Es war einmal ein Philosophikus, der wohnte fern ab der großen Stadt in einer kleinen Hütte am Ufer eines kleinen Sees, der inmitten eines großen Waldes lag. Alles, was der Philosophi-kus zum Leben brauchte, gab es dort im Überfluß. Hinter seiner Hütte hatte er ein kleines Gemüsebeet angebaut, im See tummelten sich so viele Fische, daß sofort einer anbiss, kaum dass man die Angel ausgeworfen hatte, die beiden Schafe, die dem Philosophikus zugelaufen waren, versorgten ihn immer mit frischer Milch und ausreichend Wolle, aus der er sich seine Kleider selber webte, und da er früher selbst Dachdecker gewesen war, bevor er sich der Phi-losophie verschrieben hatte, war auch das Dach seiner Hütte nie undicht.
Alle Menschen hatten große Ehrfurcht vor der Weisheit des Philosophikus und fragten ihn oft um Rat, wie sie ihr Leben verbessern konnten. Vor allem der junge König bat sehr oft um eine Unterredung mit dem Philosophikus, da er ein weiser und gerechter Herrscher sein woll-te.
So begab es sich, daß der König eines schönen Tages zum Philosophikus reiste, um ihm die wichtigste aller Fragen zu stellen. Der Philosophikus kam gerade vom See, an dem er sich gewaschen hatte, zu seiner Hütte zurück, als er die noch weit entfernte königliche Kutsche hörte. Der Philosophikus freute sich, wieder einmal Besuch von seinem guten Freund, dem König zu bekommen, und war gespannt welche Fragen er ihm wohl an diesem Tage stellen würde. Die Kutsche, der vier gepanzerte Reiter vorweg ritten und sechs weitere folgten, war reich geschmückt mit goldenen Schwanenköpfen und an den Türen auf beiden Seiten hingen jeweils ein Wappen aus weißem Samt, auf dem ein schwarzer Schwan prangte, gestickt aus feinster Seide. Die Kutsche hielt vor dem Gartentor des Philosophikus und keinen Augenblick später ging auch schon die Türe auf und der König, ein hübsch anzusehender, groß gewachse-ner Jüngling mit langen braunem Haar, bekleidet mit den schönsten Sachen aus den edelsten Stoffen kam heraus gestiegen. Auf seinem Kopf prangte die königliche Krone, die mit funkel-ten Rubinen bestückt waren. Kaum hatte der König einen Fuß auf die Erde gesetzt sagte er mit schöner, freundlicher Stimme: „Weiser Philosophikus, sei mir gegrüßt! Ich brauche deinen Rat!“
Der Philosophikus, der bis zu des Königs Worten vor seiner Haustür gestanden hatte, kam nun auf den König zu und sagte: „Seid auch ihr mir gegrüßt, mein König! Ich freue mich, euch ein weiteres mal helfen zu können, aber kommt doch mit in meine Hütte! Ich wollte ge-rade einen schönen Pfefferminztee machen. Wollt ihr auch welchen, oder vielleicht eure Man-nen?“ Der Philosophikus hatte das Gartentor erreicht, öffnete es und reichte dem König seine Hand zum Gruß. Der König erwiderte den Gruß und antwortete: „Oh, ich wäre euch sehr dankbar dafür. Und ich glaube, auch meine Mannen könnten einen Schluck vertragen.“
„Nun denn, laßt uns hinein gehen!“ Und so gingen König und Philosophikus in die Hütte, der Philosophikus bot dem König einen Stuhl an, der König setzte sich und der Philosophikus begann, an der kleinen Feuerstelle in der hinteren Ecke des Raumes zwei Kessel mit heißem Wasser zu kochen, einen Kleinen für ihn selbst und einen Großen für die Gefolgsleute des Königs. Der König schaut dem Philosophikus ruhig zu und genoss die Ruhe, die er immer verspürte, wenn er bei dem Philosophikus zu Besuch war, da er sich hier wenigstens für ein paar Stunden entspannen konnte und sich von den Pflichten eines Königs zurückziehen und sie vergessen konnte. Dies war mitunter auch ein Grund, warum er den Philosophikus so oft besuchte. Außerdem liebte er die Gespräche mit dem Philosophikus, von denen er immer ein Bisschen weiser als er es vorher war in seinen Palast zurückkehrte.
Der Tee war fertig und der Philosophikus brachte den großen Kessel mit heißem, wohlrie-chenden Tee nach draußen zu den Soldaten. Als er nach einem kurzen Moment wieder zu-rückkam, nahm er den zweiten, kleineren Kessel von der Feuerstelle, stellte ihn auf den klei-nen Holztisch, an dem der König saß, holte zwei hölzernen Becher aus einem kleinen Schränkchen, setzte sich dem König gegenüber, goß beiden Tee ein und sagte dann endlich: „Wohl an! Dann laßt mich eure Frage hören, auf das ich versuchen werde, sie weise zu be-antworten!“
„Die Frage, die ich euch stellen möchte,“ antwortete der König, „die ich stellen und beant-wortet haben muß, um ein wirklich weiser Herrscher zu sein, ist die Wichtigste aller philoso-phischen Fragen!“
„Welche meint ihr?“ fragte der Philosophikus. Der König schaute etwas verwirrt.
„Ihr kennt die Wichtigste aller philosophischen Fragen nicht?“ fragte er.
„Nun,“ begann der Philosophikus, nachdem er einen Schluck aus seinem Becher getrunken hatte, „ein Mensch stellt eine philosophische Frage, um sein Wissen zu erweitern, nicht wahr?“ Der König nickte. Der Philosophikus fuhr fort: „und wie ich euch schon öfters gesagt habe führt Wissen zu Weisheit und Weisheit ist ja wie allgemein bekannt das höchste Gut, da sie zur Güte führt und nur ein gütiger Mensch ist ein guter Mensch, habe ich recht?“ Wieder nickte der König. Der Philosophikus lächelte, nahm einen weiteren Schluck aus seinem Be-cher und sprach dann weiter: „Wenn nun ein Mensch eine philosophische Frage stellt, um sein Wissen zu erweitern, geht er einen Schritt auf die Güte zu und wird dadurch ein guter Mensch. So wird Menschen, die Güte nicht ihr eigen nennen dürfen, ein Stück Güte zuteil, wenn sie das Wissen weise benutzen und gütige Menschen werden noch gütiger. Auf dem Weg zur Güte ist jeder Schritt wichtig, der kleine genauso, wie der Große. So gesehen sind alle philosophischen Fragen gleich wichtig. Sie mögen vielleicht wichtiger als andere Fragen sein und es mag in einigen Situationen Fragen geben, die wichtiger als die Philosophischen sind, aber zwischen ihnen gibt es keinen Unterschied.“
Der König dachte einen kurzen Augenblick darüber nach und sagte dann: „Tatsächlich, da habt ihr Recht. Verzeiht mir meine Arroganz, dort Unterscheidungen gemacht zu haben!“
„Ihr braucht euch nicht bei mir zu entschuldigen! Ihr seid nicht der erste, der eine solche Un-terscheidung gemacht habt, und es freut mich, euch an meinem Wissen teilhaben zu lassen. Schließlich seid ihr nun ein Bißchen weiser geworden! Aber wollen wir nun zu eurer Frage kommen!“
„Ihr habt Recht!“ pflichtete der König dem Philosophikus bei, „Die Frage, die ich euch stel-len möchte, ist: Welche Aufgabe haben wir Menschen hier auf der Erde zu erfüllen?“
„Mhh!“ machte der Philosophikus und dachte einen Moment nach. „Knifflig!“ sagte der Phi-losophikus dann und dachte einen weiteren Moment nach. Der König wartete gespannt auf die Antwort. „Nun,“ sagte der Philosophikus endlich, „diese Frage ist nicht so einfach zu beant-worten und soviel ich jetzt auch nachdenke, ich komme zu keiner Antwort!“ Das Gesicht des Königs ließ pure Enttäuschung erkennen. Der Philosophikus fuhr fort: „Doch ich kenne je-manden, der die Antwort kennen könnte!“
„Wer?“ wollte der König wissen, in dem wieder ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte.
„Ich meine den Geist des Waldes! Er hat die Weisheit von Jahrhunderten. Leider ist er nur sehr schwer zu finden und er zeigt sich nur denjenigen, denen er sich zeigen will.“
Die Hoffnung des Königs war wieder wie weggewischt. „Aber ich habe keine Zeit, nach dem Geist des Waldes zu suchen! Ich muß zurück in meinen Palast und mich um die Probleme des Landes kümmern!“ rief er verzweifelt aus.
„Nun“ sagte der Philosophikus, „Ich werde ihn für euch suchen! Ich werde von keinen Ver-pflichtungen eingeschränkt wie ihr und habe die nötige Zeit.“
„Das würdet ihr für mich tun?“ fragte der König überglücklich.
„Das werde ich für euch tun.“ antwortete der Philosophikus, „das beste wird sein, ihr kehrt jetzt in euren Palast zurück und kümmert euch um eure Geschäfte und kommt dann in einem Monat wieder zu mir. Bis dahin müßte ich die Antwort auf die Frage gefunden haben!“
„Oh ich danke euch, treuer Freund! Ich schwöre euch, ihr werdet dafür fürstlich entlohnt werden!“
„Ich danke euch, mein König, aber der schnöde Mammon interessiert mich nicht! Versprecht mir nur, daß ihr ein weiser, gütiger und gerechter Herrscher bleibt, dann bin ich glücklich!“
„Ich schwöre es, bei meinem Namen! Aber eine Frage müßt ihr mir noch beantworten!“
„Wenn ich es kann, werde ich es tun!“ antwortete der Philosophikus mit einem Lächeln.
„Bitte verratet mir: Warum soll der Geist des Waldes wissen, welche Aufgabe die Menschen auf der Erde zu erfüllen haben?“
Der Philosophikus lächelte noch ein wenig herzlicher und sagte: „Die Namen der Dinge sind meist nur Namen. Das Sein der Dinge, und die Sachen die sie zu tun vermögen, sagen sie sel-ten aus. Nur, wer nicht nur auf die Namen hört, sondern auch nachschaut, was sich dahinter befindet ist wahrlich weise! Nehmt dies als Rat mit auf euren Weg!“
„Das werde ich! Habt Dank für alles!“
Der König und der Philosophikus tranken beide ihren Becher leer, gingen hinaus und nach-dem der König seinen Soldaten gesagt hatte, daß sie wieder aufbrechen würden, verabschiede-ten sich König und Philosophikus herzlich. Der König stieg in seine Kutsche und ein paar Augenblicke später war der Philosophikus wieder allein. Er brachte den großen Kessel, den die Soldaten des Königs gänzlich geleert hatten, in die Hütte zurück, packte alles, was er für seine Reise brauchte in einen Rucksack, legte den beiden Schafen noch genug Futter hin, ver-abschiedete sich von ihnen und machte sich auf den Weg den Geist des Waldes zu finden. Fünf Tage und Fünf Nächte wanderte der Philosophikus durch den riesigen Wald, als er am Nachmittag des sechsten Tages auf einer kleinen Lichtung einen wunderschönen Hirsch mit einem mächtigen Geweih traf. Der Philosophikus ging langsam auf den Hirsch zu und ver-beugte sich leicht, als er vor ihm stand. Dann sagte er: „Sei mir gegrüßt, mächtiger Hirsch!“
„Sei mir gegrüßt, Philosophikus!“ erwiderte der Hirsch.
„Du kennst mich?“ fragte der Philosophikus irritiert.
„Natürlich! Jeder kennt dich hier im Wald und weiß, wie weise du bist!“
„Ich danke dir Hirsch! Bist du der Geist des Waldes?“
„Nein, das bin ich nicht! Aber vielleicht kann ich dir trotzdem weiterhelfen. Was willst du den Geist des Waldes fragen?“ sagte der Hirsch gutmütig und würdevoll.
„Ich möchte den Geist des Waldes fragen, welche Aufgabe die Menschen auf der Erde zu erfüllen haben.“ antwortete der Philosophikus.
„Nun diese Frage kann ich dir beantworten! Die Aufgabe der Menschen ist, soviel wie mög-lich zu erleben und nicht stehenzubleiben, im Moment zu leben. Die Aufgabe des Menschen ist es, das Leben zu genießen, ob sie nun König oder Bauer sind, da sie in den Tod nichts wei-ter mitnehmen, als ihre Erfahrungen, ihr Hab und Gut, ihren Stand und ihren Körper lassen sie hier. Daher sollen sie ihr Leben genießen, denn es bringt ihm nichts, mit schlechten Erfahrun-gen in den Tod zu gehen.“
„Hat dir das der Geist des Waldes gesagt?“ fragte der Philosophikus.
„Nein, das ist meine Sicht der Dinge! Aber alles andere scheint mir absurd!“
„Ich danke dir, Hirsch, für deine Sicht der Dinge! Weißt du wo ich den Geist des Waldes finden kann!“
„Nein, leider nicht! Aber ich wünsche dir viel Glück auf der Suche!“ antwortet der Hirsch.
„Ich danke dir! Leb wohl, Hirsch!“
„Leb wohl, Philosophikus!“ Mit diesen Worten drehte sich der Hirsch um und sprang mit anmutigen Bewegungen auf den Waldrand zu, in dem er dann verschwand. Der Philosophikus setzte seine Suche fort. Fünf weitere Tage und Nächte suchte der Philosophikus weiter, als er am Mittag des sechsten Tages an einem Fluß, der durch den Wald floß, einem Biber begegnete, der gerade dabei war, seinen Bau auszubauen. Der Philosophikus ging langsam auf den Biber zu und verbeugte sich leicht, als er am Ufer vor dem Bau des Bibers stand. Dann sagte er: „Sei mir gegrüßt, Biber!“
Der Biber schaute auf, erblickte den Philosophikus und antwortete: „Sei mir gegrüßt Philo-sophikus!“
„Bist du der Geist des Waldes?“ fragte der Philosophikus den Biber.
Der Biber legte das Stück Holz, daß er gerade in den Händen hielt und in seinen Bau einbau-en wollte, zur Seite, drehte sich gänzlich zu dem Philosophikus um und antwortete: „Nein, tut mir leid, das bin ich nicht, aber ich werde versuchen dir zu helfen, wenn du es willst! Was möchtest du denn vom Geist des Waldes wissen?“
„Gern nehme ich dein Angebot an, Biber! Ich möchte vom Geist des Waldes wissen, welche Aufgabe der Mensch auf der Welt zu erfüllen hat.“
„Oh, das kann ich dir beantworten!“ sagte der Biber, „Die Aufgabe des Menschen ist es, sich ein Heim schafft, in dem er glücklich ist! Die Aufgabe des Menschen ist es, für Nachwuchs zu sorgen, ihn gut zu behandeln und ihm sein ganzes Wissen mitzugeben, damit der Mensch und das Wissen nicht aussterben.“
„Hat dir das der Geist des Waldes gesagt?“ wollte der Philosophikus wissen.
„Nein, das sind meine eigenen Gedanken, aber das ist das einzige, was Sinn ergibt!“
„Ich danke dir Biber, daß du deine Gedanken mit mir teilst. Weißt du, wo ich den Geist des Waldes finden kann?“
„Leider nicht, aber ich wünsche dir viel Glück auf deiner Suche!“ antwortete der Biber.
„Ich danke dir! Leb wohl, Biber!“
„Leb wohl, Philosophikus!“ Mit diesen Worten drehte sich der Biber um, und begann damit, seinen Bau weiter auszubauen. Der Philosophikus setzte seine Suche weiter fort. Fünf weitere Tage und Nächte suchte der Philosophikus weiter, als er am Morgen des sechs-ten Tages an einen riesigen Baum kam, auf dem ein Uhu saß, der den Philosophikus mit gro-ßen Augen ansah. Der Philosophikus ging langsam auf den Baum zu und verbeugte sich, als er kurz vor dem mächtigen Stamm stand. Dann sagte er: „Sei mir gegrüßt, Eule!“
„Ich bin ein Uhu, aber sei mir gegrüßt, Philosophikus!“
„Verzeih mir bitte! Bist du der Geist des Waldes?“ fragte der Philosophikus müde.
„Nein, das bin ich nicht. Aber wenn du eine Frage an ihn hast, kannst du sie auch mir stellen. Ich werde versuchen, sie zu beantworten!“
„Ich danke dir! Die Frage, die ich vom Geist des Waldes beantwortet haben will, ist: Welche Aufgabe hat der Mensch auf der Welt zu erfüllen?“ sagte der Philosophikus.
„Das kann ich dir beantworten, Philosophikus, obwohl mich wundert, daß du die Antwort nicht selbst weißt. Die Aufgabe, die der Mensch auf der Erde zu erfüllen hat, ist, den Körper zu kasteien, der Versuchung zu widerstehen, tugendhaft zu leben und die Triebe zu unterdrü-cken, damit sich der Geist frei entfalten kann, denn nur, wer einen freien Geist hat, ist in der Lage, das Göttliche zu erfahren und das allein ist es was zählt, da die Fähigkeit, das Göttliche zu erfahren, das Einzige ist, was euch Menschen von uns Tieren unterscheidet.“
„Es ist seltsam, daß gerade du, der du ein Tier bist, mir das sagt! Hat dir das der Geist des Waldes erzählt?“ fragte der Philosophikus den Uhu.
„Nein, das hat mir ein Priester aus einer sehr weit entfernten Stadt erzählt!“
„Und was ist deine eigene Meinung?“ wollte der Philosophikus von dem Uhu wissen.
„Meine eigene Meinung ist unwichtig, da es hier nicht um mich, das Tier geht, sondern um euch, die Menschen. Daher tut meine eigene Meinung nichts zur Sache!“
„Nun, ich danke dir trotzdem! Weißt du, wo ich den Geist des Waldes finden kann?“
„Nein, tut mir Leid, das entzieht sich meiner Kenntnis, aber ich wünsche dir viel Glück für deine weitere Suche!“ antwortete der Uhu.
„Ich danke dir! Leb wohl, Uhu!“
„Leb wohl Philosophicus!“ Mit diesen Worten breitete der Uhu seine Flügel aus und flog durch das Blätterwerk davon. Der Philosophikus war enttäuscht. Drei Wochen war er nun schon durch den Wald gewandert, seine Suche hatte bisher keinen Erfolg gehabt, und damit er den König rechtzeitig empfangen konnte, mußte er sich langsam auf den Rückweg machen. Mit gesenktem Kopf, hängenden Schultern und müden Schritten drehte er sich um und ging langsam seines Weges. Drei Tage und zwei Nächte war der Philosophikus auf dem Weg zu seiner Hütte zurück ge-wandert, mit der Hoffnung, den Geist des Waldes doch noch zu finden, als er in der dritten Nacht, als er traurig darüber nachdachte, daß er dem König sagen mußte, daß seine Suche keinen Erfolg hatte, plötzlich eine leise, hohe, sanfte Stimme vernahm, die sagte: „Sei mir gegrüßt Philosophikus!“ Der Philosophikus schaute von den Flammen und entdeckte auf der anderen Seite des Feuers ein kleines Eichhörnchen, das ihm gegenüber saß. „Sei mir gegrüßt, Eichhorn!“ antwortete der Philosophikus.
„Du suchst den Geist des Waldes, habe ich recht?“ fragte das Eichhörnchen.
„Ja, das stimmt! Weißt du, wo ich ihn finden kann?“ wollte der Philosophikus wissen.
„Ich bin der Geist des Waldes!“ antwortete das Eichhörnchen. Der Philosophikus war über-rascht und sagte: „Bitte, nimm mir das nicht übel, aber du siehst nicht aus, wie der Geist des Waldes!“ Das Eichhörnchen kicherte leise. Dann sagte es: „Nun, nicht immer zeigt das Aus-sehen der Dinge tatsächlich, was die Dinge sind und was sie zu tun vermögen!“
„Du hast Recht!“ antwortete der Philosophikus, „Bitte, verzeih mir!“
„Ich verzeihe dir!“ sagte das Eichhörnchen, „Ich hörte, du hast eine Frage an mich?“
„Oh ja!“ antwortete der Philosophicus, überglücklich, den Geist des Waldes doch noch ge-funden zu haben, „Ich möchte von dir gern wissen, welche Aufgabe die Menschen auf der Welt zu erfüllen haben!“
„Mhh!“ machte das Eichhörnchen und dachte einen Moment nach. „Knifflig!“ sagte es dann und dachte noch einen Moment nach. Der Philosophikus zog die Augenbrauen herunter und fragte sich, warum er plötzlich ein Dejavu hatte. „Nun,“ sagte das Eichhörnchen endlich, „ich kann dir auf diese Frage keine wirkliche Antwort geben,“ Plötzliche Enttäuschung brach über den Philosophikus herein, „weil es keine wirkliche Antwort gibt!“ Jetzt war der Philosophikus verwirrt. „Ich bin ein wenig verwirrt!“ sagte er, „Das verstehe ich nicht ganz!“
„Nun,“ sagte das Eichhörnchen, „ ich will ehrlich mit dir sein! Ich weiß nicht, ob es auf diese Frage eine Antwort gibt, und wenn ja, wie sie lauten sollte. Aber wenn du möchtest, teile ich dir meine Gedanken mit!“ Der Philosophikus war nun wieder enttäuscht, sagte aber: „Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du deine Gedanken mit mir teilen würdest.“ Das Eichhörnchen räus-perte sich, dann sagte es: „Meiner Meinung nach hat jeder Mensch seine eigene Aufgabe, so-zusagen seine Bestimmung, die zu erfüllen ihn glücklich macht, und die Aufgabe, die allen Menschen gemein ist, ist, herauszufinden, welche die ihm eigene Aufgabe ist. Wenn der ein-zelne Mensch nun seine persönliche Aufgabe, die ihn glücklich macht, gefunden hat und sein Leben demnach der Erfüllung dieser Aufgabe widmet, wird er die vollkommene Erfüllung erfahren. Dabei ist es egal, wie diese Aufgabe im einzelnen aussieht.“
„Aber wenn die Aufgabe eines Menschen eine böse Aufgabe ist? Wenn er die vollkommene Erfüllung darin findet, böses zu tun, zum Beispiel andere Menschen umzubringen?“
„Ich glaube nicht, daß es böse Aufgaben gibt! Nicht bei dieser Art von Aufgaben, da es mei-ner Meinung nach nicht in der Natur des Menschen liegt, böses zu tun. Es wird zwar von manchen Leuten behauptet, daß der Mensch von Natur aus böse ist, aber das würde keinen Sinn ergeben, da, wenn die Menschen tatsächlich böse sein würden, nicht solange überlebt hätten, keine Regeln aufgestellt hätten, die das Zusammenleben der Menschen organisieren. Meiner Meinung nach ist das, was im allgemeinen als „böse“ angesehen wird, nur der Trieb, der Instinkt des Überlebens ist. Er wird nur falsch interpretiert. Wenn du dir mal mein Reich, das Reich der Tiere anschaust, dann geht es dort nur um zwei Dinge: Überleben und Fort-pflanzen. Fressen oder Gefressen werden. Wer hat die schärfsten Zähne, die schnellsten Bei-ne, die meisten Nachkommen? Der reinste Egoismus, das gebe ich zu, aber so ist nun mal der Trieb, der Instinkt. Und das ist eine Sache, die dem Menschen nicht verloren gegangen ist. Bei euch geht es auch nur darum, wer die meisten Krieger hat, wer am besten mit dem Schwert umgehen kann, wer die dicksten Burgmauern hat und wer die meisten Liebespartner hat! Die Sache, die das Ganze bei euch bremst, ist das Gewissen, da Trieb und Verstand zusammen eine äußerst gefährliche Mischung ergeben.
Und ich denke, um auf das eigentliche Thema zurückzukommen, daß die Erfüllung der eige-nen Aufgabe auch eine Art Trieb auf einer anderen Ebene ist, die euch Menschen vorbehalten ist. Und wie ich schon sagte ist die Aufgabe im einzelnen unwichtig. Die Erfüllung dieser Aufgabe ist es, die zählt, ob es sich nun um die Blumenpflege geht, um die Suche nach den Antworten, um die Vermittlung von Wissen, oder ob es darum geht, anderen Menschen zu helfen. Das ist egal. Allerdings muß ich dich nochmals darauf hinweisen, daß das nur meine persönliche Ansicht der Dinge ist. Ob sie nun wahr oder falsch, oder ob es bei dieser Frage überhaupt wahr oder falsch gibt, kann ich dir leider nicht sagen!“
„Ich werde darüber nachdenken!“ antwortete der Philosophikus, „Aber ich danke dir viel-mals, daß ich an deiner Weisheit teilhaben durfte!“
„De rien!“ sagte das Eichhörnchen und winkte ab. Der Philosophikus sah es verwirrt an. das Eichhörnchen merkte, daß der Philosophikus nicht verstanden hatte und erklärte: „Das war französisch!“
„Oh!“ machte der Philosophikus. „Eine Frage hätte ich aber noch!“ führte er trocken fort.
„Ich höre?“
„Wie bekommt man heraus, welche die eigene Aufgabe ist?“
„Nun ja, das ist nicht ganz so einfach! Um die eigene Aufgabe zu kennen muß man sich als erstes selbst kennen, denke ich. Und um sich selbst zu kennen, muß man sich viel mit sich selbst beschäftigen, eine Sache vor der die meisten Menschen Angst haben. Die eigene Auf-gabe, falls es sie gibt, zeigt sich einem aber irgendwann. Man weiß es einfach, allerdings ist es sehr schwierig, diese Sache zu erkennen. Es gibt einen inneren Drang, der den einzelnen Men-schen in eine gewisse Richtung lenkt, ihn zu seiner Aufgabe führt. Diesen Drang zu erkennen ist das Schwierige dabei. Deshalb sollten die Menschen nie aufhören, Selbstreflexion zu üben und sich selbst zu hinterfragen. Und sie sollten auf ihre innere Stimme hören. Aber ob das jetzt der einzige oder beste Weg ist, das kann ich dir leider auch nicht sagen. Aber ich hoffe, ich konnte dir wenigstens ein Wenig helfen!“
„Oh ja, das hast du und dafür danke ich dir!“ antwortete der Philosophikus.
„Das habe ich gerne getan! Ich möchte dir noch ein Geschenk machen!“
„Warum?“ fragte er.
„Weil ich glaube, daß du es wert bist!“ gab das Eichhörnchen als Antwort, „Hier hast du drei goldene Nüsse von mir.“ Das Eichhörnchen ging ein kleines Stück zur Seite, und dort, wo es bis eben noch gesessen hatte, lagen nun drei goldene Nüsse, die das Licht des mittlerweile herunter gebrannten Lagerfeuers widerspiegelten. Sie sahen wunderschön und der Philosophi-kus war von ihrem Anblick so fasziniert, das er kein Wort sagen konnte.
„Dies sind die drei Nüsse der Weisheit, Güte und Besonnenheit!“ erklärte das Eichhörnchen, „Trage sie immer bei dir und diese drei Tugenden werden dich nicht verlassen. Nimm sie in die Hand und du wirst jedes Problem lösen können. Die einzige Voraussetzung dafür, daß sie funktionieren, ist, daß du daran glaubst, daß sie dir helfen. Und wenn du nicht an sie glauben willst, sind sie drei schöne Schmuckstücke!“ Der Philosophikus schluckte und sagte dann mit trockenem Mund und leiser Stimme: „Ich danke dir vielmals! Ich werde sie immer bei mir tragen, das schwöre ich dir!“
„Gib gut auf sie Acht! Nun ist es an der Zeit, daß ich wieder gehe. Ich wünsche dir einen guten Heimweg und mögest du die Antworten finden, die du suchst! Leb wohl, Philosophi-kus!“
„Leb wohl, Geist des Waldes!“ Kaum hatte der Philosophikus die letzten Worte ausgespro-chen war das Eichhörnchen schon mit langen Sprüngen in der Dunkelheit der Nacht ver-schwunden. Der Philosophikus stand langsam auf, ging mit langsamen Schritten zu den drei Nüssen herüber und hob sie ehrfürchtig auf. Nachdem er sie eine lange Zeit voller Bewunde-rung betrachtet hatte, verstaute er sie in seinem Hemd und legte sich guter Laune hin, doch schlafen konnte er diese Nacht nicht. Nachdem er sich die ganze Nacht auf seiner Lagerstädte hin und hergewälzt und über die Ge-schehnisse voller Stolz und Freude nachgedacht hatte, machte sich der Philosophikus am nächsten Morgen gut gelaunt daran, seinen Rückweg fortzusetzen.
Als der Philosophikus zwei Tage später an seiner Hütte ankam, erwartete ihn der König, der vor dem kleinen Anwesen des Philosophikus sein Lager aufgeschlagen hatten, schon voller Neugier und auch die Soldaten tummelten sich um den Wiedergekehrten. Der Philosophikus erzählte allen von seiner Reise und berichtete, was ihm der Geist des Waldes für eine Antwort gegeben hatte. Der König war mit der Antwort sehr zufrieden und auch die Soldaten waren überglücklich, endlich eine Antwort bekommen zu haben und schworen allesamt auf der Stel-le, daß sie sich sofort, wenn sie im Palast des Königs ankämen, auf die Suche ihrer eigenen Aufgabe machen würden. Der König gab allen seinen Mannen dafür zwei Wochen frei. Gut gelaunt und voller Enthusiasmus machte sich dann der Troß des Königs, nach einer sehr herz-lichen Verabschiedung, auf den Weg zum königlichen Palast.
Von da an wurde die Lehre vom Geist des Waldes im ganzen Land gelehrt und verbreitete sich bald auch über die Grenzen des Landes hinaus und alle, die sich auf die Suche nach ihrer eigenen Aufgabe machten, waren damit so beschäftigt und voller Eifer bei der Sache, daß sie jeglichen Gram und Mißmut ihren Mitmenschen gegenüber ihren Mitmenschen vergaßen und von dort an gab es nie wieder Zwistigkeiten und böse Auseinandersetzungen zwischen den Menschen gab. An Kriege war überhaupt nicht mehr zu denken.
Was den Philosophikus anging, so wurde er für seine Weisheit, Güte und Besonnenheit bald im ganzen Land bekannt und die Menschen kamen von überall her, um bei ihm Rat zu suchen. Bald nahm er dann einen Schüler auf, dem er die drei goldenen Nüsse vererbte, und auch der Schüler war wegen seiner Weisheit, Güte und Besonnenheit bekannt. Und so wurden die Nüs-se immer weiter von Lehrer zu Schüler weitergegeben und jeder von ihnen war weise, gütig und besonnen.
Tag der Veröffentlichung: 08.01.2009
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