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Im Dunklen


Warum ich? Warum musste unbedingt ich bei diesem verdammten Unfall erblinden? Das fragte ich mich die ganze Zeit. Das Leben war eine grausame Sache. Sobald sich ein Wunsch erfüllt, erkennst du den Haken. Ich war gerade so glücklich gewesen. Diesen Campingausflug ins Rosental hatte ich mir seit Ewigkeiten gewünscht. Wir hatten unter der mächtigen Fichte geschlafen, dem dicksten Nadelbaum, den ichje gesehen hatte. Aber er war morsch. Mein Vater hatte uns gewarnt, dass ein Teil eines Astes abbrechen und auf uns fallen könnte. Wir haben trotzdem darunter geschlafen und gemeint, dass schon nichts passieren würde. Dann haben wir uns an diesem wunderschönen, warmen Sommerabend in unsere Schlafsäcke gekuschelt und gequatscht. Es war doch ein Astteil abgebrochen. Das Holzstück hatte mich am Hinterkopf getroffen und mein Sehzentrum verletzt. Und nun stand ich da vor der Tür und spielte mich damit, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu bekommen.
Es war so schwer, die Dunkelheit auszuhalten, ständig zwinkerte ich, als würden meine Augen hoffen, so das Licht zurückholen zu können.
Endlich, der Schlüssel steckte und ich schlüpfte durch die Tür. Auf der anderen Seite der Haustür begann das Theater um das Abschließen noch mal, aber es wurde mit jedem Mal einfacher, so fand ich das Schlüsselloch diesmal schneller. Jetzt begann ich damit, mit dem Stock zu pendeln, das war schon zur Routine geworden. Langsam ging ich los. Ich hatte noch immer furchtbare Angst davor, wo anzurennen, so sehr, dass ich mir manchmal die Hand vors Gesicht halten musste.
Es war so furchtbar, ich konnte mich fast nicht mehr an diesen Weg erinnern, zumindest nicht an die Farben und Muster. Dabei ging ich ihn fast täglich, aber in meiner Vorstellung hatte er sich verändert. Als ich meinem Bruder mal beschrieben hatte, wie ich den Wald neben dem Weg „sah“, hatte er nur gelacht und gesagt: „So sieht er gar nicht aus.“ Für ihn vielleicht nicht, aber für mich schon! So sah mein Wald aus, konnte er das nicht verstehen? Woher wusste er, dass das, was seine Augen ihm zeigten, die Wirklichkeit war? Anfangs hatte ich mir nichts vorgestellt, hatte nur Dunkelheit gesehen, hatte mir nicht überlegt, wie die Welt um mich herum aussah. Jetzt tat ich das. Ich versuchte das, was meine Ohren und Hände mir zeigten, zu einem Bild zusammenzusetzen. Das war meine Art zu sehen.
Jetzt wurde aus Waldweg Holzboden, also war ich nun am Steg. Da ließ ich mich nieder und baumelte mit den bloßen Füßen im Wasser. Ich würde das alles schon noch in den Griff kriegen, zu meinem alten Leben zurückfinden, aber zuerst würde ich das kühle Wasser genießen. Für mich war es wunderschön blau und der Sonnenuntergang leuchtete in den schönsten Farben. Wie es wohl wirklich war? Ich würde es wohl nie herausfinden. Das war ja auch nicht wichtig. Es zählte nur, wie ich vor mir sehen konnte, wie das Wasser meine Füße umspülte. Bildete ich mir das nur ein oder war es wirklich wärmer als gestern? Eine Idee nahm in meinem Kopf Gestalt an. Ich tastete mit der linken Hand nach dem Seil, an dem man früher Boote befestigt hatte und nahm das Ende in die Hand. Einige Zeit hielt ich es in der Hand, befühlte es, zog etwas daran und versuchte Mut zu fassen. Lange saß ich da, das Seil in der Hand, die Füße im Wasser.
Und dann ließ ich mich ins Wasser gleiten. Ich konnte sehen, wie meine Kleidung um mich herum im Wasser schwebte und tauchte für einen kurzen Moment ganz unter. Als ich wieder auftauchte konnte ich auch meine Haare sehen, wie sie an meinem Gesicht, an meinem Hals und an meinen Schultern klebten. Tat das Wasser gut. Ich war ewig nicht mehr schwimmen gewesen, genauer gesagt, seit dem Unfall. Aus Angst, das Ufer nicht mehr finden zu können. Aber jetzt hatte ich ja mein Seil, nach dem ich reflexartig griff. Oh, wie ich diesen Moment genoss, im Wasser war alles so leicht, die Sorgen waren weg. Ich lies mich einfach schweben, genoss den Augenblick der Stille. Als ich in den Himmel schaute konnte ich mir einfach nicht vorstellen, das dort oben wirklich eine Wolke treiben sollte. Dazu war der Tag viel zu schön und ich viel zu zu glücklich. Ich war schon lange nicht mehr richtig glücklich gewesen, aber jetzt war ich es. Der Moment war perfekt.

Impressum

Texte: Wantpeace
Bildmaterialien: Wantpeace
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2012

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