Nur noch ein paar Stunden und dann ist es soweit. Heiligabend!
Dieses Jahr war nicht wie die anderen zuvor. Dieses Jahr hatte ich mir etwas Unverzeihliches geleistet. Ich hatte mir erlaubt, jemanden zu vergessen. Jemanden, der mir das Herz geraubt hatte. Meinen Mann!
An alle hatte ich gedacht, schon vor Monaten.
Beschämt lief ich von Geschäft zu Geschäft und suchte panisch nach irgendetwas. Nein! Nicht irgendetwas! Es musste zu ihm passen! Aber was?
Beruflich war er viel auf Reisen! Auch privat wollte er nicht unbedingt vor der Glotze hängen. Mit den wenigen Kumpels, die ihm trotz seines Berufes treu geblieben waren, machte er die Gegend unsicher. Jeder freie Abend, an dem ich dabei war, war ein halbes Abenteuer.
So stand ich vor einem Schaufenster und war in Gedanken versunken.
"...Sam."
Gerade, als ich an ihn dachte, sprach jemand seinen Namen aus. Ich drehte mich suchend um und fand die Person zu der Stimme.
Sie war nicht größer als ich. Schmale Lippen, grüne Augen, das Haar hellbraun und glatt. Schlank, nicht mager, so weit ich das durch den langen Mantel, beurteilen konnte.
Sie war in Begleitung einer Wasserstoffblondine, die ihren Malkasten mit Make-up verwechselt zu haben schien.
"Weißt du, er bringt mich zum Schreien. Seine spitze Zunge ist einfach himmlisch". Schwärmte sie weiter.
"Nein!", sagte ihre Begleiterin entrüstet.
Die beiden bemerkten mich und kicherten.
Sam - Samuel -, mein Mann, war mit Sameh und Samir fest befreundet. Sie nannten sich "Die Sam-Klicke". Saman war auch verheiratet, doch was seine Zunge anging, da hatte ich keine Ahnung. Durch die Freundschaft zu seiner Frau kannte ich sie recht gut, doch die Vorlieben unserer Männer waren nie ein Thema,
Leicht schüttelte ich den Kopf. Es hörte sich nach meinem Sam an. Ich sollte seiner sicher sein, denn er beteuerte seine Liebe zu mir täglich.
Allmählich wurde ich müde und nahm das letzte Ziel ins Visier. Der Laden war noch gerammelt voll und laut, doch zwei Stimmen stachen heraus.
"Er möchte seine Frau für mich verlassen". Hörte ich sie wieder.
"Nein!", wiederholte sich die andere.
"Doch! Er meinte, sie langweile ihn."
Voller Hoffnung versuchte ich, die beiden auszublenden, und redete mir ein: Gott weiss, von welchem Sam die Rede war. Vielleicht gab es noch einen Sam in der Stadt, mit einer spitzen Zunge, den ich nicht kannte.
Ein Schrecken durchfuhr mich, als ich angestupst wurde.
"Sagen Sie mal, verfolgen Sie uns?", fuhr sie mich an.
"Ich? Sie? Warum sollte ich sie verfolgen?". Ehrlich, ich war verwirrt.
"Das ist der dritte Laden, in dem Sie uns begegnen!"
"Schon mal daran gedacht, dass es Weihnachten ist und dass jeder seine Einkäufe erledigt?", mehr wollte ich nicht sagen und auch nicht hören, also drehte ich mich um und ging.
♠♥♣♦
Wie jedes Jahr feierten wir Weihnachten am 25., bei meinen Eltern.
Das Haus füllte sich von Minute zu Minute mehr und meine Mutter bat mich die Gäste zu empfangen. Mich traf der Schlag, als ich dem nächsten Gast die Tür öffnete.
Da stand sie. Eingehüllt im langen Mantel mit Pelzkragen, das Haar nun blond und lockig, roch wie eine Parfümerie und sah äußerst angriffslustig aus.
"Sagen Sie mal", fuhr sie mich sogleich an. "Sie verfolgen mich ja doch!"
"Ich wiederhole mich nur ungern!", holte ich zum Gegenschlag aus. "Warum sollte ich? Wer hat sie überhaupt eingeladen?"
"Marie!"
Erneut durchfuhr mich der Schock.
"Meine Mutter?"
Die Wut der Frau wich der Freundlichkeit und sie lächelte verlegen.
"Entschuldigen Sie, aber dürfte ich bitte rein kommen? Es ist kalt!"
Ich dagegen konnte nicht lächeln, ging zur Seite und ließ sie passieren. Ungläubig lehnte ich mich am Türrahmen. Es ratterte in meinem Kopf.
Sam! Sie meinte meinen Sam! Er möchte mich verlassen! Für sie!
Anfangs wich er nicht von meiner Seite, warf aber oft verstohlene Blicke in ihre Richtung. Es war so demütigend.
In einer stillen Minute fragte ich meine Mutter, woher sie diese Frau kannte.
"Wir haben uns auf einer Messe kennengelernt", meinte sie lächelnd. "Ist sie nicht reizend?"
Meine Mutter arbeitete seit 30 Jahren auf Messen und preist dort jeden Unsinn an. Sie trifft Menschen jedes Standes und schließt Freundschaft mit möglichst vielen. Man kann nie genug Kontakte haben. Ein wenig Vitamin B schadet nie, weißt du, meinte sie immer.
Aber wie traf Sam diese Person? Eigentlich war es nicht wichtig! Er kannte sie und betrog mich, offensichtlich, mit ihr. Ihn zur Rede stellen, auf Grund eines Verdachts, wäre sinnlos. Er würde es abstreiten. Ich wollte die beiden in flagranti erwischen, also distanzierte ich mich von Sam. Gekränkt musste ich ihre, scheinbar zufälligen Berührungen mit Ansehen, bis ich die beiden aus den Augen verlor.
Das halbe Haus suchte ich nach ihnen ab. Als ich an einem Zimmer im Oberstock vorbei ging, bemerkte ich, dass die Tür angelehnt war und das Licht brannte.
Sie saß auf der Kante des Bettes, die Augen geschlossen, den Kopf in den Nacken geworfen, Sam knieend vor ihr.
Voller Wut fing ich an Beifall zu klatschen. Mehr musste ich nicht sehen. Wie dumm waren die denn? Entsetzt sahen beide auf.
"Wunderbare Vorstellung!", meine Augen hätten Eis speien können.
Noch bevor einer der beiden etwas sagen hätte können, knallte ich die Tür zu, lief zurück zu den Gästen, verabschiedete mich von meinen Eltern und floh in die Kälte.
Schöne Weihnachten, dachte ich.
♠♥♣♦
Ziellos schlenderte ich durch die Straßen und wusste nicht wohin.
Zurück zur Feier? Konnte ich nicht!
Nach Hause? Wollte ich nicht!
Der Zufall nahm mir die Entscheidung ab. Ein defektes Leuchtschild zog meine Aufmerksamkeit auf sich und schrie förmlich: Hier ist ein Zimmer für dich frei.
Wenige Stunden später rief mich meine Mutter an und erkundigte sich nach mir. Beteuerte immer wieder, wie leid es ihr täte, dass ausgerechnet mir dies zustoßen musste, dass Sam kein willkommener Gast mehr sei und ich zu ihnen kommen solle. In das Haus der Schande wollte ich jedoch keinesfalls zurück! Ich entschuldigte mich und bat um Verständnis.
Was für ein Tumult. In den nächsten zwei Tagen kam mein Handy nicht zur Ruhe. Anrufe in Abwesenheit und Kurznachrichten bis zum Abwinken. Alle von Sam.
Du verdienst mich nicht! Flüsterte ich weinend.
Mit der Zeit fingen seine Anrufe an, mich zur Weißglut zu treiben, und ich wollte das nervige Ding abstellen. Doch davor sah ich mir, an was er schrieb.
Komm bitte wieder nach Hause. Ich weiss, ich habe Mist gebaut, habe dich verletzt. Bitte, ich schwöre dir, ich werde das nie wieder tun. Ich schwöre, ich werde es wieder gut machen. Sie ist jetzt Vergangenheit! Lass uns bitte von vorne anfangen. Bitte. Ich liebe dich. Nur dich! Ich flehe dich an, komm zurück. BITTE! ES TUT MIR LEID! BITTE, KOMM ZURÜCK! BITTE! BITTE! BITTE!
Zitternd las ich die Worte immer und immer wieder und fragte mich, was ich tun sollte. Ein Abschluss wäre von Vorteil. Alles hinter mir zu lassen, versuchen, die Hürde zu überwinden und von vorne anzufangen.
Entschlossen Sam eine Abfuhr zu erteilen, stand ich an unserer Haustür und zögerte. In diesem Moment war ich mir nicht sicher, ob ich das Richtige tat. Wäre da nicht ein Anwalt, vielleicht doch der bessere Weg um diese Farce zu beenden?, fragte ich mich.
Die Tür ging auf und Sam stand vor mir. Für einen Rückzug war es zu spät.
Er wollte auf mich zugehen und mich umarmen. Angewidert trat ich zurück und hob abwehrend die Hände.
"Komm bitte rein."
♠♥♣♦
Reue, Angst, Zerrissenheit standen in seinem Gesicht.
Zögerlich erzählte er mir, wie es dazu gekommen war. Wo er sie das erste Mal getroffen hatte.
Bei meiner Mutter. Natürlich!
Dass es sich langsam dazu entwickelt hatte. Dass sie ganz anders war als ich, und er einfach die Kontrolle verloren hatte. Ihr Name war Carmen und er versicherte mir, alle Versprechungen ihr gegenüber zurückgenommen zu haben. Es sei vorbei. Er wollte nur mit mir alt werden.
Die Zärtlichkeiten, die darauf folgten, waren mit Vergangenem nicht zu vergleichen.
♠♥♣♦
Als Zeichen unseres Neuanfangs, luden wir Freunde zu Silvester ein und bemühten uns nach allen Kräften, jedes vergangene Jahr zu toppen.
Dachte ich zumindest. Doch es kam alles anders.
Auf der Arbeitsplatte lagen die Zutaten für die Party und warteten auf ihr Debüt. Um nichts falsch zu machen, wollte ich kurz in den Rezepten, die ich Tage zuvor am PC gespeichert hatte, nachschauen.
Bis auf das Summen des PC-Lüfters, war im Arbeitszimmer nichts zu sehen oder zu hören. Verwundert sah ich mich um, doch es war leer. Ohne weiter darüber nachzudenken, setzte ich mich an den Tisch und erstarrte.
Sam's Emil-Adresse war aktiv und ein Fenster stand offen. Es war nur ein Name, der mich veranlasste, die Nachricht zu lesen. In dem Moment wünschte ich, ich hätte es nicht getan.
Ich freue mich auf morgen Abend.
Deine Carmen ♥
Strahlend kam Sam ins Zimmer, wollte etwas sagen und verstummte.
Nackte Wut brannte in mir, ich sah rot.
"Wie dreist bist du, Sam? ... Warum? ... Warum dieses Theater?", schrie ich und zeigte auf den Bildschirm.
Fassungslos sah er von mir zum PC und war nicht in der Lage sich zu erklären. Es kamen nur gestammelte, nichtssagende Worte.
"Warum, du Mistkerl?"
Texte: Alle Rechte vorbehalten
Bildmaterialien: Alle arechte vorbehalten
Tag der Veröffentlichung: 21.01.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mit dieser Geschichte nahm ich, in der Gruppe Kurzgeschichten, an dem Wettbewerb Januar 2015 mit dem Thema: Lüge teil.