzessin, mit der wäre Papa jetzt bestimmt auf Flucht und sie würden alle killen.

Was geht schon ab mit einer Mutter, die immer wegen seiner Schularbeiten maulte, die aber selber überhaupt nur Fehler machte. Junge, die wusste nicht mal was zehn Prozent sind. Der Hauptmann wollte sowieso nur ihn und Minka beschützen, urteilte Florian und hatte jetzt immer zwei scharfe Messer dabei, denn ein serbischer Ritter geht niemals unbewaffnet aus dem Haus!

Warum ließ sich Therese auf ein Treffen mit den Jungs ein? Neugier, Abenteuerlust? - aber sicher wollte sie auch, dass die Telefonate aufhörten.

Therese hat keine Angst, die ist cool, die hat Klasse, versteht ihr, ihr Penner, so hatte Florian Chris und René es wissen lassen, auch weil er ahnte, dass die Älteren ihn nicht so richtig ernst nahmen und die Sache mit dem serbischen Ritter für Bullshit hielten.

Das einzige was zählt, ist das hier, hatte René ihn ausgelacht und grinsend einen Hunderter vorgezeigt.

Wenn ihr nicht sofort mit der Scheiße aufhört, hetze ich euch die Bullen auf den Hals , hatte Therese zu Beginn gedroht, nachdem ihr klar geworden war, dass nur die lieben Kiddies es gewesen sein konnten, die sie vom Abrisshaus gegenüber beobachteten und sie und auch ihre Kolleginnen genervt hatten. Sie war fast froh gewesen als Pieps-Stimme, wie sie Florian zunächst für sich nannte, nochmal anrief und meinte, sie könne sich gern vergewissern, dass er die Bilder auf dem Handy gelöscht habe. Wie lange beobachteten die mich schon? Therese erinnerte sich an ihre eigene Pubertät. Hatten sie und ihre Freundin nicht auch stundenlang auf der Lauer gelegen und die Schatten im Fenster der Nachbarin hatten in ihrer Einbildung mancherlei bedeutet, und wenn die sich vielleicht auch nur verrenkte, weil die obere Schrankwandtür geklemmt hatte, wurde das von den Teenagern, die sie damals waren, zur Sexorgie interpretiert – völlig blödsinnig, was sie sich ausmalten, wenn das Licht mehrmals hintereinander aus und an geschaltet worden war.

Jedenfalls war sie zu einem Treffen bereit gewesen, schlug den Imbiss an der Tankstelle vor. Florian hatte zugestimmt, für ihn, der immer ohne Helm und nach eigenem Ermessen im Hochgeschwindigkeitsbereich auf seinem Bike herum flitzte, null Problemo. Chris war die Sache angeblich zu blöd, und von René verlangte die Droge volle Aufmerksamkeit.

In Vorbereitung hatte Florian die Bilder von der Digitalkamera seines Handys auf ein Notebook, das Chris ihm widerwillig für ein paar Stunden geliehen hatte, hoch geladen und vergrößert, was die Pixel hergaben.

Therese trug ihr beigefarbenes Wollkleid und hatte ein gepunktetes Kopftuch umgebunden. Wie in einem dieser alten Filme, die Mutti gerne gesehen hatte, dachte Florian. Ursprünglich war das Treffen als letzte Warnung vor dem Schlagabtausch geplant. Nur Hottie, der für die Jugendlichen den harten Mafioso mit Killer-Instinkt, immer bereit zur Plattmache, mimen sollte, hatte gebrummt: Für Nasse, für den Null-Over, mache ich nicht das Kindermädchen. Auch auf der anderen Seite war Absicherung geplant gewesen, aber René ging es anscheinend nicht gut, er war auf Türkie, und Chris, das konnte Florian nicht fassen, hatte einfach gekniffen. Therese wollte das Treffen, um den Jungs zu versichern, dass sie ihnen die Bude vom Bullen würde aufreißen lassen und Freifahrkarte für die Minna zum Jugendknast wäre sowieso logo. Hotties Spruch wäre, vielleicht untermalt von blauen Flecken und ausgekugelten Armen, der vom Arschaufreißen gewesen. Aber da kam ein Kind, dachte sie, und ein gar nicht so ungezogenes.

Wollte mich mal entschuldigen . . .war so´n Mist, stammelte Florian, und dann erst dieser Blumenstrauß, den er ihr verlegen hin hielt:

Nicht die Speckblume von hinter dem Spielplatz, aber auch nicht der Floristenkram, arrangiert in Plastik, sondern dunkelrote Rosen, im Stadtpark abgerissene Gladiolen und eine einzelne weiße Dahlie. Außerdem waren da die Fotos, sie hatte mit eindeutigen Szenen gerechnet, aber so, das Bild mit dem Kaffeebecher am Fensterbrett oder die Serie, wo sie sich im Nieselregen erkannte. Das bin ja ich, mit dem blöden klemmenden Knirps, da löste sich dann doch die Stimmung.

Ich bin jedenfalls kein Knirps, kein Kind mehr. Wie viel kostest du eigentlich, hörte sie Florian errötend, mit fast puterroten Wangen sagen.

Mit Kindern mache ich es nicht! Habt ihr keine Mädchen an eurer Schule, konterte sie.

Die sind doch blöde und außerdem, fuck noch mal, habe ich Null Bock auf Penne.

Wenn sie noch dümmeres Zeug quatschte, hätte er ihr vielleicht gezeigt, wie er versucht hatte, gewisse erogene Zonen zu vergrößern. Die Sonne wärmte und Therese nahm das Tuch ab. Florians Coolsein ging zur Neige, als sie ihre Mähne schüttelte, der kleine Charmeur sprach eine Liedzeile:

Du bist blond, blond wie ein Weizenfeld.

Na, meine Telefonnummer hast du ja sowieso schon, verabschiedete sich Therese von Florian. Jetzt freilich wurden dessen Anrufe anderer Art, der Kleine lud ins Eis-Café ein und schenkte ihr teure Seidentücher, die er im Kaufhaus stibitzte.

 

Für Chris war klar, diesen Spinner würden sie aus der Bande rausschmeißen. Was hieß hier überhaupt Bande? René, als Spasten bezeichnete er ihn (viel beleidigender ging es im Jugendjargon nicht) lag völlig abwesend auf seiner muchelnden Penntüte. Bleib locker, Alter, alles easy! Mehr hatte der nicht zu sagen, völlig stoned war der. Den durchgeknallten Florie würde er jedenfalls rausschmeißen; Gut, der hatte ihr Versteck, den Treffpunkt damals entdeckt und mit eingerichtet, aber so ´ne Häuser kannte er selber noch ´ne Menge.

Hör mir doch mal zu, hatte er es nochmal geduldig mit René versucht, aber der war völlig stoned und er hörte auch noch auf Florian, war ihm gerade zu ergeben, wie sich herausstellen sollte, dieser Trottel, weil die kleine Ratte ihm jetzt das Scheiß-Zeug einteilte. War ja wohl das Letzte, sich von einem aus der Sechsten kommandieren zu lassen. Komm, wir haben noch Zeit, lass uns paar Fotos von den Fickschlitten da drüben machen, vielleicht blättert so ein Opa aus dem Wichsklub bisschen Schotter hin, hatte er gestern zu Florian gesagt. Er hatte sich dabei überhaupt nichts gedacht, es war auch nur, weil er sich langweilte und weil René wieder mal stoned war. Im nächsten Moment kam sein Monitor, Flachbildschirme waren zum Verticken da - also der schwere Kasten an seinem Kopf vorbei geflogen. Nur weil Chris sich duckte, knallte der vierzehn-Zoll-Monitor durchs Fenster.

Er sprang auf Florian drauf und wollte ihm eben eine einklinken, da biss der ihm in den Unterarm und zog sein angeblich serbisches Messer.

Also, den hätte ich fertig machen können, aber ich vergreife mich nicht an Babys!, würde Chris später sagen. Zieht gegen einen Kumpel das Messer, wegen Nichts.

Nenn sie nie wieder so, hörst du, hatte der ihn mit Tränen in den Augen angeschrien. Da begann Chris zu begreifen und schloss sich selber aus der Bande aus. Die waren ja beide stoned und, wenn ihn wer fragen würde, der Kleine noch härter als der völlig dichte René. Dass er das nicht früher gerafft hatte, Mensch, wie der ausflippte, wenn die blonde Nutte aus dem Haus gockelte und einen seiner von ihm geklauten Lappen umbammeln hatte.

Nutte, Fickschlitten brüllte er nochmal, aber René öffnete nur kurz die Augen und murmelte kaum hörbar: Wassen jetzte, was hast du gesagt?

Rache ist korall dachte Chris und griff zum Farb-Spray. Er plante, den liebesblöden Florian mit seinem Hass zu überrollen, oder, wie er gesagt hätte, den Spast zu dissen: Therese kaputte Nutte! sprayte er in der Nacht in Großbuchstaben an die Hauswand.

Weniger als vierundzwanzig Stunden später trafen sich Florian und Therese in der Eisdiele.

War ganz schöne Arbeit! Statt das Zeugs zu besorgen, was mir zu lange gedauert hätte, habe ich den Putz abgekloppt. Nur für dich, sprach Florian mit vollem Mund beim Einschaufeln des Quarkkuchens und durfte am Campari-Orange seiner Therese-Prinzessin nippeln. Aber mit denen bin ich fertig! Der kleine Schlaumeier sprach nicht aus, was unausgesprochen viel lauter klang: Für Therese würde er alles tun!

 

Ja, eigenartig, ich hatte noch mal diese Geschichte überdacht, die mir Therese sozusagen als Abschiedsgeschenk hinterlassen hatte, der Junge hatte sie wirklich geliebt - oder? Und, wenn es auch peinlich war, es sich eingestehen zu müssen, möglicherweise konkurrierte meine Werbung um Therese mit der eines Schuljungen, aus der Sechsten, Junge . . .

Und der hatte übrigens wirklich was mit ihr unternommen, Abenteuer bestanden und für sie sogar seine Bande aufgegeben – dagegen musste ich wie ein Langweiler wirken und die Rolle des Intellektuellen und unverstandenen Genies hatte ja bereits Wilke besetzt, dafür war ich nun wieder zu doof, überlegte ich und nuckelte den Rest aus Thereses Campari-Flasche. Von ihrem Einkauf war noch mancherlei übrig, abgepackter Quarkkuchen beispielsweise.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Zirkus Roselli rollt mich nicht

 

 

Muss der jeden Quatsch erwähnen, abgepackter Kuchen aus der Kaufhalle ist doch nichts Besonderes, höre ich schon ein Raunen und ich bin mir nicht sicher, ob ich eher Ankes Zurechtweisung oder Anna Mildners Grummeln im Tonfall dieser Kritik vermuten sollte. Aber ist ja vorbei, dachte ich und Quarkkuchen essend und Cappuccino schlürfend blätterte ich in einer Illustrierten - durchs Küchenfenster strich ein Lüftchen herein. Trauer hätte sich jetzt einstellen müssen, aber ich trauerte keineswegs, nicht mal verstimmt war ich. Therese hätte ich weder damals, als ich sie mir als idealisierte große blonde Königin fantasierte, noch heute, da ich sie als krankes, nervöses Mitgeschöpf erlebt hatte, verkraften können. Für mich gab es keine Frau, war ich mir in dieser Stunde sicher, ich war gerade so fähig, etwas aufzuschreiben (noch nicht mal darin war ich gut) und Quarkkuchen zu mampfen, so sah ich mich selbst. Noch in T-Shirt und Schlafanzughose, hatte ich die blaue Strickjacke über gezogen und reckte und streckte mich. Murmelte ich noch was im Halbschlaf oder war es Heilschlaf, als ich wieder erwachte, kitzelte mich ein Strahl Nachmittagssonne. War sonst eher allergisch gegen den Geruch körperlicher Ausscheidungen, aber sei es drum, selbst mein Schweißgeruch schien mir fast angenehm, bin ja wohl neuerdings in mir selbst zu Hause. Wenn meine von wohliger Behaglichkeit gedüngte Selbstgefälligkeit als Grünpflanze austreiben würde, stünde mein Bett jetzt im Urwald.

Das Junggesellendasein mochte allerlei Nachteile mit sich bringen, aber ein sehr spätes Frühstück bei Lektüre und Gedankenspiel bekam mir Alleine-Männchen wohl. In den Illustrierten blätternd versuchte ich den Mangel an Weiblichkeit auszugleichen, indem ich mich nicht scheute, einen Artikel aus einer der Frauenzeitschriften zu lesen. Putzige Sache, eine Mutti besuchte das studierende Töchterlein in der Studenten-WG und am Rande des Artikels in einem Kästchen so eine Art Kurz-Ratgeber: Nicht nach der zum Einzug geschenkten Bettwäsche fragen. Nach dem Begrüßungstrunk aus Zahnputzgläsern die Frage nach den langstieligen Weingläsern unterdrücken. Die mütterliche Putzattacke in Abwesenheit der WG-Bewohner und ohne nach deren Rückkehr einen langen Protokollbericht über verschimmelte Nahrungsmittelreste . . .

Schön war das, wenn Probleme, die mich nicht selbst betrafen, bunt bebildert vorüber zogen, denn das Magazin war viel zu sehr auf Leserin aus Mittelklasse eingestellt, um hier mit den Problemen von uns Milieukindern zu nerven und wenn doch ´mal über Langzeitarbeitslose oder Betroffene in der Schuldenfalle berichtet wurde, handelte es sich um solche vom Journalisten extra vorgeführten Schlafmützen, dass sich jeder, der nur über die geringste Eigeninitiative verfügte, zu kichern verkneifen musste:

Von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bin ich vollkommen ausgeschlossen, eine Kinokarte kann ich mir nicht leisten, wird die übergewichtige Verhaltensgestörte nach dem Aufsagen des vorbereiteten Textes zitiert. Kein Gedanke daran, dass man ja die Kino-Karte nun am Monatsanfang hätte einfach kaufen können, egal, ob man es sich leisten kann oder nicht, und notfalls dann eben ´mal der Broiler und das Kompott ausfällt, zu schweigen von den Genussmitteln. Dass es Standesdünkel und genormte Verhaltensweisen gab, war mir schon klar, bevor ich meinen Quarkkuchen in die Illustrierten krümelte, ein Porsche beispielsweise beeindruckte sicher in den Vierteln der Reihenhäuser und der weibliche Azubi aus einem Friseursalon mag die Fahrt in so einem Auto geiler finden, als vom Freund mit dem zusammengebastelten Mofa abgeholt zu werden, aber ein wirklich bequemes Auto – und ich darf mitreden, weil ich als Tramper schon drin saß - war das nicht, schon gar nicht auf der Rückbank. Ich blätterte weiter. Wer aber hätte das gedacht: Und die Leute denken, na die gehen einkaufen, aber da ist gar nichts, berichtete die Mutter der dicken Mädchen, die in rosa Jogginganzügen auf der Fernsehcouch zu sehen waren und neben denen Vati vor einem Bier grinste. Da wird also, obgleich gewisse Wünsche offen, aber keine Zahlungsmittel verfügbar waren, eine Ehrenrunde durch den Baumarkt gedreht, also ein Einkauf imitiert. So was hätte ich nicht gedacht, auf dem Baumarkt gab es doch Werkzeug, Farben und Tapeten, alles Sachen zum Arbeiten, also ob mit oder ohne Geld, ob vorgetäuscht oder wirklich, wie kann man so eine Runde gedreht haben, um sich damit zu motivieren? Eine Seite weiter geblättert und ich sah die goldenen Kugeln der Kathedrale im Sonnenlicht funkeln. Die Kathedrale stand in Bulgarien, in Varna, las ich. Daneben wurde das Evangelium aus der Marktwirtschaft gepredigt.

Mein Wasserkocher brodelte, ich schüttete mir noch einen Cappuccino auf - knips, Filterzigarette an - dann las ich über die westfälische Powerfrau Dr. Inge Langemann-Althoff, die denen in Bulgarien erst mal beigebracht hatte, wie man an der Kunsthochschule, Fachgebiet Design todschice Kreationen schneiderte, auch wenn dieser Lehrgang vom Minister noch gar nicht abgesegnet war.

Nun die Wochenendbeilage der Illustrierten, dem Volk auf den Wunschzettel schauen, denn die einfachen Leute veröffentlichen auch: In den Annoncen! Wer die Abkürzungen versteht, kann viel Spaß haben: Leidenschaftlicher Er, jung geblieben, sucht Kindfrau ab 18 – guck an, alter Bock; die meisten Inserate sind allerdings von Agenturen oder die all zu bereitwillige Preisgabe der Telefonnummer verrät die Abzocke, dafür legen ein paar Frauen richtig los und suchen nach einem perfekten Männchen. Was soll Er denn alles sein: Nichtraucher, Nichttrinker und handwerklich begabt – gut, dass ich die Annoncen nur zum Spaß lese. Was stand da – tierlieb? Nein, dachte ich, meine Liebe, geh bitte selber gassi mit dem blöden Kläffer. Aha, die Seniorin mag Auto-Touristik, auch gut und welche Floskel, die Berufstätige wünscht: Mit beiden Beinen fest im Leben stehend. Aber nein, die alte Mutter Erde drehte sich und auch ich wackelte. Was soll´s, es gab eben Wünsche, die sind wie eine Spielvorlage für Lügenbolde.

Auf einmal ein blöder Juckreiz, ich begann mich am Ohr zu kratzen und lief von der Küche aus diagonal bis zur Schafkammer, am Schreibtisch vorbei und wieder zurück: Na ja, hörte ich mich murmeln. Könnte ja mal, wäre ja nichts dabei . . .

In der Wochenendbeilage sah ich auf der Seniorenseite noch ein schönes Bild von Paul F., der die Norm übererfüllte und das Berliner Stadtschloss nachgebaut hatte, allerdings aus Streichhölzern, sicher, so konnte man das Problem auch lösen. Ich wünschte dem alten Herren von ganzem Herzen alles Gute bei der Erfüllung weiterer Bauvorhaben und blätterte doch noch ´mal auf die Beziehungskiste übertitelten Seiten der Wochenendbeilage zurück und suchte unter Sie sucht ihn. Hätte ich nicht gedacht von mir, dass mich noch ´mal so eine Annonce anspricht, aber irgendwie könnten die Parameter stimmen, dachte ich bei mir, schon die wichtige Mitteilung: Aussehen nicht so wichtig, Sympathie entscheidet!, kam mir wie eine Ampel auf Grün vor. Sicher, wenn ich wollte, konnte ich mich sorgfältig rasieren, aber trotzdem: einen starken Typ zum Anlehnen sah ich im Spiegel nicht, und wie mürrisch ich wirkte, auch wenn ich es gar nicht war. Mit Vierzig hatte ich im vorigen Jahr endgültig diesen Grauton bekommen, nicht in den Haaren, da konnte ich die einzelnen Borsten noch raus schneiden, nein, auf der Haut. Lange konnte ich suchen, da guckte einfach kein Frauentyp raus, ich sah nur Pieps, die kleine Maus. Wilke, der ein ekliges Spottmaul führte, hatte gemeint, für mich sei eine blinde Frau die einzig mögliche Lösung; aber da irrte er, Blinde sind misstrauisch und wollen sich nicht die Blöße geben, nichts wahrgenommen zu haben. Was die Annonce betraf, die mich überlegen ließ, wo ich das bessere Briefpapier aufbewahrte, so enthielt sie den zauberhaften einzelnen Konsonant: R - selten geworden heutzutage, wo sie das Nicht-Rauchen zur Staatsdoktrin erklärt hatten. Sie war also Raucherin und, für mich ganz wichtig, ich habe nämlich nichts gegen Tierliebe, sie hatte eine Katze und es gab noch ein Wort, das ich immer wieder buchstabierte, hier stand nichts von beiden Beinen fest im Leben oder handwerklich begabt und ähnlicher Quatsch, nein, die rothaarige, etwas füllige Mittdreißigerin war bekennende Langschläferin. Noch zögerte ich, du wirst in Schwierigkeiten geraten, warnte mich die innere Stimme, aber da fand ich sie schon, die Mappe mit den gefütterten Briefumschlägen. Meine behaglich träumerische Stunde schien allerdings vorüber, als wenn der mit Schwung entworfene Bogen des L von Liebe als Brief-Anrede den Zauber abschaltete. Hallo! kam natürlich nicht in Frage, gut, wenn ich andererseits zu ausgefallen formulierte, kam gleich raus, dass ich vielleicht zu schwierig war. Liebe Unbekannte, oh Gott, dachte ich, klang auch irgendwie abgewichst . . .

In diesem Moment klingelte es, aber nicht an der Haustür, sondern vor meiner Wohnungstür. Vorsichtig, wie ich war, schaute ich zuerst durch das Spion genannte Guckloch: Guten Tag, ich komme nämlich - nun Kunstpause - danach rollt das R wie ein Trommelwirbel: Roselli, vom Zirkus Roselli. Wir sind hier zu einem Gastspiel und haben noch Probleme mit der Standmiete, da wollte ich fragen, ob Sie was da haben, damit wir weiter kommen. Wir müssen auch noch Futter für die Tiere kaufen.

Aber ja, wir gehen gleich mal zum Schuppen, da habe ich noch Gerste und Maiskolben, bisschen Heu ist auch noch da.

Der Alte hatte schnell verstanden. Er tat mir leid und ich war nicht stolz auf mich, als ich hörte, wie er eine Etage über mir läutete und sein Roselli-R rollte. Die Abfuhr für den alten Lügenbeutel - gegen Bettler hatte ich nichts, aber Betteln und Verarsche, das war mir zu viel - die schien sich gleich zu rächen. Mein Briefanfang wurde hölzern, so ein blödes Wort wie meine Interessen, statt einfach zu schreiben, was ich gern las und welche Abendveranstaltungen ich besuchte. Wie wäre es mit einem originellen Spaß? Meinen Wagen könnte ich beschreiben, den im Verbrauch sparsamen City-Flitzer mit Deichsel . . .da rasselte der Nostalgie-Klingelton meines Handys. Anfangs hatte ich gedacht, das würde wie in einem gemütlichen alten englischen Krimi klingen, aber inzwischen nervte der Klingelton genauso wie jeder andere. Babsy Fleischer war dran, sie klang irgendwie verschnupft, wie eine Fremde: Ich müsste dich mal sprechen, bräuchte eventuell deine Hilfe. Wann könnten wir uns treffen? Ich sagte, weil ich das für brennende Neuigkeit hielt: Du Therese hat mich angerufen, ich glaube, dir darf ich es sagen, sie ist in der Klinik, weil sie das alles nicht verkraftet hat. Übrigens, an der Sache mit dem Tankstellenmord ist sie natürlich unschuldig. Babsy antwortete nur: Wenn du meinst.

Mit der Zeitungsschau und den Träumereien schien es vorbei zu sein. Meinen ungeschickten Briefanfang zerriss ich, und ab ins Klo, denn Babsy konnte neugierig sein. Auf einmal störte es mich, gar nicht draußen gewesen zu sein, und ich entschloss mich, ein paar Spazierrunden zu drehen. Im Stadtpark sah ich auf der Bank eine Zeitschrift liegen, aber meine Leselust war vorüber und auch sonst war mir alles zuwider. Ausschließlich Paare liefen umschlungen im Schein der Abendsonne um Rosenrondelle.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Brief ohne Krümmer

 

Zu Hause glotzte ich ratlos an die Wand, die Wartezeit zog sich, ich räumte ein bisschen auf und schaltete das Radio ein. Babsy hatte eine halbe Stunde Verspätung und entschuldigte sich damit, sie hätte noch Besorgungen machen müssen.

Für den späten Sommertag erschien sie zu warm gekleidet, in Übergangsmantel und ein dickes Tuch um den Hals. Sie sagte denn auch: Ich friere und nahm mein Angebot an, ihr einen Tee zu kochen. Du musst mir mal helfen, begann sie: Im Briefeschreiben bin ich wirklich nicht so firm. Wobei sie den Vokal in firm so rund wie das Ö von Ödipus aussprach, also förm. Und würdest du mir einen Gefallen tun, mal was ausrichten, wirklich bloß ´ne Nachricht, unten bei den Black Dissers? Wo bitte? Mir blieb die rein rhetorisch gemeinte Frage fast im Halse stecken. Weißt du, was du da sagst, die stehen in dem Ruf, schon Leuten das Ohr abgeschnitten zu haben, nur weil die sich nach der Uhrzeit erkundigt hatten?

Sie rührte in ihrem Tee, schüttete nochmal Zucker nach und sagte: Es ist, na ja, Hottie hat Schwierigkeiten, er sitzt.

Hat er dir geschrieben, bekommst du einen Schein für die Sprecherlaubnis?

Das habe ich alles schon mit dem Anwalt erledigt, weißt Du, es ist nur, jetzt wo ich ihm privat schreiben sollte. Eigentlich war gerade Sense, fort mit Schaden, nach dem, was er sich bei der Einweihungsparty für den Strandkorb wieder geleistet hatte. Ich staunte, Hottie im Knast, wenn sie einen Anwalt hinzugezogen hatte, konnte es nicht wegen einer Rempelei oder geschnittener Vorfahrt sein. Mitten in allen Meldungen und Hilfeersuchen schweifte sie vom Thema ab. Guck an, gibst ja ´ne Menge Knete für Zeitschriften aus. Was und sogar die neue IRENEwoman und die Meteor? Hat Therese hier liegen lassen, entgegnete ich und merkte, dass ihre Fragen weder beiläufig noch nett gemeint waren. Ach ja, deine angebetetes Prinzesschen, ach, mein Gott. Wie kann man nur so dumm sein? Erst hat sie den armen Bernd Wilke, das sieht nun der Blinde mit dem Krückstock, dass das keine Frau für ihn ist, den hat sie lächerlich gemacht, und dich benutzt sie auch.

Wieso benutzt? Ich begriff jetzt überhaupt nichts mehr. Glaub mir, sagte ich, die Therese hat hier übernachtet, weiter nichts. Ganz in allen Ehren, wie man so sagt. Babsy lachte böse auf: Ach ja, du denkst wohl, ich sehe nicht, was hier los ist, gut du warst immer ein fixer Junge, aber Zigaretten ´ne halbe Stange oder was, zwei Päckchen Kaffee und nicht gerade vom billigen.

Mich kotzte das Gespräch an. Therese brauchte keine Hilfe mehr, die ich ihr geben könnte. Was sollte also noch zu besprechen sein? Was ging mich der blöde Hottie an, wieso sollte ich bei diesen Arschlöchern vorsprechen, die ihre aufgemotzten Bikes und ihre durchtrainierten Fäuste anscheinend gegen sämtliches Groß- und Kleinhirn eingetauscht hatten?

Mir stank die Sache, dass ich dachte, reagierst auch großkotzig und so, dass Tuschkastenfratze - da hatte Anke mit ihrer Beschimpfung anscheinend doch nicht so daneben gelegen - wenigstens kapieren würde. Auf ein Gerücht mehr oder weniger in der Stadt kam es mir nicht drauf an. Ich sagte: Gucke an, der Onkel hat Kaffee und Zigaretten, na gucke, staune, kann ja mal sein, dass ich was am laufen habe, was? Muss ja nicht jeder so ein schwerer Junge sein wie dein Hottie, gibt ja auch Leute – ich schluckte und verhaspelte mich fast - die auf die stille Tour was laufen haben?

Ach, ziehste wieder alte Stahlstiche über´n Kopierer und tust sie mit Kaffeepulver am Friedhof verbuddeln, damit du die Sammler verarschen kannst, wie damals nach der Wende, findest du da noch Dumme?

Verdammt, in ungefähr hatte das Biest auch noch recht, das war wirklich über zehn Jahre her, dreihundert Kilometer entfernt gewesen und ich hatte über diesen kleinen Schwindel mit den abkopierten und auf alt gemachten Stahlstichen, für den ich schon längst Strafe und Schadenersatz absolviert hatte, eigentlich mit niemanden gesprochen. Woher konnte die das nun wieder wissen?, fragte ich mich. Jedenfalls blieb mir nichts anderes übrig, als sie jetzt zu bitten zu gehen. Sie hatte genug Instinkt, noch ehe ich den Rauswurf mehr oder minder höflich zu formulieren beginnen wollte, zu sagen: Ist ja gut, ich gehe! In diesem Moment klingelte es, heute schien also mein Sprechtag zu sein. Draußen stand einer im Overall, mit Rucksack, Mappe und Taschenlampe. Ach richtig, den hatte ich vergessen, der Ableser von der Rechem machte sich schon an der Heizung zu schaffen, um den Zählerstand zu notieren. Kann Ihre Gattin mal bitte mich kurz durch lassen, damit ich in der Küche noch . . .Danke. Und dann hier noch eine Unterschrift bitte! Durchzug war entstanden, es frischte auf, der Sommer schien sich verabschieden zu wollen. Gewitter grollte. Kann Ihre Gattin mich bitte mal . . . Babsy lachte auf, der Ableser schien am Ventil gedreht zu haben, zumindest lenkte sie ein und als wir wieder ungestört waren, sagte sie: Entschuldigung, ich bin mit den Nerven runter. Also, und Therese soll wirklich unschuldig sein?

Soweit ich gehört habe, antwortete ich. Na ja, ich dachte schon, weißt du, ich bin durcheinander. Hat sie dir Geld gegeben? Ich hatte längst begriffen. Ja, sie hat mir großzügige Spesen erstattet und übrigens, wenn du es genau wissen willst, ich habe das aus Hilfsbereitschaft gemacht und das wäre sicher anfangs nicht nur deshalb gewesen . . .Was nun, du wolltest Hilfe für den Brief?

Also schrieb ich einen Brief, in dem stand, dass Babsy Fleischer ihren Hottie ziemlich vermisste und dass sie ihn besuchen würde und sich auch um seine Wäsche kümmern würde. Ich riet ihr, was jeder Anfänger wusste, nämlich in einem Brief in die U-Haft, solange es noch ein laufendes Verfahren gab, nichts zur Sache zu schreiben, da könne der Anwalt ohnehin besser Mitteilung machen. Dass sein Motorrad nicht mehr an der Kaufhalle am Südstadtring parkte, sondern jetzt bei den Black Dissers stand, wo es eventuell so schnell nicht loszueisen war, weil Hottie dort noch Schulden hatte oder was weiß ich, riet ich unerwähnt zu lassen. Statt dessen noch ein paar harmlose Geschichten und, dass sie ihn an ihn denken würde. Und dann wollte Babsy noch Kleinigkeiten wissen, wegen eines weißen Hemdes und Jacketts für die Verhandlung, und außerdem hatte Hottie irgendeine Garage noch nicht aufgegeben, da würde, wenn er die Schlüssel nicht mitgeben würde, noch weiter sinnlos Miete bezahlt werden müssen. Babsy machte ´nen hilflosen Blick mit Schmollmund und ich schrieb was Nettes hin; die Garage beschloss ich wegzulassen, wer hörte schon gern im Knast, dass einem die Bude aufgelöst wird, weil man die ja nun sowieso so schnell nicht mehr braucht. Gutmütiger Trottel, der ich doch manchmal zu sein schien, ließ ich mir von ihr ein paar Schriftproben geben und dann legte ich los mit blauem Kugelschreiber auf rosa Papier und in Babsys schwungvoller, aber viel zu winziger Handschrift und manchmal verwechselte die Kutste so stimmhafte und stimmlose Konsonanten, so dass sie fragte, ob er Bapier präuchte. Manche Fehler baute ich aus, andere ließ ich stehen und setzte ein paar Kommas absichtlich falsch, damit es echt wirkte und am Ende schrieb ich für diesen Grobian sogar ein Bussi und ein Küsschen rein. Wie ich mir gedacht hatte, las Babsy nicht noch mal durch, was ich geschrieben hatte und ein bisschen bedauerte ich, nicht einen Joke gemacht zu haben, wie: Du, irgendwer muss dir den Krümmer abgebaut haben! War ja nur fair von mir gedacht, denn so ein kleines Leid lenkt ja von größerem ab. Babsy hatte sich jetzt soweit beruhigt, dass sie sogar begonnen hatte, einen Artikel aus Irene-Woman zu lesen. Höflich, wie fast immer, bot ich ihr an, dass sie sich die Zeitschrift mitnehmen könne und wollte ihr gern aushelfen, weil sie, wie sie sagte, nicht mehr zum Einkaufen gekommen wäre. Wir teilten uns den Kaffee und ich gab ihr auch Zigaretten ab. Babsy sagte: Kriegste eh alles wieder und ich wiegelte mittels sozialistischem Liedgut ab: Vorwärts und nicht vergessen, worin unsre Stärke besteht . . . Worauf sie trällerte: Beim Hungern und beim Essen, es lebe die Solidarität . . .

Und du hast wirklich nichts gedreht, also nur ein Schein von Therese, hakte sie nochmals nach. Mal was anderes, wechselte ich zu einem, wie ich fand, interessanterem Thema: Was war das eigentlich bei der Einweihungsparty gewesen, weshalb du normalerweise nie mehr ein Wort mit Hottie gewechselt hättest? Also gut, höre zu, mit diesem Strandkorb, das war ja überhaupt der Reinfall und zuerst erzählte sie, was Leserin oder Leser schon wissen, wie sie nach einem günstigen Angebot im Internet gesurft hatten und die Strandkorbnixe fanden. Von Therese hatte ich wiederum erfahren, was sie von Brigitte aus Ostfriesland gehört hatte, dass vermutlich der Trucker hinter den Schmuddelfilmchen steckte und außerdem, dass die meisten Frauen für die Filmchen nichts bezahlt bekommen hatten und einige überhaupt nichts davon wussten, dass sie gefilmt worden waren. Der Strandkorbgeschichte zweiter Teil allerdings, der war gewissermaßen pikant.

Hottie hatte den Strandkorb im Garten aufgebaut, wie es sich Babsy erträumt hatte, blau-weiß und echt geflochten, aber das war noch längst nicht alles. Er hatte am Gartenteich einen Sandstrand aufgeschüttet, mit Plastikmuscheln, und auf dem Teich schaukelte ein frisch aufgetakeltes Modell, an dessen Bug war zu lesen: Segelschulschiff Wilhelm Pieck. Soweit hätte es schön werden können im Kleingarten. Hottie hatte noch einen Neffen eingeladen, der versprochen hatte, sich um Grillkohle und Bratwürstchen zu kümmern. Hinter dem Schuppen stand von einer Plane abgedeckt das Eisen, so nannte er seine Maschine. Der Neffe hatte noch einen Kumpel und dieser zwei junge Mädchen mitgebracht. Der Rest der Geschichte war schnell erzählt und nichts Neues, hatte Babsy allerdings, wie sie sagte, doch schwerer gekränkt, als sie gedacht hätte. Der Neffe hatte so lange gequengelt, bis Hottie ihm doch noch erlaubte, einen Blick auf die Harley zu werfen, und irgendwann stand Diana aus dem Schulabbrecherprojekt daneben, die einen Kursus im Verein Arbeit Leben Lernen, früher hätte man es Sonderschule oder weniger liebevoll Dummschule genannt, absolvierte. Na ich kenne das ja, wie der protzt und Wellen macht, erzählte sie, dabei versteht der selber nicht die Bohne davon, er fährt ganz gut, mag sein, aber ohne seinen Klub könnte der noch nicht mal ein Rad wechseln. Jedenfalls fand Danie nicht nur den Ofen heiß und gegen Mitternacht, sie wollte nur ´mal hinter den Büschen verschwinden, sagte Babsy, weil sie sich vor den Spinnen auf dem Plumsklo ekelte, erwischte sie die beiden in flagranti. Weißt du, was noch der Gipfel war, als ich am andern Morgen das Schiffsmodell sah, war da mit dickem Stift Wilhelm Pieck durchgestrichen, so `ne Göre weiß gar nicht, wer das war, dafür hatte die mit Rot und Herzchen und so ´nem Scheiß Diana und Horst dranne geschrieben. Horst!, wo den doch schon seit der Schulzeit niemand anders als Hottie gerufen hatte. Also, wenn das mal alles ausgestanden und vorbei ist, schloss sie ihre Erzählung, dann ist es wirklich aus und vorbei, aber hammerhart, dann kann er von mir aus die Göre vom Schulhof abholen und mit ihr segeln gehen.

Im Verlauf des Abends - ich hatte noch eine Flasche Rotwein in der Hänge meiner Küche gefunden und entkorkt, auch noch ein Gastgeschenk von Therese - machte mir Babsy noch einen Vorschlag, von dem ich zunächst meinte, nicht recht gehört zu haben. Weil ja nun so ein Päckchen Kaffee und die paar Scheine von Therese nicht ewig reichen könnten, meinte sie, und ehe du wieder auf dem Trocknen bist, ich meine, ich könnte dir einen Vorschlag machen. Der Hottie, der ist viel zu blöd für so was. Ich meine, warum sollen wir bloß immer zugucken, wenn die anderen sich ein Stück vom Kuchen abschneiden, hast du das von diesem Banker gelesen . . .Ich hatte im Verlauf des Abends begonnen, die Fleischerfriseuse verlockender zu finden, als ich mir eingestehen wollte, und fast so wie es Anke unterstellt hatte. Übrigens, diesmal war ihr Haar schlicht schwarz, soweit ich sehen konnte, ohne jede Tönung. Höflich und entschieden, wie ich dachte, lehnte ich trotz alledem ab und sicherte natürlich Stillschweigen zu.

 

 

Wir trennten uns in bestem Einvernehmen, hätte ich ehrlich in jedem Protokoll unterschreiben können. Ich versprach den Brief anderntags einzuwerfen, was ich auch tat. Zwei Tage später nahm ich die Einladung an und erwiderte ihren Besuch. Sie rasierte mir den Nacken aus und stutzte meinen Bart.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rutschbahn

 

 

Das Quartier der Black Dissers befand sich am nördlichen Stadtrand. Oft konnten wir hier nicht herum streunen, noch nicht ´mal als Liebespaar getarnt. Die sonst immer so Gestylte war übrigens kaum wiederzuerkennen: Jeans und Kapuzen-Shirt, die Haarpracht im hoch gebundenen Zopf unterm Basecap versteckt. Ich staunte, wie ernst sie die Sache nahm, eine Art weiblicher Egon Olsen, witzelte ich. An der Straßenbahnhaltestelle fielen wir nicht weiter auf und konnten einen unauffälligen Blick auf das Objekt werfen. Babsy war dort früher als Sozia Hotties gern gesehen gewesen und wusste ein bisschen Bescheid. Die Black Dissers waren ursprünglich eine Truppe technikbegeisterter Jungens gewesen, die sich regelmäßig trafen, um an den Maschinen zu schrauben und Erfahrungen und Teile zu tauschen. Das leerstehende Haus hatten sie einfach besetzt und später günstig pachten können. Die Truppe zerfiel, so erzählte Babsy, mit den Jahren immer deutlicher in zwei Fraktionen. Allen war gemeinsam, dass sie sich für einen heißen Ofen interessierten, das konnte genauso der russische Nachbau eines BMW-Motorrads, also eine Ural, wie auch eine Java aus der DDR und natürlich immer eine Harley sein. Was als Spaß und Spleen in der Freizeit begonnen hatte, wurde so teuer, dass es sich etliche Mitglieder der Gang bald nicht mehr hätten leisten können. Am Wochenende waren Familienväter dabei, die noch ´mal eine kleine Tour fahren wollten, die wurden wohlwollend geduldet und durften, wenn sie abends am Grill ´ne Runde spendierten, von ihren wahren oder erfundenen Abenteuern bei den Rennen am Schleizer Dreieck oder anderswo schwadronieren. Ein Sportlehrer tauchte auf, der als Freak galt, der Australien durchquert hätte und angeblich wäre er so schnell durch den afrikanischen Kontinent gepustet, dass er überhaupt nicht mitbekommen hätte, wo zu dieser Zeit Bürgerkrieg war. Wenn sich montags der harte Kern traf, war Schluss mit lustig: Ulf-Gernot aus Braunschweig kommandierte; sie organisierten Wachschutz für Veranstaltungen, fuhren eilige Kurierdienste und hin und wieder verschwand schon mal die Maschine einer gegnerischen Gang, die sich auch in Einzelteilen locker verscheuern ließ. Wenn eine entsprechende Anfrage ´rein kam, wurde auch mal irgend so ein Pisser, der nur Ärger machte, verprügelt. Mord und Totschlag allerdings war bei den Jungs nicht drin, hatte mir Babsy versichert, und ich hoffte, es war nicht nur so dahin gesagt, um mich zu beruhigen. Als wir das Objekt beobachteten, aufklärten oder wie hieß das doch im guten Rotwelsch: ausbaldowerten, sah ich zunächst nichts weiter als ein Bauernhaus zwischen Wegwarte und kanadischer Goldrute. Bestimmt eine Falle, überlegte ich, die Dissers würden mich erst windelweich schlagen und die Bullen mich Hausfriedensbrecher danach aus Barmherzigkeit am Med-Punkt der U-Haft abgeben. Aber noch war ja nicht mehr passiert als ein harmloser Spaziergang durch die versteppte Brache hinter dem Rundbau der Endhaltestelle. Über Babsy staunte ich immer mehr. Nicht weit von der Haltestelle war ein Imbiss, wir standen allein, als ich halblaut zu ihr sagte: Und du meinst, das geht glatt? Du, ich habe Bammel, wenn was schief geht, zerlegen die uns in noch kleinere Teile als Hotties Maschine.

Nicht hier, flüsterte sie und zeigte auf die Kamera, die haben jetzt auch oft Mikro dran, und ein Imbissbudenbesitzer, erklärte sie mir, nach dem wir außer Reichweite waren, der hält im Zweifelsfalle immer zu den Rockern, weil die eine Kundengruppe sind, Impulsgeber, verstehst du?

Ich verstand überhaupt nichts mehr, war das noch dieselbe, die vor drei Tagen zu unbeholfen war, einen einigermaßen vernünftigen Brief an ihren Verflossenen im Knast zu schreiben?

Vom Gartencenter des Baumarktes hatten wir einen noch besseren Ausblick auf das Fachwerkhaus, ein altes Bauernhaus, das um die vorvorige Jahrhundertwende, als die Gegend Vorstadtcharakter anzunehmen begann, einen kleinen Laden und einen Ausschank im Erdgeschoss eingebaut bekommen hatte. Das Fachwerk schien nicht sehr gepflegt zu sein. Im Dachgiebel gab es Felder, die ich hätte wahrscheinlich mit bloßer Hand einschubsen können. So ein Fachwerkhaus konnte, besonders wenn der Hausherr die Balken aller fünf bis sieben Jahre mit einem Gemisch aus Terpentin und Leinöl tränkte, fünfhundert Jahre und länger stehen. Wenn allerdings das Nachbargebäude abgerissen wurde und die vielleicht zwei, dreihundert Jahre vor jeder Witterung geschützten Lehm-Vierecke frei standen, sog sich der trockene Lehm in der nächsten Regenperiode mit Wasser voll und wurde schwer, kein Jahr vorüber, dann polterte alles raus. Wer würde sich schon die Mühe machen, die Giebelwand der alten Bude zu verputzen oder wenigstens mit einer Plane abzuhängen, war ich in Gedanken und hatte nicht zugehört, Babsy musste jetzt irgend eine komische Geschichte von einer Buntnessel und ihrer Gießkanne aus dem Kindergarten erzählt haben. Eigenartig kasperte es in meiner überforderten Zentrale unter dem von der Friseuse verkürzten Bürstenhaar. Ach Babsy, sie war aus vielen Gründen eigentlich überhaupt nicht mein Typ. Außerdem, einer von diesen Gründen war zwar gerade eingesperrt, aber sicher nicht für ewig, und ihr Hottie war es gewohnt, einen möglichen Konkurrenten nach Friedhof oder Krankenhaus zu sortieren.

Die Luft hier roch auch nicht gerade fein, nämlich nach Auspuffgasen abfahrender Omnibusse und übrigem Kraftverkehr. Los, sagte ich. Nichts gegen deine Buntnessel, aber je länger wir hier abhängen, desto weniger aussichtsreich. Du kennst die Jungs, also marschiere jetzt zur Tür, klingle mal, lass dir was einfallen, frag nicht nach der Maschine, sondern erzähl denen nochmal, dass Hottie im Knast ist. Hast du seinen Brief mit? Na gut, die Handtasche war zu Hause geblieben, trotzdem drängte ich: Na los, wenn sie da sind, hat sich die Sache erledigt.

Sie jammerte noch ´ne Weile, immer müssten heutzutage die Frauen die Kastanien aus dem Feuer holen, Kavaliere der alten Schule gäbe es eben nicht mehr und die da drinnen, die würden versuchen sie abzufüllen, auf den alten Kumpel im Knast einen trinken und dann die Alte flach legen, solche wären das.

Als ich ihr Recht gab und anbot, die ganze Angelegenheit einzustellen, wir würden einen Ausflug machen, mein Kleingeld müsste noch für eine kleine Kugel Eis reichen und so weiter, da war sie ganz schnell zum Erkundungsgang verschwunden. Länger als zehn Minuten brauchte ich an der Endhaltestelle, dem Umsteigepunkt für den Nah- und Regionalverkehr nicht im Abgasnebel zu warten, aber für eine unangenehme Überraschung reichte es noch. Bodo Schaller schritt aus einer der Straßenbahnen, hatte ´nen leichten Camping-Rucksack geschultert und schlenderte ´rüber zum Wartebereich der Busse, die bald zur hoch-subventionierten Trödelfahrt durch die Dörfer unseres Landkreises abfahren würden. Es begann zu tröpfeln und ich würde noch verdächtiger aussehen, wenn ich die Sonnenbrille nicht absetzte. Noch stand Bodo mit dem Rücken zu mir, zwei junge Damen schienen ihn zu magnetisieren, viel jünger als Anke. Die Mädels kicherten und alberten herum, wenn deren Bus noch eine Weile ausbleiben würde, würde Bodo vielleicht nicht die Zeit haben, sich um zu gucken, hoffte ich . . .

Bald zupfte Babsy an meiner Regenjacke, die ich mir inzwischen übergehängt hatte und wisperte: Komm, scheint keiner da zu sein. Auch sie hatte ein Regencape dabei. Der beginnende Sommerregen bot so ganz guten Anlass zur Verkleidung, ein blauer und ein grüner Tupfen am Feldweg entlang, mehr würden die wenigen Spaziergänger, die noch nicht abgefahren oder vor dem Regen geflüchtet waren, nicht zu sehen bekommen. Trotzdem guckte ich nochmal vorsichtig über die Schulter, Ankes neuer Freund war nicht mehr zu sehen. Im beschädigten Fachwerk gab es ein Loch, das ich nur vergrößern brauchte. Die Lehmfüllung puhlte und kratzte ich mehr mit der Hand raus, als dass ich sie ´rein schubste, ein viel größeres Problem war die wacklige Leiter, die meine Komplizin nicht richtig sicherte und was ich noch schlimmer fand, wenn sie von mir nicht mit entschiedenem Zischen zum Verstummen gebracht worden wäre, hätte sie mit ihrem ungeduldig blöden Fragen, was nun los sei und ob ich schon was erkennen könnte, noch meinen Namen herum posaunt, denn ihr Flüstern war eins von der Art, das man meilenweit hören konnte. Dabei hatte sie mir doch eben am Imbiss noch gewichtig erzählt, dass man überall mit Mikro und Abhöranlagen rechnen musste. Schließlich hatte ich es geschafft und hievte das Schwatzmaul hinter mir herauf. Wie verabredet, zogen wir die Wintermützen, in die wir uns Sehschlitze geschnitten hatten, über unsere Köpfe, weil schließlich wirklich überall eine Kamera sein könnte, auch wenn der staubige Dachboden nicht gerade nach Hightech aussah. Sie streifte sich Handschuhe über, mir blieb nur, meine T-Shirt-Ärmel über die Hände zu zerren, denn meine Gummihandschuhe hatte ich beim herauspolken des verkrusteten Lehms aufgerissen. Außer Staub und Taubenkot, die Nester hatten sie immerhin entfernt, gab es auf dem Dachboden nichts, nur eine Luke. Vorsichtig ließ ich mich herab gleiten, wobei Babsy nach rutschte und mir schmerzhaft genug auf den Kopf trat. Immer noch aus Angst vor technischer Überwachung verständigten wir uns jetzt nur noch durch Gesten. Irgendwas stimmte mit meinen Sehschlitzen nicht, ich schwitzte unter der übers Gesicht gezogenen Mütze, die mir die Orientierung erschwerte. Hier gab es eine alte Kommode, Fahrradrahmen und ähnliches Gerümpel, in handliche Päckchen verschnürte Tageszeitungen, wahrscheinlich noch vorbereitet für den Ausflug zur Ankaufsstelle, dem Rumpelmännchen, für das wir als Kinder Altstoffe gesammelt hatten. Hinter vergilbten Stapeln des einstigen Zentralorgans, der sich Neues Deutschland nennenden Zeitung der alten Republik, sah ich nicht, wie vermutet, eine weiter Bodenluke, sondern ein wackliges Treppengeländer. Ich ließ der Dame den Vortritt. Meine vorgestrige Höflichkeit bewirkte für Babsy ein verletztes Bein. Schweinebacken, fluchte ich flüsternd und starrte immer noch fassunglos, mit einem grusligen Quietschen hatte sich das harmlos scheinende Treppchen in eine Rutschbahn verwandelt. Auch weil ich Frauen nicht weinen hören kann - wer mag das schon - rutschte ich eilig hinterher. Für mich war es nun nicht mehr schlimm, die schiefe Ebene der heimtückisch umgeklappten Treppe herunter zu rutschen, nur meine Jeans schnarzte auf und das Regencape riss ich auch ein.

Der vor Schmerzen wimmernden Babsy schob ich meinen Rucksack als Kopfkissen unter und bat sie möglichst still zu sein. Das kleine Zimmer enthielt außer einem eisernen Bettgestell und einem Wandkalender mit Vincents nicht ganz unbekannter Sonnenblume keinerlei Inventar. Die Tür hätte für mich vor kurzem noch harmlos ausgesehen, schöne Türklinke, vielleicht Biedermeier, leider der Beschlag überstrichen, hätte ich gedacht, aber nun schien mir Vorsicht geboten. Mein Herz klopfte bis zum Sehschlitz, ängstlich drückte ich Millimeter um Millimeter die Klinke herunter, stand seitlich so weit wie möglich weg von der Tür, denn ich erinnerte mich eines Films, in dem das Öffnen der Tür über einen Mechanismus, ähnlich simpel wie der, der die Treppe zur Rutschbahn gemacht hatte, einen Revolver abfeuerte.

Die Tür schwang – ich zitterte – mit einem Quietschen auf. Vorsichtig betrat ich eine weitere kleine Treppe, die nachfederte, und – nichts passierte. Es roch muffig und nach verschimmeltem Abwasch, bisschen Lederzeug und rostige Teile lagen verstreut, ein Hammer mit zerbrochenem Stiel, Schraubschlüssel, ´ne Handpumpe. Als Tresenschrank ein altes Buffet, leere Flaschen, Biergläser, auf ´nem Poster leuchteten die Augen eines blonden Girls, das sich lässig an eine Zapfsäule lehnte, deren Armaturen Vorkriegsjahre anzeigten. Mit—tä—te--rin, entschloss ich mich zu rufen. Hier ist nichts, Entwarnung, die Vögel sind ausgeflogen. Sie kam dann die Treppe herunter gehumpelt und setzte sich auf einen der Kneipenstühle, auf meine Frage, ob es noch weh tue, antwortete sie: Halb so schlimm!

Die waren jedenfalls schon lange hier weg, weder Hotties Motorrad, noch sonst was würde es zu holen geben. So´n Pech aber auch, resümierte Babsy, die sich ihr Bein massierte. Mir wäre jetzt nach einem Drink zumute gewesen, in dieser Hinsicht hatten die Black Dissers ihr Quartier vorschriftsmäßig aufgeräumt, nicht mal ein Wasser war übrig geblieben. Gerade wollte ich trösten und sagen, macht nichts, du kannst nichts dafür, als ich an der Haustür klinkte, sie war offen. Babsy hatte gebimmelt und geklopft und dann noch, wie sie mir versicherte, wie eine Irre ans Fenster getrommelt, schon um sicherzugehen, aber geklinkt hatte sie jedenfalls nicht. Wir durchstöberten dann noch alle möglichen Schränke, Kisten und Kästchen. Na so was, wunderte sie sich: Das ist ja ein Feuerzeug mit Reklame aus unserm Salon. Kann nur Hottie hier liegen gelassen haben. Auch das Feuerzeug war leer. Ich entschloss mich für einen Korkenzieher und wickelte eine fast noch neuwertige und saubere Pfanne ein. Mein Gott, Babsy hatte von Geldversteck und schwarzer Kasse spintisiert.

Ein Modellmotorrad stand noch im Glasfach, war aber offensichtlich nur da gelassen worden, weil es angebrochen war. Irgendwer musste hier den Modellbaufreak gegeben haben, in einer Kiste fand ich den Bausatz für das Segelschulschiff Wilhelm Pieck, was ich ihr gegenüber nicht erwähnte, auch wenn ich das Gesicht abwenden musste, um sie mein Grinsen nicht sehen zu lassen. Babsy packte sich ein Kochbuch ein, weil ihre Mutter welche sammelte, wie sie meinte.

Unter diesen ungewöhnlichen Bedingungen entschlossen wir uns, die unpraktischen Mützen mit den Sehschlitzen gleich am Tatort in der Mülltonne zu entsorgen. In der Diele entdeckte ich einen gelben Regenumhang, den tauschte ich gegen mein kaputtes Regencape. Draußen schien die Sonne auf feuchtes Laub. Hornissen surrten um morastigen Kompost vom Vorjahr. Babsy pflückte eine Pusteblume, wir wussten ja Bescheid, die konnte man nicht verschenken, die gehörte allein dem Wind. Obwohl meine Begleiterin etwas das Bein nachzog, würden uns die Passanten sicher für ein harmloses Spaziergängerpärchen halten, sicher, meine Jeans war auch am Sonntagnachmittag zerrissen, aber ich war eben ein Gammler, ein Assi, der sich nicht mal in Gegenwart einer Frau anständig kleidete, das würde im Buschfunk unserer Kleinstadt kaum eine Neuigkeit sein. Auf dem Heimweg nickte sie in der Straßenbahn ein, so dass ich sie anstupsen musste, ihrem Mündchen waren sanfte Schnarchtöne entwichen. Wir hatten kein einziges Wort mehr gesprochen, aber zum Abschied gab sie mir ein Küsschen auf die Wange.

 

 

 

Mohnbrot bei Hungersnot

 

 

Auch wenn alles so chaotisch verlaufen war, mehr als zwei Telefonate hatte es nicht gebraucht und vierzehn Tage später waren wir beide zusammen auf Tour. Es war rammelvoll im Regional-Express, in dem auch Babsy und ich mit dem günstigen Wochenendticket reisten.

Sauerstoffarme Luft, verschwitzte Klamotten, verkrampfte Sitzhaltung und Rauchverbot hatte ich ja gern in Kauf genommen. Es gab selbstverständlich ein, zwei Schwiemel, die das Gespräch mit ihr suchten. So nach dem Motto: Wissen sie, ob der Zug in Bad Vorwand Aufenthalt hat, ich darf den Anschluss nicht verpassen . . .

Aber, das war vergleichsweise harmlos gegen die öffentliche Beichte. Der Mittdreißiger erzählte jetzt seiner verständnisvollen Freundin, wie sie ihn im Betrieb zur Rede gestellt hatten. Ineffektiv hatten sie gesagt und ihm sozusagen die Negativ-Liste, das Unerledigte vorgehalten. Armer Kerl, dachte ich noch, während Babsy schon zu feixen begann. Aber warum erzählte der auch, den ich nun fast nicht mal mehr Unbekannten nennen konnte, so laut, so überaus akzentuiert? Rührend, wie seine Freundin zu trösten versuchte, die anscheinend unter ausgedünnten Haaren litt, die mit Eigenhaarteil aufgesteckt waren, wie mir die Friseurin, dabei Pfannkuchenglasur auf mein Ohr verschmierend, geflüstert hatte. Babsy schwitzte wie alle andern, ihr Strandkleid jedoch erinnerte von der Farbe und den Motiven an Strandhafer, während ich und wahrscheinlich die Mehrheit aller Mitreisenden es eklig empfanden, ihren Körperschweiß im ruckelnden Regionalexpress heraus zu schwitzen, duftete sie nach Strand und Weizenfeld. Neugierig wie ich war, vermutete ich irgendeinen geheimnisvollen Flacon, ein Spray. Aber nichts da, oder bluffte sie, gab vor Kölnisch Wasser zu benutzen, eine Marke, die ich intuitiv auf der Frisierkommode im Schlafzimmer ihrer Mutter vermutet hätte. Also Danny, Teufel noch ´mal, jetzt wusste ich auch noch wie er hieß, der Mitreisende, dabei hatte er Glück, seine ihm gegenüber sitzende Freundin patschelte ihm die Hände, Danny hatten sie zuerst nur gemobbt, jetzt hatte er keinen eigenen Büroschlüssel mehr. Schwungvoll durch die Glasdrehtür, wehenden Mantels zwei Treppen - das war gestern, statt dessen nun jeden Werktagmorgen die bange Frage: Bin ich zu früh? Wenn er zu früh da wäre, dann würde der Gebietsleiter nicht da und die Tür noch zu sein. Er würde leicht ratlos wirkend herum stehen müssen, bis der Vorgesetzte ihm aufschließen würde, würde neben dem Azubi stehen und warten . . . Aber dieses Problem erledigte sich bald, sie hatten ihn gefeuert.

Endlich aussteigen! Danny und seine Braut unterhielten sich weiter, noch vernahm ich ihre in der Entfernung verklingenden Stimmen. Babsy kommentierte: Armer Kerl, lange wird ihm das Häschen nicht mehr die Pfötchen tätscheln und, hast du gehört wie sie über die Hilfe für ihn, die Projekte des Arbeitsamtes zu sprechen begann, hast du das gehört?

Nun begann sie unseren ausgesprochen nicht für Zuhörer bestimmten Dialog:

Und jetzt?

Jetzt geht es gleich los, aber bitte ohne Zeugen.

Und wir drehen was und brauchen keine Waffe, hast du gesagt?

Nur List und Tücke, antwortete ich. Heute Abend wird uns der Zimmerservice eisgekühlte Getränke servieren und über dem rauschenden Ozean werden am nachtschwarzen Piratenhimmel die Baedeckersterne unseres Hotels leuchten - ein Hotel, wo solche wie Danny nicht mal als Liftboy zugelassen werden. Gemein, was?

Wieso, Niveau sieht nur von unten wie Arroganz aus, lachte Babsy.

Wir sind wirklich nicht oben . . .Wir sind nicht oben, wir fliegen das Objekt unserer Begierde seitlich an, versuchte ich ihren Höhenflug abzubremsen.

 

Es war dann in einem dieser gemütlichen Mittelklassehotels, in dem die Rezeption noch mit dem Vormerkbuch hinter dem Tresen auskam, in dem ich das Telefon läuten ließ. Die Wirtin würde die höfliche Stimme von Dr. Borgmüller gleich sympathisch finden, hoffte ich und könnte denken, wie fein der sich auszudrücken versteht: Er habe vergessen zu disponieren. Nadine Kormann und Herbert Waldmüller, zwei Kollegen, die würden hier zum Symposion erwartet, ob da noch eine Möglichkeit bestünde?

Und ob, dachte die Wirtin, blätterte aber doch geräuschvoll das Vormerkbuch um und nickte Erwin zu, der mit übereinander gehaltenen Händen noch eine Halbe und mit Daumen und Zeigefinger ein kleines Gläschen andeutend, einen Spaßmacher, wie er gesagt hätte, einen doppelten Kirsch signalisierte. Ein Doppelzimmer wurde uns angeboten, jetzt war es für mich Zeit zu signalisieren, soll heißen, ich legte die Hand auf die Hörmuschel und sagte: Tschuldige, die haben nur ein Doppelzimmer, geht das? Babsy nickte und danach vereinbarten die Wirtin und ich, dass wir den Aufenthaltszeitraum noch nicht exakt festlegen würden, vor allem nicht den Tag der Abreise, das Zeitfenster, säuselte ich und dankte, ehe die letzte Münze klackte. Babsy hatte sich in der engen Telefonzelle nach der Mitteilung Doppelzimmer fast an mich geschmiegt, oder täuschte ich mich.

Wieso denn Borgmüller?

So heißt der nette Kollege, der die Teilnahme von uns zwei beiden Pharmavertretern organisiert, in Rostock, verstehst du. Ach so, und jetzt sprich mir nach: Ich heiße Nadine Kormann!

Gehst du als Transvestit, dass du Nadine heißt?

Hör mit dem Quatsch auf, du wolltest doch unbedingt was drehen, das muss jetzt stimmen, nicht ich, du heißt Nadine und wenn du unterschreiben musst . . . - aber das üben wir noch.

Nadine Kormann also, und du?

Ich heiße Herbert Waldmüller, wir kommen aus Leipzig.

Nachher müssen wir uns die Postleitzahl von Leipzig-Plagwitz einprägen. 04229, hörst du, die Nullzweiundvierzigneundundzwanzig. Musst du dir merken, das ist nun mal so, solche Tricks sind harte Arbeit. Wir können es natürlich noch lassen . . .

Und dann?

Und dann?, äffte ich genervt zurück. Schlafen wir eben am Strand, haben zusammen noch dreiunddreißig Euro, ich sieben, du sechzehn. Postleitzahlen und Straßen brauchst du dann auch nicht mehr lernen, wird der Wachschutz schon im Ausweis lesen, dass wir zwei beiden eigentlich vons Dorf kommen.

Ist ja schon gut, ich geh mal mich frisch machen. Schreibst du mir den Straßennamen auf, den lerne ich dabei.

Ich schreib nur was auf, wenn du hoch und heilig versprichst, den Zettel nachher zu vernichten, klitzeklein.

 

 

 

Is doch jeden Tag dasselbe, meinte Erwin zur Wirtin.

Von wegen, nachher kommen Gäste, von der Firma Medikur aus Leipzig, wollen hier zu einem Kongress.

Was hier?, wunderte sich der Stammgast schwerfällig, so dass die Wirtin leicht genervt antwortete: Na, nu nich doch hier, in Rostock.

Ah so, gähnte Erwin, aber den Namen Medicur würde er nicht vergessen, die Wirtin wahrscheinlich auch nicht.

Ich saß währenddessen in Bad Kleinen auf der Bank und wollte versuchen, nochmal alles durchzugehen, eben den Plan zu checken. Babsy kam zurück. Haste dich hier verschrieben, der heißt doch Heinrich, der Dichter, Heinrich Heine?

Mag schon sein, wir tun aber so als wohnen wir in der Karl-Heine-Straße, das war ein Industrieller aus der Gründerzeit, so ein Pionier, der hatte Fabriken und Häuser und eine Bahnstrecke von Leipzig bis Zeitz bauen lassen, vor allem aber den Elster-Saale-Kanal oder zumindest zweieinhalb Kilometer davon, darauf sollten die Schiffe von Leipzig bis zum Meer fahren können, wurde aber nicht vollendet, nun ist es hübsch für Spaziergänger und Liebespaare, kannst du dort im geblümten Bikini auf der Wiese lümmeln . . .

Ich trage nie einen geblümten Bikini. Ist also nüscht geworden mit dem Kanal? Ach so und das muss ich alles auswendig lernen?

Wenn es möglich wäre, aber bitte immer nur sprechen, wenn einer wirklich danach fragen sollte, je weniger wir erzählen, desto weniger verhaspeln wir uns. Wer die Zimmer nicht zahlen kann, muss sich reserviert geben, verstehst du?

Babsy nickte nachdenklich.

Ich wollte, dass sie diesen Strandfummel, mit dem sie schon seit Wittenberg diesen Trotteln im Regional-Express feuchte Augen machte und missbilligende Blicke von Geschlechtsgenossinnen verursacht hatte, endlich auszog, sich statt dessen seriös kleidete. Sie sah das auch ein und verschwand zur Toilette.

Immer wieder dasselbe! Ein Seesack verdunkelte mir den Ausblick. Bieratem waberte, ältere Tätowierungen sah ich und hörte: Immer dasselbe, Schlamperei, wenn ich der Bürgermeister von Bad Kleinen wäre, ich würde mich schämen. Dabei könnte man doch hier ´ne Menge machen, nicht mal Mitropa haben die.

Da saß ich auf der Bank und in der Falle, zu viel Gepäck, um gleich so weg zu schlendern und nun bekam ich den Redeschwall ab. Muss nach Eberswalde, nur duschen und umziehen, dann fahre ich gleich wieder zurück. Zeitarbeit! Na was soll´s, irgend woher muss es ja herkommen. Und du?

Ich fahre nach Rostock, antwortete ich und guckte demonstrativ zur Seite.

Rostock, auch nicht schlecht, na Montag gehts ab in die Niederlande, nach Utrecht, die zahlen ganz gut, aber miese Quartiere, und saufen tun die da, die Polen, die saufen ja alle Schnaps. Kommste mit nach Eberswalde? Ich bin überhaupt der einzige Deutsche dort in der Truppe. Kann dich mitnehmen: Gute Arbeit, gutes Geld! Ist doch ein faires Angebot heutzutage. Hast doch keine Arbeit,oder?, so sprach der und guckte abschätzig auf mein Gepäck. Das hatte ich schon öfter bemerken müssen, dass sie heutzutage jeden, der mit Rucksack verreist, aber es genügte auch schon, in der Stadt mit reichlich Gepäck unterwegs zu sein, sofort für einen Penner hielten. Ich holte die Schachtel Dunhill raus, die ich im Magdeburger Bahnhof auf der Treppe gefunden hatte und zündete mir die Zigarette so an, dass er meine fein geschnittenen Nägel, die dünnen Finger sehen konnte. Hab schon Arbeit, bin Pharma-Referent bei Medicur, wir verkaufen Stimmungsaufheller, die den Nahrungsmitteln beigesetzt werden, das ist der neue Trend, gab es schon mal im Mittelalter: Mohnbrot bei Hungersnot!

Ach nee, da bleibe ich lieber bei dem hier, hüps ein Lübz! Bist wohl ein Junkie, oder was? Ich trinke abends immer mein Bier, da habe ich keine Probleme. Also, wenn du willst, ich könnte dich mitnehmen nach Ebs und morgen ab in den Bus, die halten zwar nicht gerade auf uns Deutsche, die Mienherrs, aber zahlen tun se gut. Und so ein zwei Hunnies extra, kannste doch auch gebrauchen, jetzt ist Pflückersaison, oder Kataloge portionieren.

Er teilte mir dann noch mit, dass er mir leider keins von seinen Lübzer Bieren abgeben könne, da es sein drittletztes sei und interessant fand ich schon wieder, welche Grunzlaute er von sich gab. Irgendwie rundete sein Grunzen nach dem tiefen Schluck die Erlebnisse im Regionalexpress ab – Reisende als Kollektiv in nahezu zwanghafter Intimität. Babsy stöckelte heran und das Kostüm, das sie jetzt trug, dunkelblau und züchtig, wirkte genau so distinguiert á la mittleres Management, wie ich es mir gewünscht hatte.

Was, mit so ´ner Braut ziehste ´rum, hätte ich dir gar nicht zugetraut.

Nach diesem letzten Kommentar ließen wir den verdutzten Ebs einfach samt seinem Bier, Seesack und Zeitarbeiter-Erzählung zurück.

 

Sie hatten kein Empfangskomitee, ich hatte sowieso vergessen, die Reisetasche und vielleicht noch ´nen billigen Koffer als Attrappe mit Lumpen oder alten Zeitungen zu beladen, dabei hatte ich mich sogar drauf gefreut gehabt, mal in ´ner fremden Stadt im Müll zu buddeln. Babsy war stolz, dass sie an den so genannten Diplomatenkoffer gedacht hatte.

Aha, rauschender Ozean und wie hieß das noch mal, Bäh äh, dicker Stern oder Batic-Stern. . ?, tänzelte sie. Am liebsten hätte ich wie ein gestresster Ehemann mit Halt´s Maul! geantwortet, denn, wenn das hier nicht funktionierte, dann saßen wir in der Tinte, fast das ganze Geld war fürs Taxi drauf gegangen. Aber es rollte, strahlende Wirtin, nur ein Gast bei Bier und rotem Likör, wahrscheinlich Kirsch. Sie müssen der Herr Dr. Waldmüller und sie Frau Nadine Kormann sein, empfing uns die Wirtin. Ich zeige ihnen gleich ihr Zimmer. Sie haben einen wundervollen Blick auf den Park!

Danke, geht schon!, wehrte ich die freundliche Nachfrage, ob wir Hilfe bräuchten ab. Wir haben nicht so viel Gepäck dabei, ist ja nur eine kleine Konferenz. Höflich nahm sie den Gesprächsfaden auf: Ja der Herr Borgmüller, der hatte sie schon avisiert. Ein Wort das bei ihr fremd klang. Früher, erfuhr ich, hatten sie hier ein Urlauber-Kontingent vom FDGB, einer Art Gewerkschaftsorganisation der alten Republik, die für die Arbeiter aus den Betrieben massenweise Ferienunterkünfte organisierte, zu versorgen gehabt, hinter dem Hotel waren dafür noch Baracken angebaut gewesen. Schade, ich mochte die alte Dame, deren Mutter das Hotel schon gehört hatte, die aber doch mit dieser Saison aufgeben würde: Zu groß für mich, das Alter und dann, sie werden entschuldigen, hier muss modernisiert werden. Die Formulare für die Anmeldung legte sie gleich im Zimmer auf den Tisch: Können Sie nachher ausfüllen, wenn sie Zeit haben.

Wirklich ein nettes Hotel, im Schrank gab es Nähzeug, dieser kleine Pappkoffer zum aufklappen, in dem dann die Nadeln sind und etwas aufgewickeltes Garn. Sogar Hotel-Briefpapier hatte sie drucken lassen. Die Zimmer waren tapeziert und ich sah nicht gerade Designer-Möbel, aber für unsere erste Übernachtung würde es reichen.

Ein knappes Stündchen nach unserer Ankunft schaute ich runter zum Tresen, die Wirtin schien leicht eingedöst zu sein und blinzelte:

Wollen sie den Ausweis noch sehen, oder? Ich klopfte mir demonstrativ suchend die Taschen ab. Ach, ich bitte Sie, nicht nötig, ist ja nur für die Unterlagen, heutzutage. Ich überredete Babsy, lieber auf dem Zimmer Krümelkekse zu essen und dazu vom Rest des Automaten-Getränks zu trinken. In der Dämmerung unternahmen wir dann später noch einen schönen Spaziergang, die Luft, oder bildete ich mir das nur ein, schmeckte hier schon nach Meer. Babsy trug wieder ihr Strandhaferkleid.

Stimmt´s, das ist alles nur ein Spiel? Genau, und wer verliert bekommt nicht eine schwarze Stupsnase, sondern muss ins schwarze Loch.

Quatsch Loch, erzähl noch mal, wie hatte der Liedermacher das genannt, von dem du mir neulich erzählt hattest, das hatte mir viel, viel besser gefallen.

Das war ein Lied über das Gefängnis auf Jiddisch gewesen, Jiddisch ist auf die Reise gegangenes Deutsch, habe ich mal gelesen, deshalb rührt uns das so an, weil wir die Reise im Klang mithören können. Das Gefängnis hatte da Stillepenn geheißen, das Stillepennschnufflied.

Schade, dass wir da nicht zusammen in eins können, ins Stillepennschnuff, sprach´s und küsste mich. Wir hörten die Frösche quaken, Wellen platschten, der See schickte seine Stechmücken, doch selbst die piesackendste Schnake hätte mich nicht weiter gestört.

Nach dem reichlichen Frühstück am andern Morgen winkte die Wirtin uns nach. Vielleicht hatte sie alles gewusst?

So was gab es manchmal, mütterliche alte Damen, die alles schon wussten. Vielleicht hätte sie auch gedacht haben können: Was soll´s, der Iwan hat damals alle Eier mitgenommen und die Betten noch verfeuern wollen – auch ohne zu bezahlen.

Du, ob die was geahnt hat?, flüsterte Babsy. Wir fuhren im Regionalexpress und sie kuschelte an meiner Schulter. Wir schicken, murmelte sie, eine Karte, wenn wir in der Südsee sind, eine Karte und ein Päckchen mit einer riesigen perlmuttglänzenden Muschel, einer Wünschmuschel.

 

 

 

Trittchen für Babsy

 

 

Rostock schien reich geworden zu sein, mit der Straßenbahn fuhr man direkt vom Untergeschoss des chicen Bahnhofs heraus in die chice Stadt.

Siehst so offiziell aus, fragte ich Babsy, die jetzt ein ganz züchtiges, schwarzes Kostüm trug. Quatsch, ich wollte nur wie Medicur aussehen, antwortete sie mir.

Ich brachte es nicht übers Herz ihr zu sagen, was jedes Kind eingetrichtert bekommt: Lügen haben kurze Beine. Wir konnten natürlich nicht noch mal treuherzig als Nadine Kormann und Dr. Waldmüller von Medicur anklopfen, da pisste sich ja der Hoteldetektiv vor Lachen ein. Sie bettelte: Svenja, ich will Svenja heißen, bitte . . .

Gar nichts wirst du heißen, versuchte ich es und gab ihr einen Kuss. Bist mir viel zu auffällig und außerdem, so eine wie du, die sollte lieber draußen bleiben und das Stillepennschnufflied bei rotem Wein zur CD mitsingen, na ja und mir dann hoffentlich ab und an Briefe schreiben. Dabei musste ich daran denken, dass ich ihr noch vor paar Tagen geraten hatte, den inhaftierten Hottie nicht unnötig mit jeder Wahrheit zu konfrontieren.

Ich bat sie, in der Lobby Platz zu nehmen, und sagte an der Rezeption mein Sprüchlein auf vom Kollegen, der wohl angerufen, mich avisiert habe, fragte nach, ob sonst noch Nachrichten für mich hinterlegt wären. Die konnten sich an das Telefonat nicht erinnern, eine Vorreservierung wäre aber ohnehin zur Zeit nicht nötig, ob ich vielleicht eine Kreditkarte . . .? Ich wollte schon mit - leider noch im Wagen, muss ich mal eben mal schaun - meine Ausrede und den Rückzug starten, als ich mich selber zu improvisieren beginnen höre: Weiß gar nicht, wo habe jetzt nur die hin gesteckt? Ich weiß, lieber Staatsanwalt, ach nein, lieber Leser, ich bin, also gut, ich habe meine Strafe verdient, ich heiße auch nicht Erwin Gomolla, wie ich an der Rezeption angegeben habe. Hab ich dem Saufbold nicht gerade aus der Tasche gezogen, auch keins über den Schädel gehauen, so was mache ich nicht, habe ich nur aus dem Jackett weg gefunden, das Goldeselchen, das Kärtchen. Ich bemühte mich das Aufatmen zu unterdrücken, als ich bemerkte, die Karte wurde akzeptiert und war also nicht gesperrt und von weiteren Identitätserklärungen keine Rede. Ich wolle also bezüglich des Abreisedatums noch ´mal disponieren, gab ich vor, um sie über den Tag der Abreise im ungewissen zu lassen, fragte ablenkend, ob der Pool auch nachts zugänglich sei und erkundigte mich nach dem Theater. Das hatte natürlich im Sommer geschlossen, aber in Warnemünde würde ein Musical gegeben. Alles gut, die Karte also nicht gesperrt, jubelte es wieder in mir. Nächste Woche kommt der Öllermann, hatte mir die freundliche Dame von der Rezeption noch erklärt. Der Öllermann, das war früher, ähnlich wie in Norwegen der Altemann, der Gemeindevorsteher. Der Warnemünder Öllermann wird traditionsgemäß den Fest-Umzug anführen, ließ ich mir alles geduldig erklären, weil es unhöflich, wenn nicht verdächtig wirken könnte, dass ich den Öllermann schon als Kind und Jugendlicher gesehen hatte und meine Idee, dann auch eine andere historische Figur, nämlich den Genossen Erich Honecker von einem Schauspieler darzustellen zu lassen, damit der dem Öllermann zur feierlichen Eröffnung der Ostseewoche wie früher die Hand schütteln könne, behielt ich für mich.

Auf den Gehwegplatten der Strandpromenade sollte unser erster Spaziergang sein, weil Babsy noch keine Trittchen gekauft hatte, keine Badelatschen. Als ob man nicht barfuß durch den Sand laufen könne, dachte ich und versprach trotzdem, ihr welche zu besorgen. Der Sand kitzelt, hatte sie begründet.

Das Meer hüpft bis in den Himmel, freute sie sich, henkelte sich bei mir ein und wir sahen ineinander und es gab nichts, was störte, selbst die Qualmerei stellten wir vorläufig ein. Die weißen Giebel der Strand-Villen leuchteten von ferne durch das Grün der struppigen Kiefern, aus der Strand-Promenade war weiter oben längst Waldweg geworden, wir stiegen immer höher, bis zur bewaldeten Hügelkuppe, von der wir auf das Meer sehen konnten. Sie zählte acht Schiffe, drei davon unter Segeln und in den Wellen schaukelten noch Jollen und Boote. Gischt sprühte, Urlauberinnen hielten die frisch gelackten Strohhütchen fest, die Kinder jagten dem los gerissenen Drachen hinterher.

Von der Stolteraa aus, so hieß die Landspitze, von der wir am Ende des Strandweges auf die Ostsee sehen konnten, liefen wir auf dem Rückweg direkt am Strand entlang. Hoch schwappende Wellen nässten die dünnen Textilien und modellierten die Wölbungen junger Frauen. Höflich wie immer, oder verklemmt wie immer, wandte ich meinen Blick ab und sah auf meine Mittäterin, jetzt liebte ich ihre sanft geschwungenen O-Beine, dieses kleine Huckelchen auf der Nase – alles, alles . . .

Der Wind frischte auf, die Gischt nässte auch den Saum ihres Kleides. Weil diese alberne Maus partout nicht mit ihren Fußsohlen den Sand berühren wollte, trug ich sie huckepack. Später zogen wir uns ganz aus, planschten im Meer herum, dann cremte ich ihr den Rücken ein. Was im Regional-Express undenkbar schien, hier, am FKK-Strand schien kaum jemand Notiz von uns zu nehmen, starrte keiner auf Babsys Oberweite, jedenfalls nicht so unverschämt wie im Zug. Wir begannen Muscheln zu sammeln, schwarze und weiße. Einen Hühnergott, einen Stein, der durchlöchert war, bekam ich von ihr geschenkt. Und das Wunder geschah: Sie lief endlich barfuß durch den Sand. War aber auch höchste Zeit, vom Huckepack tat mir der Rücken weh.

Geschenke waren zum genießen da, das Essen ging auf Zimmerrechnung. Babsy wusste nur, dass ich mich jetzt als Gomolla ausgab, von der abgefingerten Geld-Karte erzählte ich ihr lieber nichts. Nachts noch schlenkerten wir zur von der See abgewandten Seite Warnemündes, wo all die Fischerboote und all die kleinen Jollen und Schiffchen der Hobby-Kapitäne vor Anker lagen. Es reichte noch für einen Cappuccino mit Blick auf den Yachthafen, wir hatten Glück und leichten Jazz. Von der Terrasse nebenan hörte ich allerdings die Stimmen angeheiterter Rentner singen: Hein spielt abends so schön auf dem Schifferklavier, oh ja - ihre Lieder, immer wieder. Die hübschesten Seemannsuniformen sind an Land, wusste einer zu berichten, auf dem Frachter hatte nicht mal der Kapitän eine, der fuhr in T-Shirt und Jeans. Aber wir müssen ja nu nich allens wissen, mien Jung. Liekedeeler sind welche, die leichte Beute machen, wissen wir seit Störtebecker. Morgen oder übermorgen soll es auch für uns Geld geben, falls nicht, werden wir vom Frühstücksbuffet unauffällig die abgepackte Marmelade, den Käse und andere Kleinigkeiten einstecken müssen.

Das Versinken der orange-roten Sonne, die flackernden Lichter auf den schwankenden Schiffen am alten Strom. Ein Lachen klang aus den Gruppen der Teenager vom Teepott herüber, die Brise frischte auf und ich spürte Babsys Lippen auf meinen, dafür allein hätten sich der kleine Zechprell und die mitgenommene Kreditkarte gelohnt, versuchte ich mich zu beruhigen.

In der Nacht aber wachte ich auf, ich verströmte penetrant riechenden Schweiß; Frauen haben für gewöhnlich feinere Nasen, deshalb wollte ich gleich unter die Dusche, so schlummrig sich es auch rekelte im Bett. Was war das - Herzrhythmusstörung? Mir war leicht unwohl und ich begann mich einzelner Traumfetzen zu erinnern. Im Badezimmer brannte bereits Licht. Noch mal runter zum Strand? Ich kann nicht mehr schlafen, sagte sie, da war ich schnell zu überreden gewesen. Früh um Vier schien das Meer unendlich und wie für uns allein schwappten die Wellen. Meinen Alptraum versuchte ich besser zu vergessen, denn in dem waren sie alle präsent gewesen: Gomalla und die Polizei, Therese und Bernd Wilke, haben alle auf mir ´rum gehackt, waren angeblich tief erschüttert, hatten so was nicht gedacht. Babsy lief neben mir her . . . ach was, Babsy hier war wirklich da, zum Anfassen, hüpfte über die poröse Betonstufe, dann über den Steg aus Treibholz, durch den Sand. Da hörte ich das Knattern eines Motorrades, auf dem, wie ich mit Erleichterung wahrnahm, kein Uniformierter saß. Morjen, Männer, versuchte der Mann die Brandung zu übertönen. Ein Trupp Arbeitsloser begann mit dem Einsammeln des Unrats, ein zweite Gruppe damit, die fauligen, braun gewordenen Algenpolster vom Sandstrand zu harken.

Sie schmiegte sich im Gehen an mich und ich spürte ihr Zittern. Weißt du, einmal, als ich im Heim war, da hieß es, wir fahren ans Meer, aber dann bin ich vorher noch verlegt worden, in den geschlossenen Werkhof. Die Jungs, also da gab es welche, die hätten damals alles für mich gemacht, die hatten Heymann, das war so ein mieser Erzieher, der machte beim Sport am Barren und beim Bockspringen, da machte der Hilfestellung und hat, nicht nur mich, eigentlich überhaupt jede, bei der schon bisschen was zu sehen war, hat der angepatscht. Die hatten den Heymann festgehalten und ein Hakenkreuz auf den Rücken tätowiert, das hatte ich gar nicht gewollt, für so einen, da wäre eine Schüssel Klöße genau das richtige gewesen. Also durch die Verlegung und sowieso durch den Anschiss, den wir dann kriegten, öffentlicher Tadel beim Fahnenappell und so, war es dann nichts mit unserer Exkursion, wir sollten erst auf dem volkseigenen Gut helfen und die letzte Woche war da so ein zentrales Zeltlager an der Ostsee. Aber so ist es nichts geworden. Mit Hottie war ich, als dann die Scheißgrenze endlich auf war, in den Alpen und bin ich drüben überall gewesen, na vor allem im Ruhrgebiet bei seinen Verwandten, wir waren auch mal kurz mit dem Auto in Hamburg, aber mehr als vom Autofenster aus hatte ich nicht gesehen.

Für sie war es die erste Fahrt ans Meer. Und ich hätte ihr sagen müssen, dass es höchste Zeit wäre zu packen, die Kreditkarte wäre sicher schon gesperrt und der Hoteldetektiv hatte längst ein Fax, befürchtete ich. Babsy benötigte dringend Sonnencreme, sagte sie, das von zu Hause mit genommene Döschen war nicht nur gleich leer, der Lichtschutzfaktor sei zu niedrig. Handlungsbedarf war also dringend, Geld fehlte selbst für Kleinigkeiten wie Mineralwasser, das sie gern für unterwegs gehabt hätte. Es waren schon relativ viele Gäste anwesend, trotzdem nahm ich vom Büffet wie selbstverständlich eine Flasche mit nach draußen, aber so konnte es nicht weitergehen. Weil im Frühstücksraum immer und überall offene Augen und Ohren sein könnten, verlegte ich die Stunde der kleinen Geständnisse auf unseren Spaziergang. Auf der Strandpromenade erzählte ich ihr von Erwin Gomollas Geldkarte. Keine halbe Stunde später standen wir am Marktplatz von Warnemünde. Babsy, die ich aus der Angelegenheit ´raus halten wollte, wartete auf einer Bank. Ich war an den Geschäften mit allerlei Touristennepp entlang gebummelt, und es war mir gelungen aus einer Verkaufsgondel unbemerkt eine weiße Mütze, obenauf mit einer albernen blauen Bommel, zu fischen. Sie lachte, und obwohl mir mulmig war, flüsterte ich ihr einen Spaß ins Ohr: Vielleicht werden sie mich in der Fernsehfahndung Bommel nennen. Snack mal bitten platt, dachte ich mir und raffte mich zu einem albernen Wat mutt, dat mutt! auf, ehe ich die Pinnummer aus Erwins Zettel eintippte. Zur Zeit kein Zahlungsvorgang möglich, las ich auf dem Display, aber nach einigem Automatengrummeln und Schnarren kam das Kärtchen wieder aus dem Schlitz. Na danke, dachte ich noch, für die Kamera wird es gereicht haben.

Wir spazierten am Yachthafen entlang, einer im Matrosenkostüm versuchte uns für eine Hafenrundfahrt zu animieren, an Bord der Kutter lag Bismarck-Hering und Aal auf lecker zubereiteten Baguettes aus. Babsy schwieg, die Augen versteckt unter ihrer Sonnenbrille, und mir war zumute, als wenn ich die letzte Klassenarbeit vor den großen Ferien verhauen hätte. Ohne uns darüber zu verständigen, liefen wir immer weiter hinaus, ließen die letzten kleinen Häuschen mit den weiß gestrichenen Giebeln hinter uns zurück. Noch konnten wir das Meer riechen, ein Schiffssignal ertönte, von der Werft klangen Arbeitsgeräusche herüber. Gegen Mittag gab ich ihr meine eigene Geldkarte - die Sparkasse müsste am Automaten auch hier oben auszahlen - und bat sie, mal probeweise einen Auszug zu holen, aber das Wunder geschah nicht, oder wie es auf dem Display des Bankomaten zu lesen war: Es wurden keine Umsatzbuchungen vorgenommen! Wir fuhren paar Minuten S-Bahn und stiegen aus, als wir das Hochhaus mit dem Sonnenblumen-Wandbild sahen: Rostock-Lichtenhagen, ungut bekannt aus Funk und Fernsehen. Hier waren die Verkaufsstände weniger maritim gestaltet, asiatische Händlerinnen boten Textilien aus der Nachbarrepublik Polen an und vom Tisch mit den Musikalien röhrte: Schatzilein, du musst nicht traurig sein. Nicht nur mir knurrte langsam der Magen und da blinzelte mich ein gewisser Schriftzug an: Sparkasse! Die Bommelmütze knorkelte ich in die Hosentasche, war viel zu auffällig und mir sowieso schon alles ein bisschen egal. Macht nichts, fahren wir dann eben zurück, hatte Babsy gesagt, aber sie hatte dabei traurig ausgesehen, zu sehr traurig, fand ich. Vor mir war noch eine mollige Frau: Ja, die Oma holt dir dann ein Eis, wollen mal sehen.

Stimmts, Oma, da ist immer neues Geld für uns drin, meinte der Steppke mit strahlendem Gesicht. Jetzt dachte ich, kommt der fade Sermon von schwer arbeiten und sparen müssen, aber die Oma guckte nur und sagte: Genau!

Als ich noch mal nach draußen spannte, machte mich ziemlich sauer, was ich sah: Babsy war nicht nur mit irgend so einem drei Meter großen, mit Achsel-Shirt verunstalteten Muskelmann im Gespräch, sondern sie gockelte - auch noch ohne Sonnenbrille - im Schwenkbereich der Außenkamera herum: Dumme Gaake, dachte ich, konnte aber nichts machen, denn nun gaben Oma und Enkel den Weg zum Automaten frei und ich wollte die Entscheidung endlich hinter mich bringen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Yorkscher Marsch

 

 

Wie das Leben so spielte, hörte ich ihn sagen und vernahm, der lange Kerl war kein Einheimischer, ihn hatte es nach der Armeezeit hierher verschlagen, er stockte, ob sie nicht etwa eine sei, die so mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen hätte, dass er es lieber aussparen sollte, also in Schwedt war er damals gewesen, im Militärknast. Und jetzt? Ach, arbeitslos eigentlich, aber im Sommer, da hilft er bei ´nem Kumpel an der Strandbar aus. Ich ahnte die nächsten Fragen: Ist das dein Macker, seid ihr verheiratet . . .und so weiter würde er die Befragung durchführen, während ich bereits wieder vor dem Automaten stand.

Nervös geworden, vertippte ich mich jetzt bei der Nummer, zu oft durfte das nicht passieren.

Axel mit dem Achsel-Shirt lud zum Eis ein, sie warf einen Blick zur Glastür, was ihr ehemaliger Mitschüler aus dem Werkhof im Stillen sicher mit einem, der muss sie ganz schön im Griff haben, kommentierte. Ich schwitzte jetzt so, dass der Schweiß zwischen Nase und Brillengestell zu brennen begann. Hinter mir stand wartend der nächste Sparkassenkunde, das machte mich noch nervöser. Jetzt den Geldbetrag auswählen, bis Fünfhundert konnte ich gehen. Machte ich ein Friedensangebot, hundertfuffzig oder so? Quatsch, dachte ich, für diese Scheiße hier würde ich lange sitzen, also volle Hütte: ich tippte auf Fünfhundert. War das wirklich ich, der liebe Blumenpflücker und Gedichteschreiber, der, wie man so sagte, keiner Fliege etwas zuleide tun konnte, war ich das, der hier mit der Geldkarte eines alten Mannes als Betrüger vorm Automaten stand? Es existierte gut sichtbar eine Taste mit dem rot unterlegten Wort Abbruch. Wenn ich jetzt den Vorgang abbrach, wusste ich glasklar, was alles noch abbrechen würde, also . . .Die Prozessoren arbeiteten noch, eine Sanduhr erschien . . . Von draußen hörte ich Musik, so was man einen Schmachtfetzen nennt: Der Wind hat mir ein Lied erzählt, von einem Herz, das träumt . . .

Endlich war es der Automat, der die Musik machte, ich hörte schnarrende Töne, ein ratschendes Knurren, dann blinkte Licht, hinter der pendelnden Plexiglasscheibe steckten Scheine. Bitte Geld entnehmen!, las ich auf dem Display: Vier große grüne Scheine und noch kleinere bunte, ich wurde richtig zitterig, und es kostete mich Mühe, alles im Portemonnaie zu verstauen.

Jetzt was essen gehen und ihr irgend so einen unnützen Wunsch für eine überirdisch schöne Putzmaus erfüllen, ihr beispielsweise das blaue Kleid, das sie gestern noch im Schaufenster der Boutique bewundert hatte, kaufen und außerdem besprechen, dass ich fand, es würde jetzt Zeit die Kurve zu kratzen, statt dessen sagte sie und das immer noch alles an der Außenfront, hart im Schwenkbereich der Kamera: Du, wenn du nichts dagegen hast, Axel kommt noch kurz mit, ist ein alter Schulfreund von mir. Wie ein armer Clown, aber einer aus dem Marionetten-Theater, fühlte ich mich: Aber sicher, freue mich sehr. Man sollte es nicht glauben, wir gingen wirklich zu dritt in den Eis-Murmel betitelten Laden an der Ecke, wo die Oma und der strahlende Steppke schon Eis rein schaufelten. Namen von Heimerziehern, Maßnahmen und Spindkontrollen, Wanderungen und öffentliche Rügen, alles so was aus dem Alltag des Werkhofes tauschten die beiden aus, während ich im Rest des Milch-Shakes mit dem Strohhalm ein peinliches Geräusch verursachte, so dass der Kellner stirnrunzelnd rüberguckte. Bellissima hatte dieser Schleimbatzen mit dem Liter Gesichtsöl in der Visage sie gerade genannt und trank Bier, ich versuchte kein Spielverderber zu sein und spendierte ebenfalls eine Runde. Die beiden waren bei Erinnerungen an das Betonwerk und der Maloche im Unterrichtstag der Produktion angelangt. Axel erzählte gerade, wie sie damals vom Knast aus zur Schicht ins Chemiewerk gefahren wurden, da erklang der Yorksche Marsch. Eine Frauenstimme, Typ Meckerliese, wie ich schadenfroh bemerkte, stellte ihn per Handy zur Rede, eilig verabschiedete er sich. Um das Maß voll zu machen, musste ich auch noch miterleben, wie die beiden ihre Telefonnummern austauschten. Als er endlich weg war, flüsterte ich ihr ins Ohr. Alles paletti Baby, wir sind reich! Nur kam meine Siegesmeldung bei ihr gar nicht an, sie schien in Gedanken immer noch bei diesem Schnösel, befürchtete ich. Wir fuhren mit dem Taxi zurück. Letzte Nacht im Poseidon, so schön das Hotel auch war, das schien hoffentlich auch Babsy einzusehen.

Weiß nicht mehr, wo wir überall vorbei guckten, nachmittags Schwarzwälder Kirsch im Café am Strom, das machte sie wohl mir zuliebe mit, das alte Kaffeehaus gehört zu meinen Kindheitserinnerungen, dann kauften wir eine von diesen Wegwerfkameras: Babsy am Leuchtturm, Babsy am Strand, Babsy am Yachthafen, vor dem Fischkutter und vor dem Hotel Poseidon, abends auf der Terrasse beim Bierchen mit Blick aufs Meer. Sie erzählte jetzt nochmal, aber endlich nur für mich von alten Zeiten im Jugendwerkhof. In der nächsten Bar trank ich einen Gin-Tonic zusätzlich, um diesen riesenhaften Axel zu vergessen und war unendlich dankbar, dass ihr Handy nicht klingelte. Übermorgen, mein Schatz, wisperte sie mir beschwipst zu: Übermorgen drehe ich ein Ding, du wirst sehen. Morgen nach dem Frühstück, Süße, heißt es wieder große Reise, kleines Gepäck, versuchte ich ihre Erwartungen zu dämpfen. Sonst haben die uns am Arsch, auch an deinem Mäusearsch . . . Wir nahmen noch einen Absacker, ich hatte einen hängen, war wirklich nicht nüchtern, andererseits nicht besoffen genug, um meine Nervosität überbrücken zu können. Wir mussten weg hier, überlegte ich, Schnuckelmaus schien ja schon alles Rille zu sein. Als sie zur Toilette musste, guckte ich auf ihr Handy: 2 unbeantwortete Anrufe las ich, ich drückte das schnell weg, einen Axel konnte ich jetzt wirklich nicht gebrauchen.

Restalkohol ließ uns am Morgen die Situation gut gelaunt ertragen. Meine Komplizin staunte nicht schlecht, ich hatte Putztag, ob Nachtschrank oder Toilettenspülkasten, alles rubbelte ich ab, man konnte nie wissen, vielleicht nahmen sie doch Fingerabdrücke. Unsere verdreckten Strandlaken wollte ich zurücklassen und die billige Reisetasche, bisschen schmutzige Wäsche. Weil man nie wissen konnte, guckte ich auch noch im Papierkorb nach, es sollte schon Leute gegeben haben, die irgendwo den Ausweis oder Briefe liegen gelassen hatten. Am Frühstücksraum schlenderten wir vorbei, es war noch kühl genug, um die Pullover unterm Trenchcoat nicht verdächtig wirken zu lassen, und richtig, außer freundlichem: Guten Morgen! kein Kommentar von der Rezeption.

Kein Taxi nehmen, sagte ich, diese Kutscher haben mitunter ein fotografisches Gedächtnis.

Wohin jetzt?

Irgend wohin.

Ich möchte noch mal am Strand wohnen, geht das?

Klar, warum nicht, die Küste ist groß.

Irgendwie schade, dass Warnemünde für uns geschlossen ist.

Ich versprach ihr, dass wir noch ein anderes Seebad ansteuern würden, war mir aber gar nicht so sicher, zumal wir in Bad Doberan anlässlich Kaffee aus dem Pappbecher feststellen mussten, dass die kleinen Scheinchen von Onkel Erwin nicht gerade Junge bekommen hatten, und jetzt die Geldkarte nochmals zu verwenden, traute ich mich nicht.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bronzebär

 

Brühl hieß die kleine Stadt in Mecklenburg, in der wir am Nachmittag zufällig ausstiegen und sie mich zwei Straßen hinter dem Bahnhof auf das Schild: Zimmer frei! aufmerksam machte. Diesmal waren keine schwierigen Vorbereitungen nötig, denn wir hatten noch etwas Geld und zahlten die Zimmermiete für zwei Tage im Voraus, es war relativ billig und ich freute ich mich, dass zum möblierten Zimmer eine Küchenecke gehörte. Wir kauften Eier, Speck, Salzbrezeln und Schnittkäse, und eine Frauenzeitschrift. Obwohl ich nicht wirklich Lust dazu verspürte, ging ich kurz vor Ladenschluss nochmal los, um ihr im Drogeriemarkt einen Nagelknipser zu kaufen und brachte eine Tageszeitung mit, damit wir das Fernseh-Programm hätten. Es wurde ein gemütlicher Abend vor dem Fernseher, unser Zusammensein schien eine neue Qualität zu erreichen, wir hörten mit dem Quatschen auf, waren einfach zusammen und fühlten uns wohl.

Am nächsten Tag erkundeten wir den Ort und dehnten bald unseren Spaziergang aus, wanderten über die Wiesen. Nachmittags wollte Babsy dringend irgend etwas gegen die, wie sie sich ausdrückte, Insektenviecher kaufen und sowieso, weil Wochenende nahte, noch Brot. Wieder gab es eine Musik vom Geldautomaten, wenn auch die Umstände diesmal nicht so spektakulär waren, Bommelmütze und Sonnenbrille konnte ich getrost stecken lassen, unser Arbeitslosengeld wurde verbucht und ließ sich dank der weitläufig verbreiteten Einrichtung Sparkasse auch im kleinsten Mecklenburger Winkel problemlos abheben. Wir freuten uns wie die Kinder zu Weihnachten, was uns mit allerlei Einwohnern der kleinen Stadt zu vereinen schien. Im Supermarkt endlose Warteschlangen, Kinderwagen und Hackenporsche voll Konserven, Tabakdosen und Bier vollgepackt, an der Ecke johlende Angetrunkene, selbst im sonst gähnend leeren Handy-Laden herrschte Andrang, um Guthabenkarten zum Aufladen zu bekommen. Wir beschlossen, nein, ich denke eher, ich überredete sie, noch auf drei weitere Tage zu verlängern, denn sie wollte eigentlich zurück ans Meer. Ich kaufte mir eine Badehose, es gab hier in der Nähe einen See, auf den ich weniger Lust verspürte, aber ich wollte ihr den kleinen Wunsch nicht abschlagen. Am Zeitungskiosk wählten wir das erste mal während unserer Reise Postkarten aus. Eine für Bernd Wilke, eine für ihre Kolleginnen im Friseursalon. Für Therese auch?, fragte ich, sie runzelte die Stirn. Und Hottie?, dachte ich, sprach es aber lieber nicht aus, ich wollte nicht taktlos sein, aber für meine alten Bekannten Bodo Schaller und seine Freundin Anke nahm ich denn doch Karte und Briefmarke mit. Am Abend, als ich unsere Zimmerreservierung verlängerte und auch gleich bezahlte, kam ich mit der Wirtin ins Gespräch, während Babsy bereits nach oben ging, um sich, wie sie sagte, die Nägel zu machen. Ich war vielleicht baff, die alte Dame, fünfundsiebzig Jahre jung, hatte mich gegoogelt, mir klopfte gleich ein bisschen das Herz, wenn ich dran dachte, wie alles hätte kommen können, wenn das Geld für die Zimmer nicht vorhanden gewesen wäre. Sie habe sich schon so was gedacht und richtig im Internet war so eine Präsentation vom Literaturzirkel, in dem ich zu Hause gelegentlich Texte von mir vorgelesen hatte, da hatte sie gleich zwei Gedichte und eine Kurzgeschichte von mir gelesen. Elisabeth, so hieß die Wirtin der kleinen Pension, schrieb nämlich auch, Tiergeschichten, damit hatte sie nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes begonnen. Ehe ich mich versah, saß ich bei Blümchen-Kaffee und Windbeutel auf dem Sofa und hörte eine Tiergeschichte. Die Geschichte handelte von einer Maus, die sich um Mitternacht in eine Katze verwandelte und bei den verschiedensten Leuten einschmeichelte, um Lebensmittel für ihre vielköpfige Schädlingsfamilie zu schnorren, sogar beim Schädlingsbekämpfermeister; die Maus bzw. Katze besuchte auch den Pfarrer und den Bürgermeister, wobei ich annahm, dass dahinter die skizzierten Persönlichkeiten der kleinen Stadt zu vermuten waren. Wider Erwarten, ich hatte den üblichen Kitsch vom ach so geliebten Tier vermutet, fand ich, dass Elisabeth originell schrieb, und ich bemerkte, wie lange an den Texten gefeilt worden war, neidisch dachte ich, mein Gott, wenn bei dir Zeichensetzung und Zeitformen so akkurat wären. Für die Akkuratesse lieferte die alte Dame auch gleich die Erklärung nach: Mir hilft bei solchen Sachen der Herr Studienrat Teichmann, der war doch früher Lehrer, ich würde doch ohne den nicht mal wissen, dass es neue Rechtschreibung gibt, aber der ist topfit. Wir haben hier so einen kleinen Zirkel, da treffen wir uns jeden Mittwoch im Gemeindehaus, also wenn Sie Lust haben?!

Am anderen Morgen hatte ich Babsy von diesem Gespräch erzählt, aber sie reagierte unerwartet schroff: Lass dich nicht aushorchen. Wir sind immer noch in Mecklenburg, nicht dass dein alter Freund, wie hieß er doch, Erwin Gomolla zur Tür reinkommt, wenn ihr euern heiligen Zirkel veranstaltet, der dürfte auf deine Geschichten besonders gespannt sein. Ich meinte, das mit dem Zirkel müsse ja nicht unbedingt sein, wir könnten auch morgen abreisen und uns wieder irgendwo an der Küste einmieten, wie sie es vorgeschlagen hatte, aber dass sie gleich so gehässig sein musste, nervte mich doch. So schnell konnte das gehen, jeder drehte sich an diesem Abend auf seine Seite, ich wollte ein Versöhnungsküsschen probieren, aber sie wehrte ab, schob mich weg mit der Begründung, ich hätte mir schon wieder nicht die Zähne geputzt. Ich sagte: Gute Nacht, Anke!, aber da schien sie schon zu schlafen.

 

Wie schön die Vögel zwitscherten am andern Morgen, die Wirtin hatte für uns auf der Terrasse gedeckt, einfach so, obwohl von Frühstück inklusive gar nichts vereinbart war. Babsy schmatzte an mir herum und heute schienen meine ungeputzten Zähne kein Hinderungsgrund mehr zu sein. Übelnehmerisch wollte ich mich nicht geben, auch wenn es nervte, dass sie mir ins Ohr raunte: Solltest einheiraten, beerbst die Alte . . .

Nach dem Frühstück strahlte sie, baute aus Eierschale und Radieschenresten eine Art lustiges Männchen, das mich mit Baske auf dem Weg in den Literaturzirkel darstellen sollte. Sag mal, Dichter, flötete sie und schickte stimmlich Süße hinüber: Du denkst noch an dein Versprechen?

Ja, flüsterte ich im Verschwörerton, denn sicher gab es wirklich Angelegenheiten, die nicht für alle Ohren bestimmt waren. Wir fahren nochmal ans Meer.

Das meine ich nicht, als du das Ding, und sie puhlte zwischendurch mit ihrer Zunge ein Küsschen auf mein Ohr, als du das Ding mit unseren falschen Namen im Hotel gedreht hattest, da war doch ausgemacht, die nächste Sache drehe ich. Gleichberechtigung! Diesmal bist du mein Assistent. Sie küsste mich auf die Wange, ich allerdings kaute sehr, sehr nachdenklich auf meinem Brötchen herum. Am Nachmittag holte ich meine Mappe mit den Gedichten heraus, die ich wie meistens mitgeschleppt hatte. Jetzt würde ich es den Landpomeranzen ´mal zeigen, sprach ich mir selber Mut zu, die halten sicher Eduard Mörike für moderne Lyrik, Bauklötzer werden die staunen, was für einen dekadenten Sound aus den Großstadtstraßen ich zu bieten hatte. Dabei vergaß ich großzügig, dass ich meine soziale Verortung selbst oft genug als provinziell, als vons Dorfe bezeichnet hatte. Na, jedenfalls versuchte ich mich zu präparieren, hatte sogar was maritimes dabei, andererseits musste ich an den Text meiner Wirtin und vor allem an den von ihr erwähnten Studienrat Teichmann denken. Was, wenn der meine Verse auseinander nahm, so ein germanistisch getrimmtes Schulmeisterchen? Später packte ich die Gedichte zurück und las eine meiner vielleicht witzigsten Kurzgeschichten durch, überprüfte noch paar Kleinigkeiten. Aus mir würde sowieso kein großer Schriftsteller, und die kleine Stadt in Mecklenburg würde ich nie wiedersehen, aber spätestens als ich Babsy dann bat, na ja, anfragte, ob sie vielleicht Freude hätte, mein weißes Hemd zu plätten, wurde mir selber klar, es hatte mich was gepackt, das ich vergessen glaubte: bisschen Priese Ehrgeiz, ganz altmodischer Literaten-Ehrgeiz. Ich machte sogar Sprechübungen und las den Text vorher ein. Fast hätte ich die Zeit verpasst, nervös lief ich neben meiner Wirtin her.

Elisabeth guckte mich verwundert an, als ich auf einmal loslachen musste, und mir blieb gar nichts übrig als es ihr zu erklären. An meine eigene Kindheit dachte ich, wir hatten auch so ein Lutherheim mit Gemeinderäumen für den Religionsunterricht und die Jugendfreizeit gehabt. Sie hatten es also geschafft, dachte ich - von wegen, wie es im Schulbuchgedicht gestanden hatte: Im Kreml brennt noch Licht! - ganz anders war es gekommen: Aus den Fenstern des Lutherheims schimmerte fast fünfhundert Jahre nach der Reformation immer noch Licht.

Bruder Martin schaute aus dem Ölbild, zu seinen Füßen der legendäre Schwan. Herzlich willkommen, begrüßte mich händeschüttelnd der Pfarrer im Gemeindehaus der evangelischen Kirchengemeinde. Wir freuen uns, noch einen Dichter hier begrüßen zu dürfen. Die Kirche stellt hier ganz uneigennützig die Räume, wir sind da ganz offen, auch für Nicht-Mitglieder. Der Blick auf Studienrat Teichmann, der mir jetzt die Hand gab, galt vermutlich einem der wenigen Freigeister am Ort. Martin stellte sich mir vor, nicht Luther natürlich, sondern ein Philosophiestudent, der zurück gekehrt war in, wie es lächelnd formuliert wurde: unser liebes Brühl. Er guckte irgendwie treuherzig, hinterher erfuhr ich von Elisabeth, dass das seine Lieblingsbeschäftigung sei, allerdings schreibe er jedes Jahr maximal drei Aphorismen, die hätten es dann aber in sich. Ein noch sehr junges Mädchen las mit leicht errötetem Kopf Gedichte über Seen und Wälder und über einen Bäcker, der Kuchenränder verteilte. Die Gedichte enthielten originelle Ansätze, manchmal könnten ganze Passagen gestrichen sein, sprach der Text noch weiter, wo es längst zu Ende war, aber davon sagte ich natürlich nichts. Teichmann schrieb Krimis, die nicht in Mecklenburg, sondern in Berlin - wo er lange gearbeitet und gelebt hatte - spielten, es handelte sich um historische oder zumindest ältere Kriminalfälle, gesammelt in der Tradition des Pitaval, einer alten Sammlung von Kriminalgeschichten. Seine Erzählung schien mir sachlich, ordentlich recherchiert zu sein. Ein bisschen zu sachlich vielleicht, denn sie hielt nicht das atemberaubende Tempo, in dem Leser sonst hinter den Ereignissen des Hauptstadtromans hinterher hechelten. Teichmann und Elisabeth redeten über Willibald Alexis, einen märkischen Dichter, der ebenfalls Kriminalfälle gesammelt hatte und zumindest beim älteren Lesepublikum noch durch Raubrittergeschichten wie etwa: Die Hosen des Herren von Bredow und durch seinen Roman über die Reformation in Brandenburg bekannt zu sein schien.

Die von mir eingeplante Geschichte wäre viel zu lang gewesen, der Abend war schon fortgeschritten, deshalb las ich doch nur drei Gedichte. Teichmann wies mir ganz korrekt eine Ungenauigkeit in einem Sprachbild nach, alles sehr freundlich und höflich verpackt: Man könnte hier freilich in etwa anmerken . . . andere Zeilen erinnerten ihn persönlich zu sehr an Gottfried Benn, das hatte gesessen. Ein Gedicht von mir handelte von einem suchenden, alternden Mann, der nach Jahren wieder in die Kirche hinein guckte, da hatte ich beim Pfarrer gleich einen Stein im Brett. Wir ließen alle zusammen den Abend bei einem Schoppen Rotwein ausklingen, auch die Pastern schaute noch vorbei und erntete einen Lacher, als sie auf die Flaschen deutend meinte: Du Hartmut, nicht, dass man vorm Abendmahl nu ahlens alle is.

Ihr Gedicht würde ich gerne für unser Gemeindeblättchen haben, wandte sich der Pfarrer an mich. Zum Erntedankfest war auch ein Ball geplant, informierte er, wenn wir Zeit hätten, seien ich und meine Gattin herzlich eingeladen, hätte doch gern mitkommen können . . .Ehe der wohlmeinende Gastgeber noch weiter meine vermeintliche Ehefrau einlud und es peinlich hätte werden können, wendete sich das Gespräch einem Thema zu, das, wie ich bemerkte, in diesem Kreis schon öfter diskutiert worden war: Es standen, hörte ich, die aus der Genesis 41 zitierten sieben mageren Jahre bevor, die schlechte kommende Phase, von der nicht nur der Pharao in der Bibel träumte. In einem Impulspapier der EKD . . . und die eben noch milde Stimme des Pfarrherrn klang eindringlicher. In diesem Wisch, gab Teichmann stärkeren Tobak und schenkte sich noch mal nach, steht wortwörtlich fuhr der Pfarrer fort: Die Kirche sei zwar kein wirtschaftliches Unternehmen, könne aber aus diesen Strukturen noch lernen.

Martin warf einen kurzen Blick auf mich, und ich bemerkte, dass ich jetzt doch der Fremde war. Die Pastern legte begütigend ihre Hand auf den Arm des Pfarrers, der guckte auf einmal überhaupt nicht versöhnlich. Wenn ich das jetzt Bodo Schaller erzählen könnte, der immer noch so ein bisschen tat, als wenn ihm die alten Reden von Arbeiterpartei und Rot Front was bedeuten würden, der würde aus dem Staunen nicht raus kommen. Teichmann nahm noch einen Schluck: Christus hat von den Geldwechslern im Tempel nichts lernen wollen. Wie auch?, fiel Martin ein: Was sollen wir vom Kapitalismus noch lernen, noch mehr Entwurzelung, noch mehr Arbeitslose, noch mehr Drogen, Prostitution und Obdachlosigkeit?

Lies es doch vor Hartmut, unser Gast hier kann das ruhig hören. Ach, ich will ja nicht Unfrieden, versuchte der Pfarrer einzulenken. Wissen wir, was wird? Gott geht auch auf krummen Wegen gerade.

Wenn meine Schwester das noch erlebt hätte, dass die Pfarrstelle nicht wieder besetzt werden soll, seufzte Elisabeth. Danach erzählte sie mir halblaut, was allen übrigen längst bekannt: Der verstorbene Mann ihrer Schwester war, wie auch Elisabeths Großvater, der Pfarrer am Ort gewesen, zuletzt sogar Superintendent.

Frau Pastern brachte noch eine Flasche Wein, weil wir ja sowieso nun ahlens alle machen würden und sie dann eben schon morgen zur Kaufhalle müsse. Die A-4 große Broschüre, die der Pfarrer doch noch aus dem Amtszimmer holte, hatte ich noch nie gesehen, so nah war ich ja nun doch nicht im kirchlichen Gemeindeleben involviert, auch wenn ich gelegentlich in die Kirche ging: Kirche der Freiheit stand da weiß auf blau, Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert und unter anderem war auf Seite 28 angestrichen: Die evangelische Kirche ist natürlich auch kein Wirtschaftsunternehmen; aber was sie dort an geeigneten Methoden und Erfahrungen lernen könnte, wird noch zu wenig genutzt.

Auch mir war klar, was das im Klartext bedeuten würde, Kirchgebäude und Gemeindezentrum waren nicht gerade ein barockes Baudenkmal, sondern nicht älter als hundertzwanzig Jahre zu datieren, sie würden genauso plattgemacht werden wie ein lästiges Kaufhaus oder eine Fabrikhalle, es rechnete sich nicht mehr. Die Leute aus dem Ort würden die Notwendigkeit akzeptieren, der Pfarrer hatte es ja gesagt, natürlich würden sie keinen Unfrieden wollen. Immerhin deutete sich wohl doch ein Ausweg an: Eine gute Lösung wäre, meinte der Gastgeber, wenn nach der Aussegnung des Kirchengebäudes - vielleicht, man hört so einiges, bei den vielen Umsiedlern - es gäbe da vielleicht Interesse einer serbisch-orthodoxen Gemeinde . . .

 

Ich bedankte mich für die Gastfreundschaft, der Pfarrer lud mich zum Gottesdienst ein, worauf sich seine Frau hören ließ, am Sonntag gäbe es eine Überraschung, da wäre für gute Gäste immer noch ein Teller übrig. Teichmann blieb Freigeist und deshalb noch einen Seitenhieb auf mich führend, denn seinen Abschiedsgruss: Na, dann schreiben sie man weiter, junger Mann, empfand ich als gönnerhaft.

Vom Wein erst zu aufgedreht, dann doch in bisschen zu wehleidiger, melancholischer Stimmung beschloss ich über Umwege zur Pension zu laufen, war ja nichts dabei, trotzdem kam ich mir irgendwie wie ein Fremdgänger vor, ich fühlte mich nach dem Zusammensein im Lutherheim von meiner Liebsten weiter entfernt, als wenn ich hier mit irgendeiner Frau knutschend spazieren gelaufen wäre. Ich würde verrückt werden, dachte ich, es hatte lange gedauert, ich liebte überhaupt nicht Therese, was war ich blöde, ich hatte von Anfang an, hatte ich das, dieses Luder . . . was sollte und wollte ich noch sagen oder wissen, sie liebte ich. Ich liebte Babsy, so einfach war das. Liebe, ach ja, aber ich dachte auch:

Diese lieben, ja, ich dachte lieben Menschen im Gemeindehaus unter dem Lutherbild, der Lehrer Teichmann, der früh verbummelte Philosoph Martin und der nun bald pensionierte Pfarrer hatten in mir etwas berührt. Scheiße! Ich brüllte und stampfte mit dem Fuß. Erschrocken guckte ich, hoffentlich hatte keiner der Jugendlichen, vielleicht ein Pärchen irgendwo im Grase, meinen blöden Anfall bemerkt. Wo war ich denn gewesen? Es fehlte jetzt noch, dass ich zurückginge und ein Skinhead würde mir sagen: Das ist hier unsre Zone, verschwinde, Alter, phantasierte ich. Auf der anderen Seite träfe ich auf eine alte Frau, die würde mir auf ihre Weise noch deutlicheren Bescheid geben: Das Pfarrhaus, junger Mann, na hören Sie, die alte Bude steht doch schon seit über hundert Jahren leer.

Nervös kramte ich nach Feuer, suchte in Jacke und Aktenmappe herum. Ein Jugendlicher – jetzt keine phantasierter, sondern ein wirklicher - kam mir entgegen, ich bat ihn um Feuer, worauf er mir mit einem freundlichen Bitte! das Flämmchen seines Feuerzeuges entgegen hielt.

Ich setzte mich auf ein Bänkchen am See und sann den vielleicht müßigen Gedanken nach, inwieweit und warum der Pfarrer, seine Frau, Elisabeth oder der pensionierte Lehrer Teichmann mich, trotz der Färbung des ganz anderen Dialekts, an Personen aus meiner Kindheit erinnerten, als ich die Schreie hörte. Waren meine Sinne zu aufgereizt, drehte ich vielleicht durch? Aber dort hörte ich ganz deutlich lang gezogene Schreie. Es könnte nicht weit von mir, hier am See sein. Komm schon, dachte ich mir, eben hast du noch um so was wie verlorene Ideale getrauert, jetzt reiß dich mal zusammen, und wenn es nur durch Notruf übers Handy sein sollte, vielleicht konnte ich ja helfen.

Meine Kondition war schon so mies genug, außerdem hatte ich mich beim Rotwein nicht zurück gehalten, aber ich brauchte nicht lange zu rennen, denn hinter der nächsten Wegbiegung sah ich es. Ein Hüne von Mann, dagegen schnitt dieser Axel glatt als kleinwüchsig ab. War der Riese das Opfer? Über ihm schien eine kleinere, aber sehr wendige Person zu wanken. Das Mondlicht half mir die Szenerie besser zu sehen. Dann erkannte ich meinen Irrtum. Ich Idiot, die beiden lagen jetzt erschöpft und völlig friedlich nebeneinander. Die Geräusche, die mir wie Kampf auf Leben und Tod vorgekommen waren, erklärten sich auf die natürlichste Weise der Welt. Bisher hatte ich es immer so gehalten, dass ich, wenn ich etwa zu Hause durch zu dünne Wände die Geräusche des Liebesspiels der Nachbarn vernommen hätte, sofort das Radio einschaltete, niemals wäre es mir nur im geringsten eingefallen, ein Liebespaar im Zusammensein zu beobachten. Ich zog mich zurück und trat in meiner Nervosität auf trockene, knackende Äste, fehlte nicht viel und ich wäre noch als Spanner aufgefallen. Die schwarzen Wolke gaben den Mond frei, diesmal musste ich einfach hinschauen: Der Körper des Riesen glänzte wie aus Bronze, dann, ich wollte mich eben abwenden, sah ich die Frau. Sie erweckte mit ihrem Mund erneut sein anscheinend noch erschlafftes Glied, ich stand atemlos und konnte doch nicht weggucken. Ich wünschte, ich wäre mir sicher gewesen, jetzt richtete sie sich auf und bestieg ihn, dann hörte ich ihre Stimme: Komm schon, komm . . ! Nun hatte ich wirklich genug gesehen und gehört, kein Zweifel: Das war Babsy!

Ich rannte, so schnell ich konnte zurück und öffnete unser Zimmer, das Bett schien unbenutzt. Wenigstens fand ich Zigaretten, wenn auch nur ihre mir zu leichte Sorte, na, da kam es nicht mehr drauf an. Der Wein wirkte nicht mehr und ich traute mich nicht, die alte Dame aus dem Schlaf zu klingeln, nur, weil ich noch alkoholische Betäubung nötig hatte. Auf und ab ging ich, setzte mich wieder, grübelte. Der bronzene Körper dieses riesengroßen Mannes fiel mir ein, das wird es sein, dachte ich bei mir, letztendlich alles nur Biologie, resignierte ich. Das Ich des Menschen ist natürlich kein Wirtschaftsunternehmen, aber was ich dort an geeigneten Methoden und Erfahrungen lernen könnte, wird noch zu wenig genutzt, verselbstständigte sich der Text aus dem kirchen-internen Papier in mir. Sicher, der Typ war nicht nur groß und bärenstark, der würde Kohle haben, es kam eben doch immer auf dasselbe heraus, schon Therese hatte letztlich alles nur für und wegen Geld getan. Und ich, grübelte ich und dachte an die Kreditkarte. Alles in mir raste vor Eifersucht, aber ich reiste nicht ab, das Geld dazu hätte ich gehabt, selbst für ein Taxi zum Bahnhof oder wenn das nichts geworden wäre, für ein Zimmer im Mecklenburger Hof, der anderen Übernachtungsmöglichkeit in der Stadt, auf jeden Fall hätten mich die Pfarrersleute für eine Nacht aufgenommen, wenn ich was von einem Ehestreit erwähnt hätte. Ein klassisches Zettelchen hätte ich hinterlassen können: Liebe, ja so hätte ich trotz allem geschrieben, liebe Babsy, unsere Beziehung ist hiermit beendet. Der Punkt am Ende des Satzes wäre vermutlich ein Krater im Schreibpapier gewesen.

Nichts von alledem, ich legte mich ganz einfach hin und brachte es irgendwann sogar fertig einzuschlafen. Im Halbschlaf schaute ich auf die Uhr, sie musste nach vier Uhr früh zurück gekommen sein. Mit einem üblen Brummschädel erwachend, vernahm ich ihr leichtes Schnarchen aus dem halb geöffneten Mund, das ich noch wenige Stunden zuvor süß oder niedlich gefunden hätte.

Sie lag bis gegen Mittag da, ich hatte mich ausgiebig geduscht und einen Zettel hinterlassen, auf dem stand, dass ich einen Spaziergang um den See unternehmen würde. Vom Spaziergang um den See gab es weiter nichts zu erzählen, außer dass er mich erfrischte, ich fand einen Bootssteg und unweit davon eine Bude mit rustikalen Sitzgelegenheiten, hier zog ich mir zwei Bratwürste rein und goss, was sonst so früh am Tag überhaupt nicht meiner Gewohnheit entsprach, noch einen halben Liter Bier nach: Es begann mir besser zu gehen, was heißen will, ich konnte meinen Schmerz dämpfen. In der Stadt traf ich Martin, der meines Erachtens wirr redete und in wenigen Sätzen alle bekannten deutschsprachigen Dichter und Philosophen auf einmal zu nennen schien. Seine Einladung zum Rotwein bemühte ich mich abzulehnen ohne ihn dadurch zu kränken, anschließend kaufte ich mir ein frisches Hemd, Spray, Rasierzeug und diese unverbesserlich guten Dragées gegen Mundgeruch und ging zum Bahnhof, um mir die Abfahrtszeit des nächsten Reisezugs Richtung Heimat zu notieren. Am Bahnhof trank ich noch eine winzig kleine Flasche Bier und murmelte vor mich hin: Mir reicht es jetzt nämlich! Mir schon lange, sagte da ein Kumpel vor dem Bahnhofskiosk und wollte mit mir anstoßen. Weil er danach fragte, schenkte ich ihm etwas Kleingeld, in dem Moment hupte der vorüber fahrende Pfarrer und winkte mir zu.

Ich fand, ich hatte mich gut im Griff. Schade, dieses Brühl schien ein Ort zu sein, an den ich mich normalerweise gern erinnert hätte. Gut im Griff, grübelte ich, aber es gab sowieso keine formvollendeten Formulierungen für Selbstberuhigungsversuche. Immerhin hatte ich Babsy was zu verdanken, versuchte ich mich zu trösten und gaukelte mir selbst vor, gerecht und ausgewogen zu sein. Die Wonne, ach die Gesundung des Körpers, diese Ausschüttung der Glückshormone verdankte ich ihr, und konnte ich ihr im Ernst vorwerfen, dass sie dem bronzenen Riesen nicht hatte widerstehen können? Nur der Pfarrer hatte in seiner altväterlich-gutmütigen Art geglaubt, ich reiste mit meiner Ehefrau, schon bei Teichmann war ich mir nicht sicher gewesen, ob seine flackernde Augenbraue bei dieser Wortwahl nicht stille Belustigung ausdrückte. Also, ich würde es uns beiden leicht machen und mich jetzt brav verabschieden.

 

Sanft über ihr Gesicht streichend versuchte ich ihren angehauchten Kuss abzuwehren, ließ ihn dann doch über mich ergehen und sagte: Machs gut, ich bin nicht böse, war meine Dummheit sich zu verlieben, machs gut, ich hab dich trotzdem gern, aber jetzt muss ich weg. Mach dir keine Sorgen, wenn was kommt, die Sache wegen dem Hotel Poseidon und Bad Kleinen und das alles nehme ich auf mich.

Sie setzte sich aufs Bett und guckte mich einfach nur an. Mir wurde ganz mulmig. Betont ruhig sagte ich: Weißt du, ich war noch am See spazieren nach dem Literaturzirkel - es waren nette Leute dort . . . In mir musste ein Dämon übelster Sorte hausen, dem ich jetzt das Maul zu schließen versuchte, sonst hätte ich beinah doch noch gesagt: Nicht solche wie du, sondern welche mit Idealen oder wenigstens dem Glauben an Ideale, die solche Flittchen wie du nie überhaupt begreifen könnten. Mir war völlig klar, wie heuchlerisch und selbstgerecht das wäre, aber die Gedanken waren da. Im Übrigen hatte sie nichts anderes getan, als mit einem anderen Mann nach Leibeskräften zu vögeln, versuchte ich mich wieder einzukriegen. Nun war es eigentlich so weit, man kennt das ja aus Filmen und den Erzählungen derer, die gerade Beziehungskrisen durchlebten und von denen ich schon gelegentlich für spontane Beichten, also als Kummerkasten benutzt worden war: Jetzt ein paar Tränen und Geständnisse, dann eine Versöhnung, die möglicherweise in Liebkosung überging. Im Prinzip, warum nicht, eigentlich hatte mir der Bronze-Bär nichts weggenommen, wir lebten ja in einer modernen Welt. Ich wäre auf alles vorbereitet gewesen, wirklich auf alles und außerdem, ganz ehrlich, ich wollte zum Bahnhof, wirklich, aber dieser von ihr kaum hörbar hin gehauchte Satz lähmte mich, sie sagte: Ich bin vergewaltigt worden. Wie lange wir einfach nur still da saßen, weiß ich nicht mehr. Gestern bin ich von einem riesigen, wahnsinnig muskulösen Typen vergewaltigt worden, wiederholte sie. Nun war kein Halten mehr, aus mir brach das ´raus: Aha, weißt du, es ist deine Sache mit wem du fickst, ich habe euch beobachtet, ich bin kein Spanner, aber ich hatte die Schreie zunächst falsch gedeutet, ich Dummkopf hatte gedacht, es schreit wer um Hilfe. Du bist auf ihm geritten, du hast ihn danach zum nächsten Ausritt animiert. Bitte, ich bin nicht . . . hauchte sie. Meine Stimme wurde, obwohl ich das nicht wollte, immer stärker und schärfer: Ich bin wirklich nicht eifersüchtig. Es ist deine Sache . . .

Sie sagte leise, sehr beherrscht: Gut, wenn du mir nicht glaubst.

Auf einmal war ich mir überhaupt nicht mehr sicher. Ich bot ihr an, einen Arzt zu holen, zu meinem Erstaunen nickte sie, auf meine andere Frage antwortete sie nur: Nein, keine Polizei.

Der Arzt kam und verordnete ein Beruhigungsmittel. Die Wirtin bot sich an, Tee zu machen.

Mir blieb gar nichts anderes, als den Part des fürsorglichen Ehemannes zu übernehmen. Weil sie also krank war, musste ich auf eine Schlafcouch im Nebenzimmer umziehen. Bruder Hartmut kam vorbei, er brachte Kuchen und Grüße mit: Und wenn wir sonst irgendwie helfen können . . . und ob ich an so etwas Freude hätte, meinte er verlegen, und zog ein Büchlein mit Gedichten von Matthias Claudius heraus, eine ältere Ausgabe mit schönen Holzschnitten, könne ich gerne behalten, er müsse ja bald in eine kleinere Wohnung ziehen. Die Kranke drehte sich hin und her, sie schien wirr und wie im Fieber zu reden. Das Wort Fieber hätte es uns allen leichter gemacht, leider hatte der Arzt keins fest gestellt. Andererseits erinnerte ich mich, trotz der drei, vier Schoppen Rotwein detailgetreu an meine Beobachtung ihrer Freiwilligkeit, jedenfalls hatte das für mich ganz danach ausgesehen: Sie saß oben auf, sie animierte ihn oral zu einem Nachspiel, Hypnose wäre die einzige Erklärung für eine Vergewaltigungstheorie gewesen.

Zwei Tage später, das erschien mir, auch wenn es mich zunächst erleichterte, etwas zu plötzlich, erklärte sie, sich wieder besser zu fühlen: Schwamm drüber, war eine dumme Sache, ich hatte einen Schwips, gut, vielleicht hatte ich ihn vorher ein bisschen angemacht, ich wollte noch sonnenbaden. Auch aus Gründen eigener Bequemlichkeit beschloss ich, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Übrigens hatte ich, was nicht schwer gewesen war, ein bisschen Detektiv gespielt, der Bronzebär wohnte an der anderen Seite des Sees als Camper im Zeltlager - ganz ordentlich, da fehlten nur noch Gartenzwerge am Vorzelt - mit einer blonden, leicht fülligen Frau und zwei schulpflichtigen Kindern. Na gut, was ging es mich an, wie er hieß und wo er wohnte, ich wollte wirklich und ehrlich nach Hause. Zufällig hatte ich noch gesehen, wie der Mann in das Familienauto, einen Kombi mit Anhängerkupplung, einstieg, das Berliner Kennzeichen hatte ich mir sicherheitshalber aufgeschrieben.

Babsy war wie ausgewechselt, sie wolle noch nicht abreisen, meinte sie, fühle sich hier fast wie zu Hause: Tante Elisabeth zeigt mir gerade, wie man mit dem Stickrahmen so schön arbeiten kann und der Pfarrer hat uns doch auch zum Essen eingeladen. Uns, sie betonte das nochmals: Uns beide.

Wie gesagt, bin ja tolerant, aber trotzdem dachte ich daran, endlich zum Bahnhof . . . Dann wieder schämte ich mich, sie überhaupt verdächtigt zu haben, dass sie die Vergewaltigung erfunden hätte. Ein guter Mensch bist du, dachte ich, wirklich, klaust Kreditkarten, schläfst als Zechpreller im Hotel, hast noch nicht mal Mitleid bei Vergewaltigung. Mein Geld war übrigens ratzekahl alle, stellte ich fest, bei Tante Elisabeth war nämlich ich es gewesen, der alles bezahlt hatte, ebenso die Einkäufe in der Kaufhalle und außerdem hatte ich mich sogar mit der Spende von einem Zwanziger an der Sammlung Brot für die Welt beteiligt. Tja, was nun, dachte ich bei mir, Bruder Hartmut anpumpen oder es beim Kollegen Teichmann versuchen? Die gezogene Geld-Karte zu benutzen, war inzwischen ausgeschlossen, weil ich sie nach Abwischen der Fingerabdrücke eingetütet und zurückgeschickt hatte, mit krakligem Buchstaben hatte ich dazu geschrieben: Tut mir leid! Immerhin hatte ich vorher noch einen Konto-Auszug von Erwin gezogen, mein schlechtes Gewissen ähnelte einem Schrumpfballon, der alte Herr hatte fast Vierhunderttausend Euro Guthaben.

Babsy stöckelte strahlender und schöner denn je herum und verkündete: Komm, ich habe mir ein Auto gekauft, was Gebrauchtes, wirst staunen. Ich staunte wirklich, ein gebrauchter Kleinwagen, so was man schon für fünfhundert haben kann, aber; er fuhr. Freuen konnte ich mich allerdings über das Auto nicht, mehrmals dachte ich sogar daran, zum Revier zu gehen und, wie manche sagen würden, Selbststeller zu machen, also selbst zu gestehen, was ja strafmildernd wirken sollte, und darauf zu hoffen, auf diese Weise nach Hause zu kommen. Letztendlich sank aber dann mein Mut bereits auf dem ersten Drittel des Weges zur Polizei und ich beschloss, es doch ruhiger anzugehen. Spaß jedenfalls machte mir nichts mehr.

Sie hatte mir ganz stolz fünfzig Euro zugesteckt und da kam es gleich wieder: Wir wollten doch was drehen, oder? Der Fuffi ermöglichte mir, Martin das zu schenken, was er sich augenblicklich am sehnlichsten wünschte: eine Flasche Rotwein. Ich hatte seine rot geäderten Augen, die fahrigen Gesten genauso wie sein etwas zu großspurige Reden bemerkt. Na ja, wirklich heile Welt gab es eben auch in Mecklenburg nicht. Für den Pfarrer hatte ich mein Gedicht noch mal so schön wie möglich abgeschrieben, leider öffnete niemand, ich schrieb noch die Mail-Adresse dazu, schon wegen der Publikation im Gemeindeblatt. Zufälle gab es, die Nachwuchs-Lyrikerin rief mir über den Zaun ihrer Schule zu: Wann kommen Sie denn wieder, ich wollte ihnen doch noch was zeigen. Sie meinte natürlich Gedichte und ich sagte gerade, sie könne mir ja was schicken und der Pfarrer hätte meine Adresse, als anscheinend der größte Dummkopf aus der Klasse dazwischen rief: Was willsten zeigen, deine Titten, oder was? Sie hatte ihm, was ich noch beim Abschiedswinken sah, gleich ein paar gefeuert.

Doch doch, ich wollte später wieder einmal in Brühl vorbei schauen. Hier verabschiedet sich der Sprachschluder-Epigone, machts gut und bis bald, ihr Provinzpoeten, hatte ich Teichmann auf das Band seines Anrufbeantworters gesprochen. Für meine Wirtin Elisabeth kaufte ich Mohnkuchen und pflückte Wiesen-Blümchen, weil ich wusste, dass sie beides mochte. Als ich an der Pension ankam, sah ich den kleinen grünen VW-Polo, an dem sich Babsy mit einem silbern schreibenden Edding, einem dicken, zu schaffen machte. Zur Autofahrt trug sie ein langes weißes Kleid, von unserer Wirtin verabschiedete sie sich unter Tränen und Küssen. Sie, deren Fick im Wald ich noch eher akzeptierte als ihre anscheinend frisch erwachte Frömmigkeit, hatte in silberner Schrift vorne und hinten geschrieben 20C+M+B01, was sich vom katholischen Einsegnen der Häuser am Dreikönigstag ableitete und auch die Namen Caspar, Melchior und Balthasar oder einfach Gott segne dieses Haus! bedeuten sollte, ein katholischer Brauch, durch die Ökumene inzwischen auch an evangelischen Einrichtungen zu sehen.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Rot ist die klassische Farbe

 

 

Babsy lächelte noch, als wir bereits auf der Autobahn fuhren. Sie begann zu meinem Erstaunen ganz sachlich: Willst du eine Zigarette? Die ersten Kilometer sprachen wir über Autos – ein Oldtimer war uns entgegengekommen - über das erste Auto meines Vaters, einen Wartburg 311, der mich als Junge fasziniert hatte, über den Skoda Oktavia ihres ersten Mackers. Wo hast du die Mühle eigentlich aufgegabelt, irgendwo geknackt?

Nee, habe ich gekauft, das Geld flatterte am Zeltlager ´rum.

Beim Berliner Bronzebär?, war ich versucht zu sagen, aber ich verkniffs mir, apropos, wir fuhren Richtung Berliner Ring. Nicht mehr lange, hoffte ich und freute mich nur noch auf zu Hause. Babsy begann mich jetzt nach dem Pfarrer auszufragen, ob der auch viel von Literatur verstehen würde, ob wir jetzt Freunde wären, ob das normal wäre, dass Pfarrer Gedichte schreiben oder die Ausnahme, ob so ein Pfarrer lange studieren müsse, ob das stimmte, dass die Evangelen, dass die mit den Katholen kein Abendmahl feiern könnten. Und ich verpasste die Abfahrt, ich meine nicht zur Erklärung des Abendmahlsverständnisses, sondern ich bekam zu spät mit, dass wir wieder Richtung Küste fuhren.

Wieder hörte ich: Du, ich hab doch noch dein Versprechen, dass du mir hilfst, was zu drehen?

Was sollte ich darauf antworten? Wie hätte ich erklären sollen, ich war durchaus bereit gewesen, ein paar irre Dinge zu veranstalten, was Abgedrehtes, allerdings hatten diese Vorhaben einer fröhlichen und durchaus zurechnungsfähigen mündigen Person gegolten. Weit hinter der Grenze der Gesetzestexte existierte für mich eine persönliche moralische Grenze: Kreditkartenklau, Zechpreller, Einmietebetrug usw. schienen mir alles andere als eine Bagatelle und unverantwortlich, wenn ich sie gemeinsam mit einer psychisch kranken Frau begehen würde, die die Tragweite möglicherweise gar nicht verstand.

Zwickmühle; ich für meinen Teil wollte nach Hause, und nach irgendwelchen Dingern, jedweden eigentumsverlagernden oder Hotelzimmer simulierenden Maßnahmen stand mir auch deshalb nicht der Sinn, weil mein innerer Seismograph klar anzeigte: Es geht schief, sie schnappen uns. Sie hörte aber sowieso nicht zu, und heute, um die missliche Angelegenheit perfekt zu machen, gab es keinen Stau, Schwerin huschte Weiß auf Blau der Vorwegweiser an mir vorüber. Wir fuhren in Rostock am Westhafen ein, unwirtliche Gegend. Sie hatte die letzte Zeit gar nicht mehr gesprochen, nur noch verkniffener Mund und fahren, fahren . . . Ich hätte nicht ´mal raus gekonnt, dieser alte Hobel hatte Zentralverrieglung.

Ihr Telefonat hörte sich an, als wäre sie bei mir in die Schule gegangen: Ja, wir kommen vom Steintor-Verlag, die Rechnung zahlt ein Herr Lieske. Was sie nicht alles wusste, Dido nannte man doch den Typ des westdeutschen Vorgesetzten, klärte sie mich auf, der am Dienstag zu arbeiten beginnt und donnerstags wieder nach Hause in den Westen fährt. Lieske wäre einer der letzten Spesenritter dieser Regelung, da könnten sie gerne zurückrufen, da würde dicht sein und keiner mehr abnehmen, informierte sie mich. Ich sagte: Hör mal, das geht schief. Sie sprach jetzt resolut: Du, ich hab die Scheiße im Werkhof nicht umsonst durch gemacht. Ist dir überhaupt klar, dass du der einzige Mensch bist, dem ich vertraue? Und wenn du mich jetzt nicht mehr liebst, weil ich einmal besoffen im Wald gebumst habe, dann mein Freund, ist deine Liebe einen Dreck wert.

Dann habe auch ich geschrien, geschrien und geweint haben wir beide, ausgerechnet im Westhafen, wo Zoll und Bullen ständig präsent sind.

Mit Logik gab ich es jedenfalls auf, sie behauptete, sie hätte gedacht, vergewaltigt worden zu sein. Gut, versuchte ich auf sie einzugehen, ich hab seine Autonummer, wenn er wirklich . . .

Lass mich, lass die Autonummer, er kommt heute, kommt der, er will noch mal ficken. Kannst du mir eigentlich ´mal erklären, was eine ewige Lampe ist?

Sofort wurde mir wieder bewusst, dass sie irgendwie noch übergeschnappter als ich sein musste, wer fragte schon während eines Streits über vorgetäuschte Vergewaltigung nach der ewigen Lampe.

Die steht im Allerheiligsten, versuchte ich mühsam zu erklären, wo auch das Tabernakel, das Gefäß für den Weihrauch aufbewahrt wird, das gibt es bei den Katholiken und bei den Juden.

Ich bin evangelisch, und Luther hatte viele Äußerlichkeiten, eben solche Lämpchen, Schreine, Heiligenfiguren und Reliquien, also Bruchteile vom Kreuz oder kleine Knochen von Jesus oder Jüngern und Heiligen, die wie ein Fetisch verehrt wurden, abgeschafft, er war entschieden der Meinung, dass diese Äußerlichkeiten den Blick auf die reine evangelische Lehre verstellen, ganz zu schweigen von der Geschäftemacherei mit den Reliquien.

Irgendwas war völlig kaputt. Ich wollte nur testen, was da war, ob jemand sie suggestiv beeinflusst hatte, oder kam durch den Schock vielleicht die Beeinflussung einer Sekte durch, ich begann langsam alles für möglich zu halten.

Du weißt doch, was das ist, evangelisch oder, wie heißen die vier Evangelien?

Es sind sechs sagt sie: Matthäus, Markus, Lukas, Johannes, Thomas und das Marien-Evangelium.

Du hast dich doch nie für so was interessiert, woher weißt du vom Thomas-Evangelium, das später gefunden wurde, nicht gerade mehr ein Geheimnis, aber in der offiziellen Bibel gar nicht drin?

Aus dem Fernsehen, ich war doch nicht wirklich mit diesem Hottie zusammen, der kam doch nur noch besoffen, weißt du, was ich alles geglotzt habe, als ich mich so einsam und verlassen, wie nicht abgeholt fühlte. Meinst du, mir macht das Spaß, was sollte ich denn machen, denkst du, ich geh gern mit Männern, die mich nur aufs Kreuz legen wollen, nur rein und raus, dann mit einem Rülpsen einschlafen, nein, ich möchte einen der mich liebt, mit dem ich mich aussprechen kann.

Na ja, ich wollte natürlich nicht noch extra ansagen, dass ich dachte wir hätten, äh, ich hätte das möglicherweise für sie sein können, würde mich ja nicht aufdrängen – jetzt jedenfalls nicht mehr. Wir fuhren endlich ganz ruhig von diesem hässlichen, also gut, an Zweckform gebundenen Westhafen wieder raus, sie sprach jetzt, wo es nicht mehr um Religion ging, wieder ruhiger. Gut, dass ich nichts gesagt hatte, von wegen mit mir könne man sich unterhalten, denn sie fing von selbst an. Sicher mit dir kann man ganz gut hinkommen, sogar Fernsehabend ist drinne, und wie du mir den Nagelknipser noch so spät kaufen gegangen bist, auch was du erzählst, kann ja nett sein, aber dein winziges Ding . . .

Ich dachte erst, ich hätte nicht richtig gehört; blöde fragte ich: Wie bitte? Na, dein Schnullhahn, dein Piephahn.

Ach deshalb, musste dieser . . .?

Genau, dieser Bauarbeiter aus Berlin, den du - in Namen finden kannste was - Bronze-Bär genannt hast, irgendwie muss ich ja auch auf meine Kosten kommen, verstehst du. Gibt es bei euch Männertieren denn keine Mischformen, welche die ficken und sich außerdem noch unterhalten können? Weißt du, wie der mich angesprochen hatte? Und ich hatte mich am See nicht etwa präsentiert, ich war in T-Shirt und schlabberiger Trainingshose. Kann ich dich auf ein Bier einladen, weißt du, ich komme vom Bau, oder wollen wir gleich ein Rohr verlegen?, so hatte der mich angequatscht.

So, Babsy, sagte ich: Sei mir nicht böse, ich will das aber alles gar nicht so genau wissen, denn das Männertier mit dem Miniatur-Schniepel fährt jetzt nach Hause und zwar im Zug, vielleicht später wieder, ich hab dich gerne, echt, weißt du . . .

Schnautze! Maul halten, hörst du, kreischte sie und ich konnte vor Schreck nicht protestieren, so hart bremste sie. Du hast mir was versprochen. Wenn du jetzt nicht mitmachst, kannst du dir aussuchen, wohin die Reise geht, zu Erwin Gomalla oder zum Hausdetektiv ins Poseidon und von da aus zum Revier, oder weißt du was, wir fahren erst zu Erwin, der wirkt nur so friedfertig und danach lege ich dich vor dem Poseidon ab.

Okay. Ich war erledigt. Jedes Fünkchen eines liebesähnlichen Gefühls erloschen. Okay!, sagte ich, dann will ich eingeweiht sein und stelle zwei Bedingungen.

Ich höre!, keifte sie.

Nichts persönliches mehr, ich rede dich nur noch mit Boss an, nicht mit deinem Vornamen, zweitens, ich will wissen, worum es geht, drittens halbpart, hörst du, ich will die Hälfte von dem, was ´raus springt.

Sie guckt unschlüssig, alles schien doch nicht in den Fernsehsendungen gekommen zu sein.

Dann erwiderte sie: Okay, die Hälfte, die Hälfte. Der kommt noch ´mal nach Warnemünde, wir gehen zusammen baden. Ich lege ein flimmerndes Lämpchen an unsere Decke, wird ihm nicht weiter auffallen, wegen . . . weil es das Rücklicht vom Klapprad ist. Sie deutete nach hinten, wo ich ein Fahrrad sah, sie schien wirklich an alles gedacht zu haben. Sein blondes Kuchenbrot geht an dem Abend mit den Kindern ins Zeltkino, wird also mindestens eine Stunde Zeit sein. Wenn wir Glück haben, sind da Siebentausend drin, du brauchst nur zur ewigen Lampe zu kommen, während ich mit ihm schwimmen bin!

Ich heuchelte Bedenken rein technischer Art, während ich in Wahrheit nur daran dachte, mich aus dem Staub zumachen, sollte sich die Verrückte doch allein in die Bredouille reiten: Der lässt doch niemals Siebentausend im Sand liegen, der kommt doch mit einem Brustbeutel, wenn der überhaupt so viel Kohle mitbringt. Sie kreischte: Die Siebentausend sind für einen superbilligen Porsche, da ist der scharf drauf, und meinst du nicht, dass ich ihn gut genug ficke, damit er seinen Brustbeutel mit der Knete verliert?

Babsy, ach ja, ab jetzt wirklich nur Boss, hatte ja anscheinend an alles gedacht, fand ich. In einer Art emotionalem Rückfall schaute ich traurig, als sie davon sprach, ihn gut genug usw. aber sie parierte: Was guckste denn so belämmert, deine Therese hat doch für den Bruchteil davon mit jedem abgefickt, für ´nen Fuffi oder so.

Dann wartete ich in einem Strandkorb, den jemand vergessen hatte abzuschließen, versuchte Wind und Wellen zu genießen. Selbst das Meer heilt von so einer Beulenpest wie Babsy nicht, dachte ich bitter. Die Siebentausend würde ich abgreifen und dann verschwinden, das würde ihr eine Lehre sein. Mit den Siebentausend hatte ich was vor: Die eine Hälfte würde ich dem Hotel Poseidon als Wiedergutmachung anbieten und die andere Erwin Gomolla, selbst wenn die Anzeigen vom Staatsanwalt aufrecht erhalten werden würden, tätige Reue nannten sie das, da dürfte dieses Luder blöde dastehen. Nachdem ich beim Hoteldirektor und bei Erwin Gomolla Abbitte getan hätte, würde ich wie in alten Zeiten nach Hause trampen. Mein Leben würde ich ändern, wenn das vorbei wäre. So was mach ich nie wieder, schwor ich mir. Da hörte ich den Dämon in mir quatschen: Schön, dass du dein Leben ändern willst, Meiner, warum fängst du nicht sofort an, die Siebentausend gehören doch dem Bronzebären, seiner Frau und den Kindern – oder nicht?

Mir fiel nichts mehr ein. Alles klar, neuerdings hatte ich kein Handy mehr, wurde mir abgenommen, was die so alles dazugelernt hatte. Es rauschte, dann hörte ich ihre Stimme im Babyphon: Sie fragte an, ob ich auf Posten wäre, wies mich an, Kopfbedeckung und Sonnenbrille aufzusetzen, da konnte ich wirklich nur noch mit: Zu Befehl! antworten.

In der beginnenden Dämmerung sah ich die Positionslichter der Schiffe und unübersehbar das wie ein Christbaum leuchtende Kreuzfahrtschiff, reiche Amerikaner sollten da an Bord sein. Nun war an mir zwar kein Seebär verloren gegangen, aber wenn ich richtig verstanden hatte, wurden das Schiff von den Lotsen in die Fahrrinne geleitet. Parallel zum Alten Strom war in den sechziger Jahren bereits die Mittelmole ausgebaggert worden, da würden die dann vor Anker gehen. Einen Tag Warnemünde und Hansestadt Rostock, danach fuhr ein Sonderzug zum Kurztrip nach Berlin und fakultativ noch nach Weimar zu Mister Old Goethe, eine ähnliche eingängige Route noch von Hamburg aus, das war es dann schon für very nice Germany. Wäre doch eigentlich was für solche Weiber wie Babsy und Therese, dachte ich, statt läppischer sieben Mille einen richtigen Millionär aus den Staaten angeln.

Mir wurde kühl, der Wind frischte auf, wenigstens hatte ich einen Pullover dabei, immer noch liefen Leute am Strand entlang, spülten sich nach dem Baden die Füße. Ich begann die Schiffe und die Segler zu zählen. Keine Woche her, dachte ich, dass sie sich wie ein Kind gefreut hatte, das Meer zu sehen.

Gut, dass ich noch bisschen Kleingeld hatte, ich würde ein Bier in der Hafenbar trinken und dann einfach ohne Fahrkarte nach Hause fahren.

Es kam nicht mehr drauf an, der Zugbegleiter würde schon ein Einsehen haben und mich mitnehmen, wenn ich sein Formular unterschrieb, überlegte ich und fasste in die Innentasche meiner Jacke, nahm ein Notizbuch ´raus und drehte das Futter herum – nichts als Tabakskrümel. Das Biest hatte anscheinend an alles gedacht, mein Ausweis fehlte. Sterne flimmerten, von der Stolteraa genannten Küstenspitze her stiegen leuchtende Flugdrachen auf, auch die Scheinwerfer des Leuchtturms, eigentlich Leuchtfeuers, das nicht mehr wirklich in Betrieb war, glitten über den Strand. Ein sportlicher Typ in den Sechzigern kam auf mich zu: Entschuldigung, haben Sie vielleicht mal Feuer? Auch das.

Schön, wenn man abends noch im Strandkorb sitzen kann, meinte der. Ich entgegnete: Ja, manchmal werden welche unverschlossen gelassen, nehmen Sie doch einfach in einem da weiter hinten Platz. Er musterte mich, lächelte freundlich: Guter Tipp, danke, werde ich machen. Auch so ein Durchtrainierter, für sein Alter, dachte ich noch. Ob der für Babsy in Frage käme – keine Frage, antwortet ich mir selbst mit jenem bitteren Beigeschmack. Dann hörte ich ihre Stimme und vernahm durch die rauschende Dünung Sprachfetzen, ein wenig berlinisch getönt: Rot, det iss die klassische Farbe. Er meinte natürlich nicht die untergehende Sonne und schon gar nicht irgendwelchen Klassenkampf, sondern die Farbe des Porsche Carrera.

 

Der Strandspaziergänger hatte es sich wirklich paar Reihen weiter bequem gemacht. Bronzebär und die Lady, die mir gegenüber neuerdings den Boss spielte, schlenderten Richtung Meer. Sie plauderten und lachten, was für mich zu schrill und schlecht gespielt klang. Ihr Badeanzug war hautfarben, nicht oben ohne aber von der Art, bekleidet ist noch nackter als nackt. Ich guckte weg. Ihre Hinterlist hatte mich unempfänglich für ihre Reize werden lassen, nahm ich an. Als ich überlegte, ob das stimmte und ehe ich noch bei unzulässigen Verallgemeinerungen über Frauen hätte stranden können, bemerkte ich das Flackern. Im Schatten der Strandkörbe lief ich geduckt vor, robbte die letzten Meter zur Badedecke. Vor mir die Wellen, zwischen denen Badende auf und nieder wippten, von hier aus sah selbst Bronze-Bär harmlos aus. Dann war für mich nichts mehr klar zu erkennen, konnte niemanden im Wasser unterscheiden. Aber da kam es auch nicht drauf an, wie verabredet stellte ich die Flackerlampe des Fahrrades aus, suchte die Decke ab, taste unten drunter mit den Händen lang, hielt Ausschau nach Sandhäufchen, der richtige müsste dann mit einem Ästchen markiert sein. Weiter vorn sah ich einen Ast aufgesteckt, war das nur eine Strandburg spielender Kinder gewesen oder doch das Depot mit den sieben Tausendern?

Nichts, Fehlanzeige, dachte ich es mir doch gleich, der hatte natürlich seinen wasserdichten Brustbeutel nicht abgebunden, hatte sein Geld nicht unbeaufsichtigt gelassen, wäre er ja auch schön blöde. Meine Weisung lautete jetzt, zurück zum Beobachtungspunkt und mit einem Fernrohr weiter die Badedecke beobachten, Funkgerät, also Babyphon auf Empfang. Das Fernglas taugte nicht viel, ich konnte wirklich gerade noch die Decke im Blick behalten, nichts anderes, der Strandstreifen an der Seite wurde durch die Strandkörbe verdeckt und für einen Blick aufs Meer war die Vergrößerung zu schwach. Was sollte am Strand noch passieren, überlegte ich, der wird kaum zurück kommen und den Brustbeutel hinlegen. Und es passierte doch was, der Raucher von vorhin, dem ich den nicht nur freundlich gemeinten Tipp mit dem freien Strandkorb weiter hinten gegeben hatte, macht sich zu schaffen. Ein Bulle? Irgendwie fühlte ich mich eigenartig erleichtert; wenn die Bullen da wären, versuchte ich mir einzureden, hätten die wenigstens erfahren, dass ich der kleine Fisch bin, einer der Anweisungen erhält und sich über Babyphon melden muss und vor allem, der Spuk wäre endlich vorbei gewesen.

Später beruhigte ich mich, immerhin, sie hatte mir sogar ein belegtes Brötchen da gelassen, ich angelte nach dem zweiten Bier. Aus purer Dankbarkeit für den Imbiss guckte ich noch mal durchs Fernglas. Letzte Diensthandlung, dumme Kuh, murmelte ich, aus deinem blöden Spiel wird sowieso nichts. Sie hatte genau wie ich geschafft, ohne Ausweis beziehungsweise Bezahlung ein Hotelzimmer zu buchen, das war aber auch alles. Auch ihr konnte das doch keinen Spaß machen. Vielleicht würde sie ihm ja einreden können, der Porsche wäre geklaut worden und er schenkte ihr für den sexuellen Service wenigstens etwas Geld - wie die über Therese hergezogen war . . . Apropos geklaut, ich kicherte in mich rein, der Alte schob doch wirklich mit dem Klappfahrrad ab, na so ein Penner.

Dann dachte ich nichts mehr, sah nichts mehr, war wie nicht mehr da, die Wellen plätscherten, und ich wollte nichts mehr wissen, vergessen, wer und wo ich bin.

Am Strand flackerten Lichter, aus einer Diskothek hörte ich hier an der Ostsee ein Lied vom Saragossameer, im klebrigen Synthesizersound immer wieder: Saragossameer . . .

Mich fror, als ich ihre Stimme hörte: Los, alles in Ordnung, räume die Decke und alles andere ein.

War ja wohl nichts, der hat den Brustbeutel nicht abgelegt. Egal.

Breit grinsend holte sie aus dem Ding, das ich auch im Dunkeln als Brustbeutel erkannte - Scheine.

Zehn Hunderter, dein Anteil! Hier, fürs Wache stehn!

Zehn Riesen, da fasste ich instinktiv zu. Danke, flüsterte ich und dachte noch, ist ´ne Menge Holz. Und jetzt?, fragte ich.

Nun komm, sei kein Frosch. Du musst doch zugeben, dass ich für den blöden Baubudenrulps nichts übrig habe.

Soweit war es schon mit mir, wenn ich ihr jetzt folgte, gab es Aal und einen steifen Grog, wenn nicht, gab es maximal mildernde Umstände und dazu einen Katalog misstrauischer Fragen und bestenfalls noch Leberwurstbrote und Pfefferminztee im Polizeigewahrsam. Frieden, kleiner fauler Frieden, fauler Frieden für Knete. Zehntausend insgesamt, so viel hatte ich schon lange nicht mehr auf einen Haufen gesehen und ein Tausender davon stand ganz allein zu meiner persönlichen Verfügung und Abendessen, Hotel-Bett und morgen nach Hause fahren. Viertausend mehr hätten es sein müssen, laut Abmachung, aber mir war schon klar, dass ich hier wirklich nicht der Boss war. Nachts wachte ich auf, bewegte mich ganz leise, unauffällig onanierend auf dem Laken, meinte sie schnarchen zuhören.

Auf einmal sprang sie hoch, dass alles an mir endgültig schrumpfte, kitzelte mich, nannte mich Blödian. Sie riss sich los und öffnete eine Flasche aus der Minibar und tatsächlich, sie machte sich an mir so zu schaffen, dass ich kurze Zeit später meines Denkens entledigt war.

Wir lagen danach ziemlich ermattet da und sie bat mich, ihre Zigaretten aus der Handtasche zu holen, als mir die grundsätzliche Selbstbefragung des Reformators durch mein Hirn geisterte: Wie kann ich ein meinem Gott gefälliges Leben leben?

Mein Blick fiel auf den Brustbeutel, dessen Riemen abgeschnitten waren, vermutlich von ihrem Messer durchtrennt.

Wir rauchten, sie sah mich an.

Der, der Portier hat so komisch geguckt, vielleicht sollten wir morgen früh beizeiten, da . . . , begann ich.

Du wolltest was anderes sagen.

Okay, sag mal, der Bronze-Bär, der, hast du den verletzt?

Sie kicherte: Oh tut mir leid, den dummgeilen Rammler beim Entnehmen des Brustbeutels, auch für dich Schlaffi hier, nun guck nicht so, bist ja manchmal ein lieber Schlaffi, gibst dir ja Mühe, also für dich Schlaffi hier, der immer ohne Kohle ist, habe ich Müsjöh, ach, ein Kratzer wie beim Rasieren. Was denkst denn du, der hat den Schwindel mit dem Porsche gleich gerochen und nicht nur das. Bist ´ne geile Nutte, dafür zahle ich ´nen Fuffi, aber nicht Siebentausend, hat der gesagt. Er hat nicht damit gerechnet, weißt du auf der Sandbank, bei dem Wort geile Nutte wurde der erst richtig spitz, ich hatte aber, das hat er mir nicht zugetraut, das Messer auf der Sandbank, weißt du, die Boje war aus dem Spielzeugladen, damit ich das Messer auch finde, damit hatte der nicht gerechnet, ich brauchte ihn nicht mal ´ran lassen. Den mochte ich nicht, der war nicht hart, sondern wirklich brutal, so einer, dem du anmerkst, dass er dich dabei gern töten würde, sein ganzer Hass auf alles mit im Rohr, verstehst du. Und nicht auszudenken, wie vielen Muttchen ich in dem beknackten Salon hätte Kaltwelle machen müssen, um auf die Summe zu kommen die ich ihm zur Strafe gezogen habe.

Ich war nicht mal wirklich erschüttert. Warum läutest du?, fragte sie nun doch misstrauisch. Zimmerservice!, antwortete ich. Ich möchte jetzt sonst was veranstalten, dem Kellner einen Geldschein zustecken mit der Aufschrift: Ich bin versehentlich mit einer Mörderin abgestiegen! Wahrscheinlich würde der mich für gaga halten. Kaltwelle oder kalt machen, das war eben die Frage. Die Flasche Schampus zu bestellen und den Jungen vom Service einen wie immer gearteten Notruf zugehen zu lassen, wäre vielleicht noch das cleverste gewesen. Der Service wurde dann von einer korpulenten ältern Dame ausgeführt, die verzog keine Miene, hantierte wie ein Roboter. Nach dem ersten Schluck Wohlstandsbrause fühlte ich mich kaum gelassener, hatte eben auch diese Chance vertan.

Einfach so, hörst du zu? Ein dummes Schwein, für den ich nicht mehr als ´ne billige Möhse war. Sie rekelte sich, inhalierte ihre Zigarette: Nicht auszudenken, wie viele senile Tanten ich mir im Salon hätte anhören müssen, um auf so viel Knete zu kommen.

Nun beschloss ich einen Versuchsballon zu starten: Und den Trucker umzubringen, das war dir pillepalle oder was? Sie verschluckte sich fast, hielt eine Minute den Schnabel, dass ich schon dachte, sie würde sich gleich trotzig auf die Seite drehen.

Du, die hat mir den richtig weggeschnappt. Der Hottie hatte doch schon immer dort so Handwerkerdienste unternommen, da hab ich das alles kennengelernt und mir selber ab und zu im Puff was zuverdient. Ich hatte also schon lange vor deiner schönen Therese mit dem Trucker ein Date an der Raststätte. Fährt die einfach vor, obwohl das mein Kunde war, und das war so ein Spinner, der wollte für Filmaufnahmen viel Geld bezahlen. Was macht die, schmeisst sich ´ran. Endlich einer mit Kohle, hatte die ´rum getönt, den nehme ich aus wie ´ne Weihnachtsgans. Ich hatte mir das nicht vorher überlegt, das Messer hatte ich nur so eingesteckt. Auf der Raststätte, da habe ich gehört, wie der auch noch säuselte, er wäre in Therese verliebt. Für mich hat er immer nur Anweisungen gegeben, wie für so ´ne Marionette: Dreh dich ´mal in den Fünfundvierzig-Grad Winkel und so.

Ich nahm noch einen Schluck, sie ahnte wohl meine Angst. Nein, für dich habe ich kein Messer, Dummer. Ich habe die alle gehasst, die Therese und den blöden Trucker und Hottie und die Kleine aus der Hilfsschule auch, die haben ihre Strafen verdient, musste mir nicht böse sein.

Weshalb soll ich böse sein?, versuche ich ihr Spiel mit zu spielen.

Guck mal Liesbeth, Liesbeth, kannst du noch besuchen.

Was sollte das nun wieder heißen? In mir arbeitet es fieberhaft. Teichmann, hast du den . . .? Nee, den nicht. Der Herr hat´s gegeben, der Herr hats genommen, der Name des Herrn sei gelobt!, äffte sie ihn jetzt mit spitzer Schnute nach. Hartmut, ich habe ihn aufgeschlitzt und gepiekt wie am Kreuz, sieben Stiche, soll er bluten wie sein Heiland. Ach wo, war nur ein dummer Scherz, kicherte sie.

Weißt du, Babsy, dass ich den mochte, der erinnerte mich an meine Kindheit, an eine Zeit, die es nicht mehr gibt, das sind Werte, die man sich heute kaum noch zu nennen traut: Bibelarbeit, Heimatverbundenheit, Tradition.

Hör auf zu träumen, siehst du, deshalb würde ich dir nie was tun, du bist das, vielleicht, du bist das vielleicht letzte Exemplar, das aus so einer komischen Träumezeit übrig ist. Obwohl, alberte sie: Vielleicht sollte ich dich ausstopfen fürs Museum. Kannst du dich noch an den Literaturabend erinnern, als du und Elisabeth aus dem Haus waren? Als ihr auf dem Weg wart, kam er im Auto an, hatte euch angeblich abholen wollen. Schon da ist er um mich herum geschnurrt, hätte was gespart, wüsste gar nicht, was ihn mehr ankotzt, die religiösen Schwärmer oder die Lyrik schwafelnden Einfaltspinsel. Hätte auf ´ner Südseeinsel ´ne Villa gebaut, alles an der Steuer vorbei und alles Geld in der Schweiz, das und noch viel mehr würde er mir wie einer Göttin zu Füßen legen. Wenn er so an Gott glaubte, warum hat er sich dann nicht aufs Paradies gefreut, sondern mich immer wieder angefleht, ihn am Leben zu lassen? Du dichtest und schreibst und suchst weiter nach der Schaukel aus deiner Kindheit, und ich steche dem bösen Schicksal die Augen aus und jetzt leck mich, los, leck mich! Der Stahl des Messers an meinem Hals war das letzte, was ich fühlte . . .

 

 

 

Kleiner Garten, schicke Mütze

 

 

 

Herbststurm hatte Laub und Schlamm zu Brei verrührt, der für alte Knochen Oberschenkelhalsbruch hätte bedeuten können – kein guter Spazierweg für eine alte Dame. Sag mal, woher weißt du das alles, wollte Anna Mildner von Florian wissen. Ach ja, und ihre Mundwinkel verzogen sich, weil sie duldete, was sie ihr ganzes Leben verabscheut hatte, einen Verstoß gegen Regeln.

Du guckst ja in fremder Leute Schreibtische und liest nach, was sie mit der Schreibmaschine . . .

Notebook, unterbrach sie der Enkel.

Na ja, also eben Not-Buch, oder wie das heißt, geschrieben haben.

Vielleicht können wir den Mord aufklären, Oma, wir werden berühmt, Ehren-Polizisten und so.

Ach du, hast immer ein Widerwort, ich hätte dich die Filme mit Margarete Rutherford nicht gucken lassen sollen, wo du doch damals erst in den Kindergarten gingst.

Er schien bei Therese doch allerlei gelernt zu haben:

Du siehst überhaupt nicht so aus wie diese alte, schrullige Schachtel und, dabei guckte er sehr selbstbewusst: Ihr Freund, dieser Mister Spinger ist doch ein Trottel, ein Kautzes, mit so einem würdest du doch nie – oder?

Also Florian, schnaufte sie ratlos. Der Enkel reichte ihr das Fernglas. Da, siehst du? Der im Mantel, mit der kleinen Hucke, äh, also Tasche, das ist er. Er nahm ihr den Feldstecher noch mal weg, regulierte die Sehschärfe für seine Oma, die jetzt sagte: Ach ja, der mit dem Kulturbeutel.

Warum die uns nicht reinlassen? Die andern kriegen doch auch Besuch?

Erst jetzt hatte die Oma mich voll im Blick, sie stellte noch mal eben das Fernglas nach, welches Florian und die Bande damals schon zur Beobachtung des Puffs benutzt hatte.

Schmerzen, sagte sie: Der muss ja Schmerzen haben.

Habe ich mir auch gedacht, er raucht nicht ´mal, meinte Florian und henkelte sich ein, damit seine Oma beim Abstieg vom Hügelchen die kritischen Stellen umging, schließlich wollten sie heil ankommen beim Bäcker-Imbiss.

Was dachten sich die beiden eigentlich, mich auszuspionieren?

War kein Spaß, die dritte Woche im nassen Zwielicht im Gänsemarsch zur Physiotherapie und dann die Füße ins eiskalte Wasserbecken, allein das Eintunken kostete mich Überwindung, und es wurde nicht besser, wenn die grauköpfige Therapeutin kommandierte: Bis über die Knöchel, über die Knöchel und richtig vor und zurück waten! Warte, schimpfte ich still in mich hinein, alte Eule, der Knöchelmann wird dich auch noch holen, waten wird er mit dir, aus deinem Alptraum heraus direkt in die Hölle. Was von Kneipp und seinem Freund, dem Prießnitz gut gemeint gewesen war, wurde uns allmorgendlich zur Tortur. Wenn ich mich wieder anziehen wollte, waren meine Finger von der Kälte klamm, so dass ich es nie schaffte, mir die Füße abzutrocknen, und ich lief in feucht klammen Socken, in meinen mürben, ebenfalls schon durchnässten Schuhen durch die morgendliche Kälte. Nach der Prozedur immerhin das Frühstück, meistens Marmelade, Käse und Brotaufstrich aus kleinen Näpfchen, auf denen völlig unbekannte Marken oder gleich die Aufschrift Produktprobe zu lesen war. Noch weniger wusste ich, was die Kapseln und Tabletten, die ich während der Medikamentenausgabe im Beisein der Schwester geschluckt hatte, enthielten. Still blieb alles bei Tisch, mein Nachbar zur rechten, der in seiner Kleinstadt verhaltensauffällig geworden war, weil er nach dem Besuch seiner Stammkneipe regelmäßig randaliert hatte, dem vorgeworfen wurde zu Hause Anwohner und auch zufällige Passanten beschimpft und drangsaliert zu haben, saß hier genauso mucksmäuschestill am Tisch, wie Birgit, die vor paar Wochen noch zum Spaß der Belegschaft regelmäßig im Frühstücksraum der Bauarbeiter und an ähnlichen Veranstaltungsorten nackt getanzt haben sollte. Pikiert betrachtete Vera ihren Joghurt, sie sprach nur selten, obgleich sie das reine, nachhallende Auslandsdeutsch der studierten Russin sehr gut beherrschte, eigentlich hatte sie Germanistik in Deutschland studieren wollen. Nur Abends konnte es vorkommen, kurz vor dem zu Bett gehen, dass sie uns schüchtern von zu Hause erzählte, über ihren Bruder, der sich mit Dreißig tot gesoffen hätte und darüber, dass alles nur ein Versehen, ein vorübergehendes Missverständnis wäre. Nach dem Frühstück würden wir aufbrechen, Sven, der schüchterne junge Mann, der seine Eltern beinah umgebracht hätte und Ivo, der wie Brad Pitt für Arme aussah, was genau sein Problem war, denn er hatte zu viele Beziehungen und allein die Alimente schienen ihm genügend Vorlage zum Suizid, hatte er zu witzeln versucht. Wir alle brachen auf zum Borkenhäuschen, einer netten überdachten, freilich jahreszeitlich bedingt etwas zu kühlen Raucherecke. Das mit dem Rauchen war auch so ein Problem, im Gegensatz zum Sprit waren die Glimmstängel nicht verboten, allerdings war ich schon so weit, gelegentlich vom Aschenbecher an der Tür zum Kleinen Garten aus den Zigarettenabfällen, den Unaufgerauchten, die das Pflegepersonal dort großzügig liegen ließ, die Reste zu angeln, um mir eine drehen zu können. Gerade noch drei originale, sorgsam eingeteilt, kullerten in meiner Schachtel, jetzt würde ich mir eine davon zu Gemüte führen. Wir rauchten schweigend, mal davon abgesehen, dass einer erwähnte, heute schon ganz früh den Chefarzt gesehen zu haben und dass eine Crew vom Fernsehen erwartet würde. Hier stinkt es, meinte Birgit angewidert und da roch auch ich es, den unnachahmlichen Geruch billiger Zigarren Marke Weiße Elster. Taffi pochte von hinten, wo wir ihn nicht hatten sehen können, an die Wand des Borkenhäuschens, verkündete wie immer gut gelaunt: Guten Morgen! Habe euch doch nicht vergessen. Er schob wie in Zeitlupe seine Schätze aus der Umhängetasche: Zigaretten, Zigarren, Feuerzeuge und ´ne Flasche Wurzelpeter. Taffi, der Retter in der Not, gegen Aufpreis, versteht sich. Alle, die auf der geschlossenen Station einsaßen oder wie ich, nur Ausgang im Kleinen Garten genehmigt bekommen hatten, also noch nicht ´mal in die Nähe von Kiosk oder Automat gelangten, belieferte er. Sven, der zur Besuchszeit von seinem Vater großzügig mit Taschengeld versorgt wurde, bekam gleich drei Schachteln, aber große. Ich versuchte nicht hinzugucken, auch die Nackttänzerin bekam ´ne Schachtel, mir bot der Filou Einzelne an. Taffi stotterte leicht, aber jetzt war ich es, der mit einer Sprechstörung kämpfte: Bei mir ist nichts zu machen, habe nichts dabei. Der Geschäftemacher hatte mich bereits in der ersten Woche, da war ich noch auf der Geschlossenen gewesen, im Raucherzimmer aufgesucht. Das war das einzig humane an der geschlossenen Station, es gab ein Raucherzimmer, so was wie eine Kneipe ohne Alkohol, wo man sich zum Quatschen treffen und rauchen konnte. Damals hatte ich noch etwas Kleingeld gehabt und kannte also nur zu gut Taffis Masche, wenn er was mitbrachte, nicht nur eine kleine Provision zu nehmen, sondern mit den Worten - Komm wir rauchen noch eine- auch gleich selber in die Schachtel zu langen. Wenn man mit ihm zurecht kam, und was wäre mir anderes übrig geblieben, konnte das allerdings auch eine spätere Einladung zu einem Dampfkolben Marke Weiße Elster bedeuten oder sonst eine Vergünstigung. Eigentlich wäre ich für Taffi so überhaupt kein Kunde gewesen und Typen wie der wussten instinktiv, wann einer klamm war, trotzdem grinste er mich begeistert an, klopfte mir auf die Schulter und bot mir eine gute Zigarette an, eine gute, nichts selbst gestopftes: Feine Mütze haste auf, Meiner! Mir selber war die Mütze überhaupt nicht aufgefallen, hatte die ´mal spät abends auf dem Sitz in der Straßenbahn gefunden und mich gefreut, weil sie prima wärmte, der Schriftzug darauf und dass es sich somit für Taffi oder besser für einen von dessen anspruchsvolleren Kunden um ein begehrtes Marken-Design handeln könnte, war mir gar nicht bewusst gewesen.

Zwei Schachteln und ´ne Zigarre gratis hatte ich bekommen, außerdem noch ein halb gefülltes Feuerzeug und zwar eins zum drehen, was von Vorteil war, denn mit einem Feuerzeug mit Drehrädchen konntest du, wenn es sein musste, noch hinter dem Rücken der Visite im Zimmer eine anzünden, während ein chices elektronisches Feuerzeug so laut klickte, dass auf einer stillen Station die Nachtschwester im Dienstzimmer aus dem Liegesessel springen würde.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Taffi weiß alles

 

 

 

In der Ergo malte mein Pinsel in schludriger Nachahmung wie von selbst Sand und Strand und Badenixen, wie ich sie von Müller und Pechstein in der Galerie der expressionistischen Kunst gesehn hatte.

Meine eilig hingetupften Bilder wellten sich vor mir. Schön, hatte die kleine Praktikantin mein Strandbild genannt, das die aus dem Gedächtnis improvisierte Strandpromenade von Warnemünde, freilich unter Vermeidung des klobigen Hotels Poseidon zeigte.

Kaum hatte ich mich daran gewöhnt, wollte wirklich zu malen anfangen, war die Stunde schon wieder um, wo ich doch, solange ich den Pinsel in der Hand hielt, nicht mal den Glimmstängel vermisste. Ergo nannte sich das, soviel Latein hatte ich gerade noch in der Studentenkneipe aufgeschnappt, folglich, von Folge-Therapie, ein Wort wie Malstunde oder von mir aus Kunst oder Art-Therapie wäre mir plausibler erschienen. Auf dem Weg von der Ergo zur Station rauchte ich noch eine, jetzt kam der für mich langweiligste Teil des Tages, selbst das Herumstromern im Garten und erst recht das Schmauchen im Borkenhäuschen war untersagt, wir standen neben den einigermaßen glatt und straff bezogenen Betten, der Nachtschrank war aufzuräumen und die Kleidung zu ordnen, es konnte es nur fünf Minuten oder auch zwei Stunden dauern, ehe sie in weißen Kitteln und der an der Spitze mit Krawatte und in italienischem Sakko erscheinen würde – die Visite.

Wie oft hatte ich Termine versäumt und Verabredungen nicht einhalten können, als ich es noch war, der die Termine vereinbarte, aber hier war nicht daran zu rütteln und Anwesenheit Pflicht. Ratlos blätterte ich in einem Buch - immer, so lange ich atmen könnte, würde mir das bleiben, ein Buch aufschlagen, eine Geschichte lesen, nicht so sehr, um was zu lernen oder – wie Bernd gesagt hätte - sich Bildung anzueignen, nein einfach so, um weit wegzuschwimmen von unseren gestrafften Bettbezügen und verlegenen Wartegesprächen, einfach um mich abzulenken, abzutauchen. Wenn ich entdeckte, dass ein bestimmtes Gefühl, ein kleiner Blick auf eine dieser traurigen Straßen, eine bestimmte Geste oder die Art ein Glas zu halten, mich erinnerten, an eine Angst oder Marotte oder beides, die mich aufseufzen würde lassen und denken lassen: Ich auch! Und auf einmal könnte ich mit einem Detektiv in Chile, dessen Katzen über die Dachböden hinweg zu seinem Bürofenster hineinspazierten genau so verbunden sein wie beispielsweise mit Kaiser Rotbart aus einem historischen Roman. Diese Sucht, hinter andere Zeiten und Türen zu gucken – und dabei natürlich sogar so wichtige Angelegenheiten wie das Warten auf den Chefarzt und seine Visite zu vergessen - dieser Trost des Lesens wäre jetzt für mich unwahrscheinlich wichtig gewesen.

Aber diese Möglichkeit war entfallen, einfach ausgelöscht, befürchtete ich, denn die Medikamente, die ich morgens, mittags und abends unter Aufsicht der Schwester einnahm und mit Tee nachspülte, hatten es geschafft, ich konnte kaum noch lesen. Langsam schlichen meine Gedanken und alles schien mir fad, und ungeduldig wie ich war, fürchtete ich, der Verlust der Möglichkeit Lesen wäre endgültig.

Schließlich durften wir zum Speisesaal, die Visite war ausgefallen, weil es dem Chefarzt nicht erlaubt war, seinen Rundgang zu den Patienten in Begleitung der Fernsehjournalisten vorzunehmen, so hatten sie nur das Vestibül, sein Amtszimmer und das im historischen Ärztesaal improvisierte Büffet für die Abendsendung gefilmt, in der die Koryphäe das neueste Buch vorstellen würde: Aktuelle Fallbeschreibungen gerichtspsychiatrischer Untersuchungen. Schon heute, während der Malstunde in der Ergo war mir aufgefallen, wie oft ich an das Schreiben mit einem gewissen Ekel gedacht hatte.

Es wäre übertrieben zu unterstellen, dass letztendlich alle und jeder schrieben, oder schreiben ließen oder wenigstens mehr oder minder anonymisiert in einem Buch vorkämen, aber Fakt war, dass ich auch von anderen Ärzten gehört hatte, solchen, die mit den Patienten oft noch weniger als mit dem Personal sprachen, dass sie abends zu Hause am Schreibtisch saßen, um Fachbücher und vor allem populäre Berichterstattung der von ihnen behandelten Fälle zu schreiben, selbst der Richter, der mich einwies, einer seiner alternden Schöffen, der Pfleger, Babsys Rechtsanwalt, meine Bekannten Bernd Wilke und Bodo Schaller sowieso und, wie ich wusste, selbst der Hausmeister der Klinik, sie alle schrieben am eigenen Buch.

Vielleicht war ja gegen das Schreiben nichts zu sagen, mich überkam nur das Gefühl, wenn ich auch nicht den Schatten eines Beweises hatte, dass dies generelle Psychose sein könnte, jeder schaut auf jeden, der auf ihn schaut, bis dieses Schauen nur noch Erinnerung wird und diese gegenseitige Erinnerung eines früheren Berichtens über einander in einer Kakophonie endet. Wenn nicht jeden Tag so viele durchknallen würden, hätten der Psychiater und der Kommissar nicht nur langweiligere Jobs, sondern auch kein belletristisches Hobby für den Lebensabend. Wo wäre noch ein Durcheinander, die Gnade des Chaos, wenn es solche klickende Weiblichkeit nicht gäbe, keine Babsys und Thereses. Wie gut - schreiben und philosophieren hin oder her, ich hatte ja noch einen Deal mit dem Leben. Fertigmachen! Auf Transport!, gellte die Stimme unterm straffen Haarknoten, dabei meinen Namen wie beim Appell ins Zimmer brüllend. Auf Transport!

Welcher Lager-Chronik schien nun wieder dieses Reff von Krankenschwester entsprungen? Ich legte meine wenigen Kleidungsstücke zurecht, packte das Notizbuch und mein kleines Radio ein, verstaute alles Rauchbare. Während wir neben der Tür standen und auf den Pfleger mit dem Schlüssel warteten, kam ich ins Grübeln. Eigentlich hatte ich mich auf den Kaffee gefreut, es hätte Mohnstolle geben sollen. Jetzt hast du es erlebt, dachte ich, Alter, jetzt fährst du von der Klapper in den Knast, draußen wartete schon ein graugrüner Kleintransporter, dieser Dragoner von Schwester und ein Arzt standen herum. Wer weiß, was den Bullen noch eingefallen war, spekulierte ich, der Richter hatte bestimmt meine Einweisung aufgehoben und nun ging es doch noch ab in den Bau. Ich brütete hin und her, bis ich endlich hinten zwischen Birgit und Sven saß, vorn saßen noch zwei Patienten, die ich noch nie gesehen hatte, wahrscheinlich aus einer anderen Klinik. Was für ein Trost war es mir, als zu unserer Begleitung die freundliche Praktikantin zustieg, die ich mich endlich zu fragen traute. Meine Angst war für diesmal unbegründet gewesen, wir fuhren in die Röntgenabteilung des städtischen Krankenhauses. Aus dem Fenster des Kleinbusses heraus spähend, sah ich Leute, die sich unterhielten, mit der Aktentasche unterm Arm vielleicht zu einem Termin eilten, ich versuchte hinter den Scheiben eines Cafés die Gäste zu erkennen. Die Tage, an denen ich noch wie jeder andere einigermaßen selbst hatte bestimmen können, wann ich welchen Ort aufsuchte und mich mit wem traf, schienen eine Ewigkeit lang her zu sein, dabei waren seit meiner Einweisung erst drei Wochen vergangen. Auf dem Flur des Krankenhauses liefen auch normale Patienten an uns, den Bekloppten - so hörte ich es die Vorübergehenden ganz ungeniert sagen – vorbei. An so einem wie mir, mit schlappernder Hose, denn Hosenträger und Schnürsenkel waren uns abgenommen worden. Die schöne junge Frau, unsere Praktikantin, die unter anderen Umständen meine Tochter hätte sein könne, musste ich um Erlaubnis fragen, um auf die Toilette gehen zu dürfen.

Am Abend rauchte ich mit Taffi im Kleinen Garten auf und ab gehend eine Zigarre namens Weiße Eule. Er grinste zufrieden, was ich mir daraus erklärte, dass mir die Betreuerin Taschengeld ausgezahlt hatte und er bei mir einen kleinen Verdienst vermutete. Doch dann posaunte er stolz heraus: Du wirst verlegt, du gehst morgen auf Transport. Taffi weiß alles!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Messer mit Tomatenmark

 

 

Herbst nimmt seine Schaufel, es stiebt der Winter ´rein, bis Weihnachten tropft Jauche, da muss gestunken sein.

So kritzelte ich auf den Zettel und fast schon konnte ich Anke hören: Schreib doch einfach mal was Schönes! Dabei wäre nicht ich es, der Anke das Weihnachtsfest versaute, das in der Warteschleife des Advents lauerte. Aber was ist das auch für ein Spätsommer gewesen und was für ein Herbst, paar Tage dröhnt der Trockner, sagte Babsy, dann matscht einem wieder die Farbe auf die Kittellage. Jetzt, wo sie sich doch eigentlich von den Tratschtanten und der ätzenden Farbe befreit fühlen müsste, redete sie ständig darüber. Damals als ich noch bei Fau Puffendorf im Salon lernte, die die abgeschnittenen Haare im Schrank sammelte, als wenn die immer noch für die Echthaar-Perücken abgeholt würden, also da waren vielleicht Spinnen drinne . . .

Wir hatten uns schneller wieder getroffen, als ich gedacht hätte. War es ihr nahegelegt worden, oder hatten sie meine Anekdoten aus der Psychiatrie beeindruckt, jedenfalls stöckelte sie mit gültigem Überweisungsschein in die Ergotherapie herein. Durch die Gesprächsrunden war mir klar geworden, wie wenig ich die realen Beobachtungen vom Nachhall der Erinnerungen trennte oder, wie es die pragmatischere Therapeutin erklärte, ich guckte nach hinten. Gut reden hatten die, mir schien das viel, was ich erlebt hatte und durchaus der Nachbetrachtung wert und auch die Generalabsolution, dass ich ja schließlich krank sei, wie die Psychologin mir in der Therapierunde erklärt hatte, schien mir genau so scheinheilig und betrügerisch wie das Benutzen einer fremden Kreditkarte.

Auch die Bezeichnung Ergo kam für mich von Folge und nicht etwa von Ergometer und wer weiß, mochte ja nichts mit Kunst zu tun haben, für eine Kunstausübung hatte ich zu kalte Füße, in des Wortes wahrstem Sinn, denn jeden Morgen, noch vor dem Frühstück, war ich weiterhin genötigt, bis zu den Knien durch eiskaltes Wasser zu waten, mindestens drei Runden durch das Becken zu drehen, danach frottierte ich mich und fror, gähnte und es verlangte mich nach dem Bett. Statt erwacht zu sein, entstand in meinem Kopf jene dumpfe Benommenheit, die vielleicht solchen Patienten zu passe kam, die jetzt wortlos und mit zusammen gekniffenen Mündern Weidenruten zu Körben flochten. Vor allem solche Verstummten, die sich weder in der Diskussionsrunde der Psychologin noch in der Raucherecke jemals einmischten, flochten die formvollendetsten Körbe, noch die grauesten Mäuse bauten raffiniert gemusterte Exponate mit Deckeln, geflochten im Anschwung eines Schwans, einfach schön und ich, ich quirlte Plakatfarbe, bis ich aus den Mustern Dschungel und Urwaldtiere hervorquellen sah, die ich, wo ich für den Pinsel zu ungeschickt war, mit Buntstiften stärker heraus arbeitete und durch entsprechend deutungsschwangere Titel aufzuwerten versuchte, so lange die feuchten Farben auf dem Papier noch schimmerten. Am Tag darauf würde ich das Grau und die bröcklige gewordene, verkrustete Paste sehen zu müssen, die zu meiner Enttäuschung über Nacht auf dem getrockneten Papier würde entstanden sein. Manchmal drückte ich ein leeres Blatt Papier auf meine zu dick aufgetragene Farbe und nutzte sozusagen meinen Farbschlamassel als Druckstock, strich sanft mit dem Handrücken darüber und zog es ab. Auch diese nun entstandenen, sich meist feiner verädernden Linien malte ich erweiternd aus, füllte sozusagen die Linien und Kleckse des Zufalls mit meiner Gestaltung auf, bis uns das akustische Signal unterbrach, dann war die Stunde vorbei und ich musste abräumen und zurück zur Station. Hin und wieder reichte die Zeit noch für eine Zigarette am Raucherpilz, manchmal stellte sich auch Babsy noch mit dazu, die das nicht nötig gehabt hätte, denn sie kam, wie sie hier sagten, von draußen. Sie absolvierte lediglich eine Tagestherapie, die in der sogenannten Tagesklinik stattfand, im vorderen Bereich des Geländes, wo es nach den Therapiesitzungen, die länger und ausführlicher als bei uns gestaltet wurden, ein Nachhausegehen gab, einen Feierabend und freie Wochenenden.

Den Raucherpilz hatten sie wirklich schön gemacht, sah ein bisschen aus wie das Borkenhäuschen im Schloßpark an der Ilm, halbrunde Kugel aus Baumrinde und dann ein Stamm in der Mitte, rings herum ein Bänkchen aus naturbelassenem Holz, aus heimischer Produktion hingegen stammte die Kugel des Großraum-Aschers aus Aluminium. Das für die Herstellung benötige Bauxit verunreinigte in der französischen Hälfte Guineas das Flüsschen einer Stadt der Metallurgiearbeiter, die wirtschaftlich von den russischen Investoren dominiert wurde und wo es trotz Wassermangels sogar Banja und Swimmingpool geben sollte, wussten wir, denn unser Patienten-Kollektiv fuhr nicht nur mittwochs in den Zoo, wir hörten hin und wieder auch populärwissenschaftliche Vorträge. Noch eine Weile verschmutzte die Weiße Eule Taffis, so hieß nun ´mal seine Lieblingszigarre, wenn er sie auch manchmal in Elster umbenannte, unsere Umwelt. Nun stand ich mit Babsy allein und nichts an ihrem bisher betont sachlichen Verhalten konnte mich denken lassen, dass sie es bewusst angelegt hätte mit mir übrig zu bleiben. Es war noch keine Eile angesagt, die Bettdecke glatt zu ziehen und die Visite zu erwarten, denn der Chefarzt, hatte Taffi aus sicherer Quelle gewusst, stand diesmal noch im Stau am Autobahn-Kreuz.

Über all das sprachen wir, genauer, hatte ich gesprochen und Babsy hatte mir nickend, räuspernd oder lächelnd zugestimmt, bis mir ihre Nervosität bewusst geworden war. Sie stand deutlich entfernt von mir, auf Abstand und ich hatte sowieso den Verdacht, dass das allabendliche und allmorgendliche Anstehen an der Medikamenten-Theke nicht ohne Auswirkungen auf meine Sinnlichkeit geblieben war, nicht dass ich ihre unter der Strickjacke gut zu erkennenden Rundungen oder das Schimmern ihrer Augen inzwischen ganz und gar ignorieren hätte können, aber auch jetzt, da der beginnende Schneeregen uns enger beieinander zu stehen nötigte, denn die Feuchtigkeit sprühte durchs Borkenhäuchen, regte sich in mir kein wirkliches Verlangen, ich erinnerte mich lediglich daran und zog die nächste Zigarette aus der Schachtel. Alle noch vorhandene Zärtlichkeit floss in die Geste, ihr einen von meinen Glimmstängeln anzubieten.

Sie inhalierte tief und mit einigen Erstaunen fiel mir auf, dass sie an ihren sonst immer so vollendet manikürten Fingernägeln geknabbert hatte. Dann holte sie das leicht zerknorkelte Kuvert aus ihrer Handtasche und hielt es unschlüssig. Ich wollte mich bei dir ´mal entschuldigen, für das Messer mit Tomatenmark, den vorgetäuschten Mord und auch für, für die Sache . . . Sie schluckte. Na ja, ich war einfach nur besoffen und geil damals, manchmal bin ich so, aber das weißt du ja, ich bin eben eine Schlampe. Als sie schluchzte, ob nun real oder gemimt, konnte ich gar nicht anders, als sie zu streicheln und ihr das Gegenteil zu versichern, aber sie wehrte ab und gab mir jetzt das Briefkuvert, auf das mit viel Mühe und Akribie zur Verzierung Sommerblumen gemalt waren. Es tut mir alles so leid, sagte sie nochmal unter einem Schniefen, auch das hier, aber lies selber.

Eckige und akkurate Druckschrift wechselte mit größerer, verschlungener krakliger Schreibschrift. Es war nicht so einfach, Thereses Brief zu lesen. Über die geschlossene Psychiatrie am Rande der benachbarten Großstadt erfuhr ich nur durch den Absender, aber im Brief stand nichts davon, wie es ihr dort ging oder über ihren Tagesablauf, aber mir schien es so, als ob mein oder erst recht Babsys Klinik-Aufenthalt dagegen wie leichte Übung sei.

Während des Lesens verstand ich, für sie war es noch tabu darüber zu schreiben, vermutlich würde sie sich in dem, was meine Mitpatienten und wohl auch ich später als kurze Reperaturstation einer Krisis interpretieren würden können, für noch lange Zeit einrichten müssen. Nach mehreren Seiten verworren erscheinender Schwärmerei, nach Sätzen, die vielleicht nur ein Thema, nämlich ein Gespräch mit dem Engel mehr andeuteten als wiedergaben, also nach dem, was man als das verworrene Dokument eines religiösen Erweckungserlebnisses hätte werten können, beschrieb sie ihren Alltag im Puff, ihren Frust, die körperlichen und erst recht die seelischen Schmerzen, erwähnte auch Hottie den Abkassierer und ihren geringen Trost während der Fahrten mit dem Bienchen. Dass eine ihrer letzten Fahrten und - um etwa in ihrer religiösen Bildsprache zu bleiben - die Ruhe auf der Flucht, also ihre Übernachtung bei mir keine Erwähnung fand, kränkte mich nicht etwa, sondern ich fasste es als zartes Einverständnis auf. Ich wusste um Therese als eine empfindsame, nicht nur empfindliche Seele, auch wenn ihr Brief zwischen Direktheit und Pathos schwanken mochte. Nicht jeder Mensch, der diese Bezeichnung verdiente, konnte deshalb mit der Begabung zur sprachlichen Wiedergabe bedacht sein.

Nur wenige Zeilen ihres Text gewordenen Martyriums berührten den eigentlichen Vorfall an der Tankstelle, ich weigerte mich immer noch Mord zu denken, sie schrieb:

Dieser Mann (der Trucker, Brigittes Ehemann) war in einer höheren Weise vor den Menschen und unserem Hergott schuldig. Wie Gott, so wollte auch er mit tausend Augen vom Firmament auf uns Sünder blicken . . .

Mir fiel ein, wie das nicht nur dessen Wahn nach Macht, sondern auch den Fakten seiner Überwachung entsprach, denn der Trucker hatte nicht nur in seinem Fahrerhaus, sondern auch sonst überall Kameras installiert. Nicht der Akt selbst, den er sich bei billigen Prostituierten, wie Therese nun ´mal eine gewesen war, aufgrund seines Geldes hätte jederzeit leisten können, bedeutete ihm das eigentliche Erlebnis, nein, der Gipfel, sein wirklicher Abgang überkam den Psychophaten erst, wenn er sich den Film hinterher auf dem Rechner ansehen konnte. Nicht, dass es nicht Frauen gegeben hätte, die seiner Obsession schon in ihrer Annonce dienstbereit, etwa mit dem Zusatz - gern auch für Hobbyfilmer - zugestimmt hätten, aber gerade diese Frauen reizten ihn wenig. Reizvoll hingegen war es für ihn nur, wenn er, wie Therese schrieb, richtig piesacken und erpressen konnte:

Ich musste als sein Hündchen an der Leine laufen, sollte es ohne Gummi mit ihm machen, sonst würd er meiner alten Mutter das ganze ekelhafte Zeug vorspielen.

Der perverse Trucker hatte nicht etwa leere Drohungen ausgesprochen. Als Therese zunächst zögerte, auf seine Bedingungen einzugehen, hatte er eine Mail mit entsprechendem Anhang an Florian geschickt, nur mal so zur Vorwarnung. Das Hündchenspiel für deinen Verehrer aus der Grundschule, da wird er dich achten und lieben, hatte er gespottet.

Wo wirklich keine belastenden Materialien vorhanden waren, wusste er eben Andeutungen zu lancieren, dieser Spanner mit dem Technikpark eines Paparazzis, und so erhielt auch noch Florians Mutter ein Foto, das den Jungen beim Gespräch mit dieser fremdem, schönen - natürlich für alle Mütter der Welt an der Seite ihres pubertierenden Sprösslings unheilverkündenden - Femme fatale zeigte. So harmlos wie das Abschiedsküsschen auf die Wange auch gewesen sein mochte, wirkte es auf dem Foto wie das Dokument eines Sexualverbrechens. Im Brief stand nicht, ob er seine Anzüglichkeiten auch dem Jugendamt überstellt hatte, zuzutrauen wäre es ihm gewesen.

Als er Therese zu seinem Truck auf die Tankstelle bestellte, hatte diese halb ohne es zu wissen und schon gar nicht so, dass sie etwas vorgehabt hätte, schrieb sie, das von Hottie vermisste Messer eingesteckt.

Die Kamera im Feuerlöscher war ein weiterer Trick des perfiden Lüstlings gewesen, sie sollte im Fall der Fälle entdeckt werden, war doch die ganze Kabine mit stecknadelgroßen hochwertigen Linsen bestückt, die auch nicht auf das Videogerät im Auto, sondern in Direktübertragung wie eine webcamp an den Basis-Rechner sendete. So war es dann für die Ermittler nicht gar so schwer, das letzte Stündchen des Lüstlings zu rekonstruieren, seinen hämischer Empfang. Na, heute ohne Gummi, dumme Schlampe, sonst weint die Mutti und nicht, dass du denkst, ich bezahle dir was, sei froh, dass ich nicht noch von dir kassiere! Er ergoss sich dann weiter in allen Gemeinheiten, die man einer Frau nicht sagen sollte, auch dann nicht, wenn man ihr das sexuelle Entgegenkommen bezahlt hatte.

Aber alles das hatte ihm nicht gereicht, Therese war nicht sein einziges Opfer gewesen und es gab Frauen, die er zwar nicht erpresste, die er aber einfach so im Netz zur Schau stellte, um sich an den Kommentaren der Spanner zu ergötzen.

Der Trucker war über seine bösen Sexualspiele anscheinend wirklich zu so einer Art Detektiv geworden, er wusste nicht nur über Marias Kochkünste und Wurtstmaxes Zahlung in Naturalien Bescheid; keine Kamera, in die er sich nicht rein geschaltet hatte, kein Mail-Verkehr und kein Computer im Umfeld der käuflichen Liebesimitation, den er nicht zu häcken versucht hatte. Mir stockte der Atem, auch meine Gedichte für Therese und eben diese hier vorliegenden Aufzeichnungen waren für den Perversen anscheinend von Interesse gewesen.

Mir war speiübel, ich zerdrückte achtlos meine nur flüchtig angerauchte Zigarette und sagte zur Babsy: Ich kann das jetzt nicht fertig lesen.

Taffi hatte sowieso schon zweimal Signalpfiffe abgegeben, ich musste noch zur Visite, auch die sollte noch eine Überraschung beinhalten.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Wer war ich und wo überhaupt?

 

 

Der Schreck ist doch nur das Fehlen der Angstbereitschaft, freute sich schon Freud, hatte ich geantwortet und die Crew, selbst der Chefarzt hatten wohlwollend gekichert, solche Bonmots kamen hier gut an und mein Zusatz: Werde mich dann auch ins Berufsleben wieder einfinden müssen, rundete die wohlwollende Atmosphäre ab.

Beides war freilich improvisiert, denn wer hatte schon Bock auf so was langweiliges wie Berufsleben und das Zitat hatte ich aus einer Zeitschrift.

Die Oberärztin hatte bereits vor der Visite gefragt, ob mich eine plötzliche Entlassung denn sehr erschrecken würde. Ach mitnichten, ich spekulierte ja darauf, zunächst hatte meine Unterbringung in der Klapper den Staatsanwalt das Verfahren ruhen zu lassen überzeugt und jetzt würde ich, wenn auch unter Auflagen und mit Ratenzahlungen für den Schadenersatz beauflagt, so durfte ich hoffen, auch hier bald heraus spazieren können. Humor wurde vom genesungswilligen Patienten erwartet und andere improvisierten ebenso wie ich, bedankten sich für die gute Zeiten, murmelten Versprechungen u.ä. Die Quote der zu entlassenden Patienten war höher als sonst und betraf auch solche, die als chronische, wo nicht völlig psychiatrie-resistente Insassen galten. Ein paar davon würden vorfristig wieder eingeliefert werden, einer Selbstmord versuchen, aber das würde ich dann nur noch über unsern kleinstädtischen Buschfunk erfahren. Ich freute mich wirklich darauf, einfach so wieder durch die Stadt laufen oder ins Café gehen zu können, aber auch einfach nur zu Hause sein zu können, zumindest im bei Anke verfügbaren Zimmer; denn meine eigene Wohnung war geräumt worden. Würde noch da sein, was ich an persönlichen Gegenständen hatte retten können, sorgte ich mich, mein Notebook, meine Bücher und Aufzeichnungen? Viel zu packen gab es nicht, manche verabschiedeten sich und versicherten Kontakt halten zu wollen, sich zu schreiben oder gar zu treffen.

Es war beabsichtigt, über die Feiertage mehr als die Hälfte der Stationen zu schließen und in der Zeit, die zwischen den Jahren genannt wurde, und die sich in der Erwartungshaltung des Personals zur endlosen Paradies-Oase verklärte, auch dem Großteil der Belegschaft Urlaub zu genehmigen.

Zum Kaffee gab es Marzipanstolle und die Schwester hatte mich schon instruiert, dass ich die von ihr in kleine, beschriftete Fächer einsortierten Kapseln und Dragées auch weiterhin verordnungsgemäß einnehmen solle und zur Überprüfung der Laborwerte zum Termin in der Ambulanz zu erscheinen habe.

 

Anke war mir gegenüber zu nichts verpflichtet und ich war ihr schon dankbar, überhaupt ein Zimmer benutzen zu dürfen. Wieder las ich ein kleines Briefchen, diesmal allerdings wesentlicher präziser und klarer formuliert:

Bin zu meiner Mutter gefahren.

Sieh dir schon ´mal die Seite mit den Wohnungsangeboten an.

Es war eine entsprechende Seite der Tagespresse angeheftet und rot unterstrichen.

Im Zimmer nicht rauchen!, das war ebenfalls dick mit Rotstift unterstrichen.

Draußen hatte es zu schneien begonnen, die Heizungen waren eiskalt und im Kühlschrank nichts als ein Stück Leberwurst, ein vertrockneter Zipfel. Süßer die Glocken nie klingen, dachte ich noch und schlief vor Erschöpfung ein.

 

Als ich aufwachte, spürte ich den Druck auf meinem Hals, nicht derb, aber etwas grapschte nach mir, dann dieser Laut. Ich schrie, um die Nachtschwester zu alarmieren, aber das war ja . . . versuchte ich mich noch im Halbschlaf zu erinnern, richtig, ich war ja entlassen. Endlich fand ich die Stehlampe, so ein blöder Traum. Seit wann kannst du LKW fahren?, hatte ich Babsy gefragt und sie kicherte: Der Schreck ist das Fehlen der Angstbereitschaft. Das sind nu Tankstellen-Kids, nech, mien Jung, erklärte hoheitsvoll die Frau in der Spröde des norddeutschen Dialekts. Als mir die weiche Samtpfotenhand der Blondine die Halsschlagader massierte, war ich erwacht und das Kätzchen hatte das Weihnachtsgesteck herunter gerissen.

Nach meinem Morgenkaffee bemerkte ich, hinter den Wohnungsofferten klemmte noch eine zweite Mitteilung:

 

 

Kümmere dich bitte um die Katze, die war hier rein gelaufen und Herrn Bullers Frau hat eine Allergie, im Tierheim haben die nicht reagiert. Wo hätte ich das arme Tier also lassen sollen? Ich kümmere mich dann gleich nach Neujahr. Du warst ja immer ganz vernarrt in so Viecher, da wird ja wenigstens diesbezüglich auf dich Verlass sein. Sei nicht sauer, aber vielleicht besser so, als wenn wir uns zoffen und meine Mutti ist wirklich sehr krank.

Du kannst bei Herrn Buller klingeln, falls es Probleme mit der Heizung geben sollte.

 

Immer Herr Buller, wirklich typisch Anke. Immerhin steckte ein Zwanziger im Umschlag und ich kaufte dann für mich paar Flaschen Bier, Kekse, Büchsengulasch und für meine neue Freundin Pastete, Fisch, Rehrücken in der Dose und ähnliche Leckereien.

 

Nachdem ich im Bücherregal noch Anna Karenina von Tolstoi entdeckt hatte und außerdem, man soll es nicht glauben, Herr Buller bei mir klingelte, um mir höchst persönlich und mit den besten Grüßen auch von seiner Frau Gemahlin, eine Stolle, eine Flasche Likör und drei Schachteln Zigaretten ukrainischer Produktion zu überreichen, fühlte ich mich zumindest gut versorgt.

Ich las nochmal den Brief der armen Therese, klingelte wiederholt erfolglos bei Babsy an, aber lag es an der nicht zu empfehlenden Mischung aus Alkohol und Psychopharmaka oder hatte mich der Stress der vergangenen Monate robuster werden lassen, mir kam alles, der Mord an der Tankstelle, der Junge Florian, der meine Geschichte dank seiner Schnüffelei in meinem Notebook wahrscheinlich besser kannte als ich, aber auch die Liebesnächte mit Babsy, das Hotel in Warnemünde oder die Kreditkarte Gomollas einfach unwirklich vor. Außerdem: Was war der vorgetäuschte Mord einer übermütigen Friseurin und die verzweifelte Tat meiner drangsalierten und missbrauchten Freundin Therese, was die Welt und ihr berühmtes Glänzen? Wer war ich und wo überhaupt? Dafür, dass es so weh tun konnte, gar nicht zu reden von dem Schaden, der anderen entstand, lohnte es sich da überhaupt noch da zu sein? Die Schwester hatte mir genügend Medizin für die vermeintliche Lösung des Problems eingepackt. Armes kleines Ding, dachte ich nur.

Ich füllte den Futternapf und die Wasserschale auf, reinigte das Katzen-WC und fuchtelte sogar im Eingangsbereich mit dem Schneeschieber und der Schaufel herum, das war meine extremste Variante, Herrn Buller gegenüber Dankbarkeit für die weihnachtlichen Gaben zu bezeugen.

Später begann ich die Annoncen durch zu sehen und überlegte, ob es sehr unhöflich sein würde, einen potentiellen Vermieter am dritten Feiertag zu belästigen. Es ging mir entschieden besser, jetzt wo ich begonnen hatte Pläne zu machen. Ich würde umziehen.

Allerdings, eins stand für mich fest: Nicht ohne meine Katze!

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Sorry für Fehler in Buch und Leben! (Das ist kein Geständnis, Mann!)

Geschrieben in Halle (Saale) und Leipzig, von 2007 bis 2013

Dank an Rolf Krohn und an Garrelt van Borssum

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 04.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

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