Wie vom Blitz getroffen stand ich da, unfähig mich zu bewegen. Der Schock saß mir so tief in den Knochen, dass jeder einzelne höllisch schmerzte. Es regnete große Tropfen vom Himmel, doch sie berührten mich nicht, verdampften, bevor sie auch nur in die Nähe meiner Haut kamen.
Stille. Kein Geräusch wagte es, sie zu durchbrechen. Fassungslos starrte ich auf den leblosen Körper, der vor mir auf dem Boden lag. Das musste ein Traum sein. Es konnte nur einer sein. Das ich vor Wut und Trauer zitterte und meine Hände zu Fäusten ballte, bemerkte ich erst, als sich meine Fingernägel so tief in mein Fleisch gedrückt hatten, dass Blut daraus hervorquoll und auf den nassen Boden tropfte. Doch das kümmerte mich nicht.
Ohne Vorwarnung gaben meine Knie nach und ich sackte in mich zusammen. Kauerte jetzt neben ihm im Matsch und konnte es einfach nicht fassen. Wollte es nicht wahr haben. Vorsichtig hob ich meinen Arm, wollte seine Haut berühren, seinen Pulsschlag fühlen oder irgend ein anderes Anzeichen dafür finden, dass er nicht tot war. Er durfte es einfach nicht sein! Doch da war nichts, keine Wärme mehr auf seiner Haut, kein beruhigendes Pochen in seiner Brust und kein Leben mehr in seinen einst so wundervollen Augen.
Als hätte ich mich an ihm verbrannt riss ich meine Hand von ihm los und krallte sie in meine Brust. Der Schmerz wurde unerträglich, als würde mir die Seele aus dem Leib gerissen, damit sie ihm, in eine für mich unerreichbare Welt, folgen konnte. Ein Schrei entfuhr meinen Lippen, zeugte von den unendlichen Qualen die ich litt, bevor ich in Tränen ausbrach. Um uns weinte.
„Bitte“, hörte ich mich wimmern, mit einer Stimme die nicht mir zu gehören schien.
„Bitte, komm zurück.“
Man kann nicht vor der Vergangenheit weglaufen.
Man rennt nur im Kreis, bis man wieder in das gleiche Loch fällt, aus dem man entkommen wollte.
Nur das es noch tiefer geworden ist.
-Max Payne
Wie eine Geisteskranke sprintete ich durch die Wohnung. Mit noch von der Nacht zerwühlten Haaren und mindestens drei Kilo Schlaf in den Augen, versuchte ich gleichzeitig mir die Zähne zu putzen und meinen viel zu starken Kaffee runter zu würgen. Keine gute Idee, denn obwohl mir die Hitze der schwarzen Plörre nichts ausmachte, schmeckte die Kombination doch erschreckend ekelerregend und machte meine Bemühungen mir die Zähne zu reinigen zunichte. Ich hatte schon wieder verschlafen. Warum passiert das immer mir? Kopfschüttelnd über meine eigene Unfähigkeit aufzustehen, wenn mein Wecker es mir bafahl, trat ich die Tür zum Schlafzimmer meines Bruders mit voller Kraft auf und hoffte er würde, vom ohrenbetäubenden Knall den diese verursachte, sobald sie gegen seine Zimmerwand schlug, aufwachen. Doch dem war nicht so. Die einzige Reaktion auf mein unsaftes eindringen in sein Reich, bestand in einem undefinierbaren Brummen, das unter seiner Bettdecke hervordrang.
„Sammy wach auf, wir haben verpennt“, nuschelte ich gereizt die Bettdecke an, unter der er sich noch immer versteckte, und verteilte dabei, ohne das beabsichtigt zu haben, das bräunliche Kaffee-Zahnpasta-Gemisch, in kleinen Klecksen, auf dem dunklen Holzfußboden.
„Noch fünf Minuten“, quengelte er verschlafen und besaß doch tatsächlich die Dreistigkeit sich noch einmal, unter dem lauten Knarren seines Bettes, umzudrehen. Langsam wurde ich stinksauer. „ Sam, beweg, verdammt noch mal, deinen Arsch aus dem Bett und mach dich fertig. Sofort!“, schrie ich, genervt von der Tatsache, dass sich mittlerweile jeder Morgen wie dieser abspielte.
Wie zum Teufel sollte man ausgeruht und gut gelaunt in den Tag starten, wenn er so begann? Da Sam sich immer noch nicht rührte, griff ich beherzt nach seiner Decke, riss sie mit einem festen Ruck von seinem Körper und schliff sie beim Verlassen seines Zimmer hinter mir her. Damit hatten sich die Zahnpasta-Kaffee-Tröpfen auf seinem Fußboden auch schon mal erledigt.
Ha! Zwei Fliegen mit einer Klappe, das nenne ich mal gekonnt. Während ich die Decke auf dem Flur fallen ließ und ins Bad hastete, um mir den Mund auszuspülen und an dem Versuch zu scheitern, meine äußere Erscheinung für die anderen Menschen erträglich zu machen, bequemte sich mein Bruder dann glücklicherweise doch zum Aufstehen und bewahrte so sich selbst vor einer eiskalten Dusche in seinem Bett. Mit grimmiger Miene und schlurfenden Schritten durchquerte er den Flur, in aller Ruhe und betrat das Badezimmer. Brummend drängelte er sich neben mir vor das Waschbecken und begann sich die Zähne zu putzen.
„Jeden Morgen das gleiche Sam, das kann so nicht weiter gehen.“, zickte ich ihn an und versuchte die unzähligen kleinen Knötchen aus meinen Haaren zu bürsten. Er musterte mich nur mit einem frechen, Zahnpasta verschmierten Grinsen auf den Lippen, das immer breiter wurde, je mehr sich mein Gesicht zu einer schmerzverzerrten Maske verzog. Lach du nur, Idiot!
„Wann musst du anfangen?“, murmelte er schließlich und sah mich fragend an.
„In zehn Minuten.“, meinte ich nur verzweifelt und eilte aus dem Bad um mich anzuziehen.
„Das sollte doch zu schaffen sein.“, hörte ich ihn noch lachen, bevor ich geräuschvoll meine Zimmertür zu schmiss.
Natürlich kam ich viel zu spät in dem Café, in dem ich arbeitete an, was mir eine saftige Strafpredigt meines Chef´s und äußerst missgünstige Blicke diverser Mitarbeiter einbrachte. Als der Eigentümer, ein kleiner, pummeliger Gnom mit Halbglatze, dann der Meinung war, dass er mich für den Moment genug angeschrien und damit auch mit seiner Spucke bombardiert hatte, durfte ich mich endlich, mit fünfzehn minütiger Verspätung an meine Arbeit machen.
Es war furchtbar schlechtes Wetter draußen, was die Zahl der Gäste an diesem Tag stark dezimierte, mich aber nicht weiter störte. Das kleine Café lag mitten im Stadtzentrum und war sehr beliebt unter der arbeitenden Bevölkerung der unzähligen Bürogebäude, die man in Reih und Glied, die Hauptstraße entlang, gebaut hatte. Die Einrichtung war schlicht und in Cremetönen gehalten. Na ja, bis auf diese grässlichen Ölgemälde, die die Frau des Chef´s in ihrer künstlerischen Phase, fabriziert und somit auch dem Augenlicht der Kunden und Mitarbeiter den Kampf angesagt, hatte.
Ich ließ meinen Blick durch den kleinen und im Moment von nur vier Gästen besuchten Laden schweifen. Blieb ungewollt an einem der besagten Ungetüme aus grellen Farben und undefinierbaren Formen hängen, und musste mich beeilen meinen Blick wieder abzuwenden, bevor ich wirklich noch erblindete. Es erinnerte mich stark an das Verlangen in die Sonne zu sehen, obwohl dies der sichere Tod für das eigene Augenlicht bedeutete.
Deshalb musterte ich die wenigen Gäste. Da war ein älterer, bereits ergrauter Mann, der die Tageszeitung vor sich ausgebreitet hatte und interessiert jeden einzelnen Artikel las, eine schlanke, geschäftsmäßig wirkende Blondine, die hochnäsig an ihrem fettfreien Milchkaffee nippte und ein junges Pärrchen, das sich verliebte Blicke zuwarf. Wenn das heute so weiter geht, langweile ich mich bestimmt zu Tode, dachte ich genervt und seufzte innerlich. Jemand tippe mir auf die Schulter und riss mich damit aus meinen Gedanken. Ich drehte mich um und blickte in hellblaue, große Augen.
„Hi Betty“, begrüßte ich meine Kollegin kurz und setzte ein freundliches Lächeln auf.
„Hey Jaime, na wie siehts aus?“, wollte sie wissen und sah sich prüfend das Landeninnere an. Mein Lächeln erstarb.
„Tote Hose“, brummte ich nur gelangweilt und verschränkte die Arme vor der Brust. Betty nahm es gelassen und quitierte meinen Missmut nur mit einem belustigten Grinsen. Das Windspiel, welches über der Tür befestigt war erklang und kündigte somit einen neuen Kunden an.
Ein junger Mann mit silbernen, kurzen Haaren und hellen Augen betrat das kleine Geschäft, wie schon in den letzten Tagen um diese Zeit, und platzierte sich an einem Tisch an der Fensterfront auf der rechten Seite. Er war mir nicht geheuer. Ihrgendetwas an ihm bescherte mir jeden Tag aufs neue eine Gänsehaut sobald er das Geschäft betrat, ließ mein Herz für einen Moment aussetzten. Das konnte nichts gutes zu bedeuten haben. Keine Ahnung warum, aber irgendwas in mir wollte schreiend wegrennen, sobald seine große Gestalt in Sicht war. Oder doch lieber in seine Arme? Ich schüttelte den Kopf über meine wirren Gedanken, während neben mir ein entzücktes Seufzen erklang und ich zusehen konnte, wie sich Bettys Kopf knallrot färbte.
„Na geh schon“, bemerkte ich augenrollend über ihre Reaktion und schob sie leicht in seine Richtung. Ihre Wangen glühten, während sie mich mit einem verunsicherten Blick bedachte und ihr Körper doch tatsächlich zu zittern anfing.
„Willst du das nicht lieber übernehmen?“, quietschte sie ein paar Tonlagen zu hoch und sah mich flehend an.
„Nö“, grinste ich frech, wand mich von ihr ab und begann in aller Ruhe die Espressomaschiene sauber zu machen. Aus den Augenwinkeln konnte ich beobachten wie Betty, unter offensichtlich großer Anstrengung, zwei mal tief durchatmete, die Schultern straffte und sich schließlich auf den Weg zum Kunden begab. Dabei wippten ihre hellblonden Locken im Takt ihrer unsicheren Schritte.
Betty war wirklich hübsch. Jedoch nicht auf eine aufreizende, sondern eine eher niedliche, unschuldige Art, die in fast jedem Mann den Beschützerinstinkt weckte. Doch auch wenn man es ihr nicht ansah, konnte sie sich durchaus durchsetzten, wenn es nötig war. Ich bewunderte sie irgendwie. Na ja nicht unbedingt in diesem Moment, wo sie so unsicher und schüchtern wirkte, sondern in den Momenten, in denen sie es einfach schaffte, in jeder noch so verzwickten Lage, die positiven Aspekte zu sehen und eine Lösung für das Problem zu finden. Ich fragte mich kurz ob sie ihm gegenüber einfach nur schüchtern war oder vielleicht auch dieses ungute Gefühl im Bauch hatte, schob den Gedanken aber beiseite, da sie in seiner Abwesenheit wie ein Groupie von ihm schwärmte. Wie toll und gutaussehend er doch war.
Pah, alleine seine Haare, wie alt war er denn, neunzig? Aber Betty versicherte mir immer wieder, das es modern war, sich die Haare Weiß zu färben. Doch nachvollziehen konnte ich es trotzdem nicht. Nach nicht einmal zwei Minuten hatte sie es hinter sich und kam zurück an die Theke. Ich schmunzelte, als ich sah, dass ihr Gesicht eine noch dunklere Rotfärbung angenommen hatte.
„Und?“, fragte ich mit hoch gezogenen Augenbrauen und hatte Angst, dass sie gleich in Ohnmacht fiel, so wie sie aussah.
„Kaffee, schwarz“, stammelte sie mit leerem Blick. Ohne noch ein weiteres Wort an sie zu richten, da ich der Meinung war, dass sie mich so oder so nicht hörte, machte ich mich schnell an die Bestellung. Als ich fertig war, stellte ich ihr das dampfende Getränk vor die Nase und sah sie abwartend an. Doch sie machte keinerlei Anstalten die Bestellung zu servieren, starrte nur mit leerem Blick in die Ferne.
„Betty!“, ich wedelte mit der flachen Hand vor ihrem Gesicht herum, doch sie zeigte immernoch keinerlei Reaktion. Das wurde mir langsam echt zu viel, es war ja nicht so, als ob sie den Typen heute das erste Mal bediehnt hatte und trotzdem tat sie jedes Mal so, als wäre er das achte Weltwunder. Was hatte er nur an sich, dass sie so aus den Socken haute und das wohlgemerkt fast jeden Tag, mal abgesehen von seiner merkwürdigen Ausstrahlung.
Ich ließ meinen Blick durch den kleinen Raum schweifen, wollte herausfinden, was meiner Freundin ihre innere Stärken und den sonst so erfrischend frechen Charakter vergessen ließ. Unvorbereitet traf mich sein borender Blick. Er beobachtete uns mit einem zufriedenen Grinsen auf den Lippen. Er war sich augenscheinlich seiner Wirkung auf Betty vollends bewusst und genoss ihre unverständliche Reaktion auf ihn auch noch.
Mistkerl! Ich kniff kurz die Augen zusammen und warf ihm einen todbringenden Blick zu, bevor ich mich wieder meiner Freundin zu wand. Ich holte aus und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Das Klatschen hallte durch den kleinen Laden und plötzlich war es verdächtig ruhig. Doch das störte mich nicht weiter. Betty blinzelte verwirrt und rieb sich die Wange, die zu meinem Erstaunen von einem gut sichtbaren Handabdruck verziert wurde.
„Was?“, fragte sie verwirrt.
„Der Kaffee“, meinte ich nur und deutete energisch auf die Tasse, die vor ihr stand.
„Ich kann nicht“, flüsterte sie beschämt und verschwand überraschend schnell in Richtung Lagerraum. Ich atmete geräuschvoll und offenkundig genervt aus, nahm die Tasse, stellte sie mit samt Untertasse und einem kleinen Kecks auf mein Tablett und balancierte sie durch das Café zum Kunden. Ohne ihn noch einmal anzusehen, wobei er mich glücklicherweise ebenfalls keines Blickes würdigte, stellte ich seine Bestellung vor ihm ab, presste noch schnell ein höfliches „ Bitte“ heraus und wollte wieder hinter meiner sicheren Theke verschwinden. Doch er hatte anscheinend andere Pläne, packte mein Handgelenk und hielt mich mit einem eisernen Griff an Ort und Stelle.
Was zur Hölle soll das denn jetzt? Ich musterte ihn verwirrt und versuchte die Wut die in mir zu brodeln begann zu verbergen.
„ Haben sie noch einen Wunsch?“, fragte ich betont freundlich. Keine Ahnung warum, aber etwas in meinem Inneren sagte mir, dass er keinen Verdacht schöpfen durfte, dass ich... anders war. Endlich hob er den Blick und taxierte mich prüfend.
Seine Augen... Für den Bruchteil einer Sekunde, zogen sie mich in ihren Bann. Ihre Farbe war kaum zu beschreiben. Ein sehr helles Blau, vermischt mit einem merkwürdigen Silberton, der wie Nebel, mal dichter und mal dünner über dem Blau zu liegen schien.
Scheiße, sieh weg! Befahl mir mein Unterbewusstsein und ich wand den Blick ab, schüttelte kaum merklich den Kopf, um wieder klar denken zu können.
„Sir?“, fragte ich noch einmal und versuchte leicht seine Hand abzuschütteln. Sein Griff verstärkte sich und mit einem kurzen Ruck machte er mir klar, das er entschied wann ich gehen durfte. Ich wurde leicht panisch und hatte immer mehr Mühe ruhig und freundlich zu bleiben. Prüfend sah ich mich im Raum um, in der Hoffnung jemand würde bemerken, dass er mich bedrängte und mir zu Hilfe kommen. Doch niemand schien es zu bemerken. Betty war immer noch nicht an die Theke zurückgekehrt und alle anderen Gäste waren zu sehr mit sich selbst beschäftigt.
„Warum siehst du weg?“, fragte er plötzlich ruhig, vollkommen emotionslos und trotzdem, bei dem Klang seiner Stimme überzog innerhalb von Sekunden eine Gänsehaut meinen Körper. Demonstrativ sah ich ihm wieder in die Augen.
„Lassen sie mich bitte los!“, meinte ich immernoch freundlich, jetzt aber eine Spur schärfer. Mir wurde heiß. Scheiße! Ich atmete ein paar mal tief ein und aus, versuchte mich zu beruhigen, damit er nichts bemerkte. Doch zu spät. Plötzlich senkte er ruckartig den Blick auf seine Hand, die mein Handgelenk immernoch fest umklammerte.
Fuck! Er hatte es bemerkt. Seine Verwirrung ausnutzend befreite ich meinen Arm mit einem festen Ruck und begegnete erneut seinem Blick. Ich zwang mich zu einem Lächeln und ging dann hastig zurück an die Theke.
Blos weg von ihm. Doch das war mir nicht weit genug. Ich kochte innerlich und musste mich erst einmal beruhigen. Wollte raus aus seinem Blickfeld. Deshalb verschwand ich schnell durch eine Hintertür nach draußen um mich abzuregen. Die kühle, für den Frühling typische, Luft half mir sehr. Ich drückte meinen Körper gegen die eiskalte Hauswand und sank an ihr zu Boden.
Was war das nur gewesen? Was wollte er von mir? Weiß er es womöglich? Mein Herz schien bei diesem Gedanken einen Schlag auszusetzten. Nein das war absolut unmöglich. Er ist bestimmt nur ein aufdringlicher Kerl, der sich für unwiederstehlich hält. Versuchte ich mich selbst zu beruhigen. Nichts Besonderes. Nichts worüber man sich sorgen machen musste. Niemand ahnte etwas, wir hatten alle Spuren beseitigt. Niemand würde uns erkennen oder mit der Sache in Verbindung bringen. Niemand! Ich weis nicht wie lange ich dort so saß und mir selbst gut zuredete, doch irgendwann kam Betty zu mir und musterte mich besorgt.
„Jaime, was ist los?“, fragte sie leise, kniete sich neben mich und legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter. Zum Glück hatte ich mich wieder so weit unter Kontrolle, das meine Körpertemperatur der eines normalen Menschen zumindest nahe kam.
„Mir geht’s nicht gut. Ich glaub ich sollte nach Hause gehen.“, sie nickte kurz und legte ihre Hand prüfend auf meine Stirn. Dann weiteten sich ihre Augen und sie starrte mich aufgebracht an.
„Mein Gott Jaime, du glühst ja. Ich sollte besser Sam anrufen, damit....“
„Nein, ich schaffe das schon“, unterbrach ich sie schnell. Wenn Sammy von dieser Sache erfuhr und dem Typen auch noch begegnete, konnte ich für nichts mehr garantieren. Das ungute Gefühl in meinem Magen hatte sich nur noch verstärkt. Ich wollte nicht riskieren, dass Sam verletzt wurde. Bevor sie mir wiedersprechen konnte, stand ich auf, holte meine Sachen und machte mich durch die Hintertür auf den schnellsten Weg nach Hause. Zum Glück war es bereits Samstag, denn das hieß, dass ich die nächsten Tage frei hatte und erst am Dienstag Nachmittag wieder zum Dienst erscheinen musste. So könnte ich diesem Typen zumindest ein paar Tage aus dem Weg gehen und wieder einen klaren Kopf bekommen.
Ich kam nicht besonders weit. Zwei Straßen weiter rempelte mich jemand so stark an, dass ich fast zu Boden gefallen wären. Ich war so durcheinander, dass ich erst auf den zweiten Blick erkannte, wer da mit blutverschmiertem Gesicht und schwer atment vor mir stand. Konnte dieser Tag eigentlich noch schlimmer werden? Er schien auf dem Weg ins Café gewesen zu sein. Ich starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an und spürte erneut eine unangenehme Hitze, begleitet von einem merkwürdigen Kribbeln, besitz von meinem Körper ergreifen, die sich weiter ausbreitete und intensver wurde je näher ich ihm kam. Er hatte etliche Wunden im Gesicht und bereits verkrustetes Blut in den braunen kurzen Haaren.
„Was ist passiert?“, meine Stimme war vom Schock gezeichnet, nur noch ein Hauch ihrer selbst. Ich streckte meine Hand aus um sein Gesicht zu berühren, doch er verwehrte mir diesen Körperkontakt indem er seinen Kopf abwand. Jetzt mischte sich Wut unter meine Angst um ihn. „ Sam!“, presste ich zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. Ich ahnte langsam aber sicher was passiert war und das passte mir gar nicht.
„Antworte mir!“, er sah mich immernoch nicht an.
„Es tut mir leid.“, flüsterte er so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte. Weniger zögerlich und ohne darauf zu achten, dass ich ihm enventuell Schmerzen zufügte, griff ich grob nach seinem Kinn und drehte seinen Kopf, so dass er gezwungen war mich anzusehen. Die Leute um uns herum, waren stehen geblieben und musterten uns interessiert, doch das kümmerte mich nicht, auch wenn es für sie komisch ausgesehen haben musste, dass so ein durchtrainierter, blutverschmierter Hüne wie mein Bruder es einer war, vor so einem kleinen Persönchen wie mir zu kuschen schien.
„Was. Ist. Passiert?“, fragte ich ein letztes mal, wobei jedes einzelne Wort vor unterdrückter Wut nur so troff. Sam wand sich unter meinem borenden Blick.
„Die haben mich verarscht. Die Sache war eigentlich idiotensicher, ich konnte ja nicht ahnen, dass sie mich ans Messer liefern wollten.“, gab er kleinlaut zu und mir platze der Arsch. Bevor er reagieren konnte oder auch nur ahnte was ich vorhatte, landete meine flache Hand, unter einem lauten Klatschen in seinem Gesicht, so dass sein Kopf zur Seite flog und sich kleine Spritzer seines Blutes auf dem gepflasterten Steinboden verteilten.
„Willst du mich eigentlich verarschen?“, schrie ich jetzt.
„Es tut mir leid, Jaime.“
„Deine Entschuldigungen kannst du dir in den Arsch schieben. Ich kann´s nicht mehr hören Sam. Jedes Mal die gleiche Scheiße. Geh nach Hause, wisch dir dein verdammtes Blut aus dem Gesicht und tritt mir heute nicht mehr unter die Augen.“, fuhr ich ihn schroff an und wartete auf eine Reaktion seiner seits. Er sah nur zu Boden, nickte jedoch um mir zu signalisieren, dass er mich verstanden hatte.
Erst gegen acht Uhr kam ich, immernoch brodelnt vor Wut, zu Hause an. Doch anstatt mir, wie verlangt, aus dem Weg zu gehen, wartete Sammy im Wohnzimmer auf mich. Als ich dann die Haustür hinter mir zu schmiss, kam er mir bereits entgegen und zog mich in seine Arme.
„Es tut mir leid.“, murmelte er, wie schon zuvor, schuldbewusst, vergrub sein Gesicht in meinen Haaren und drückte mich fester an sich. Ich ließ es zu, meine Wut verpuffte und ich lehnte mich gegen seine breite Brust, sog seinen so vertrauten Geruch in meine Lungen. „ Das geht so nicht weiter, Sam.“, die Trauer in meiner Stimme war deutlich zu hören, ich schaffte es einfach nicht sie zu unterdrücken. Sam antwortete mir nicht und auch ich blieb stumm. Ich weiß nicht wie lange wir so in unserem kleinen Flur standen, doch irgendwann seufzte er und schob mich ein Stück von sich um mir in die Augen sehen zu können.
„Wo warst du?“, fragte er vorsichtig, darauf bedacht den offensichtlichen Vorwurf in seiner Stimme zu unterdrücken. Aber es gelang ihm nicht. Er kannte die Antwort bereits und sah mich doch weiterhin fragend an.
„Was glaubst du denn?“, entgegnete ich ihm nur genervt, löste mich aus seinem Griff und fing an mir Schuhe und Jacke abzustreifen und in der Garderobe zu verstauen. Sein Blick heftete sich auf meine Hände. Meine Fingerknöchel waren aufgeschürft und Blut hing an ihnen.
„Geht es dir gut?“, sein Blick wurde besorgt und seine Stimme liebevoll.
„Sicher“, meinte ich nur kurz, drückte mich an ihm vorbei, da er fast den gesamten Flur mit seinem breiten Kreuz ausfüllte, und ging ins Bad um meine Hände vom Blut frei zu waschen.
„Du wirst dich in Zukunft aus diesem ganzen illegalen Scheiß raus halten. Ich war bei Paul und Jason, du bist raus.“
„Das hättest du nicht tun müssen.“
„Ach nein Sam? Ich hab ja gesehen wie toll du das alleine regeln kannst.“, Willkommen zurück Wut, lange nicht gesehen.
„Jaime...“
„Nix Jaime! Ich hab einfach keinen Bock mehr auf diese ganze Scheiße. Verdammt Sam, ich will dich wegen so einem Müll nicht verlieren, verstehst du das denn nich?“, Tränen stiegen mir in die Augen und ich versuchte sie weg zu blinzeln. Vergebens. Er kam auf mich zu, wollte mich trösten, doch ich erhob warnend meine Hand und er verstand, blieb stehen.
„Du bist alles was ich habe Sam. Ohne dich würde ich nicht mehr leben und dafür bin ich dir auch mehr als dankbar, aber ich würde es auch nicht mehr wollen...“, meine Stimme brach, ich sah zu Boden, überwältigt vom Schmerz der aufkeimenden Erinnerungen. Bevor ich hätte Einwände erheben können, drückte er mich bereits an sich und strich mir sanft übers Haar.
„Schhh, alles wird gut, ich bin ja da.“, flüsterte er mir beruhigend ins Ohr, so wie er es auch früher immer getan hatte. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, fing hemmungslos an zu schluchzen. Meine Beine gaben nach, doch Sam fing mich ab, setzte sich mit mir in den Armen, den Rücken an die Wand gelehnt, auf den kalten Fliesenboden. Ich fühlte mich wieder wie ein schwaches, verängstigtes Kind, fing an zu zittern und krallte mich mit aller Kraft in Sammys schwarzes Shirt.
Unzählige, längst verdrängte Bilder schossen mir durch den Kopf und jedes einzelne schmerzte einer glühenden Klinge gleich die mein Innerstes zeriss. Eine bleierne Schwere erfasste mich und machte es mir unmöglich mich zu bewegen, nagelte mich an Ort und Stelle fest und zwang mich so dazu meine schreckliche Vergangenheit hilflos erneut zu druchlaufen. Wie in Trance lauschte ich Sammys Singsang der immer gleichen, tröstenden Worte, dem Einzigen, dass mich in der Realität hielt und nicht vollends in die Vergangenheit abdriften ließ.
Mein Körper strahlte eine unnatürliche Hitze ab, die die Luft um uns herum zum flimmern brachte, doch im Moment war ich nicht in der Verfassung mich zu beherrschen. Ich versuchte es, doch die verhassten Bilder hinderten mich daran. Dieser Zusammenbruch war nicht der Erste. Bei weitem nicht. Es war schon fast eine Art Routine, die sich mit erschreckender Regelmäßigkeit, in kleineren oder größeren Abständen, wiederholte und mich jedes einzelne Mal fast umzubringen schien. Doch auch dieses Mal würde es vorbei gehen, so wie auch schon unzählige Male zuvor. Das sagte ich mir immer wieder.
Es war bereits früher Morgen, als ich erwachte. Das verriet mir der Blick auf die, leise an der Wand tickenden, Uhr.
„Guten Morgen Sonnenschein“, grinste Sammy fröhlich über meine Schulter. Er sah verdammt müde aus. Seine braunen, kurzen Haare standen wild in alle Richtungen ab und unter seinen Augen hatten sich dunkle Ringe gebildet.
„Na gut geschlafen?“ Wir saßen immernoch im Bad. Fest an ihn gedrückt, lag ich wie ein Embryo zusammengerollt in seinen Armen und sah ihn verschlafen an.
„Warst du die ganze Nacht auf?“, fragte ich müde und streckte mich genüsslich. Natürlich hatte ich gut geschlafen, das wusste Sammy. In seiner Nähe fühlte ich mich einfach nur sicher, er war mein einziger Halt in dieser abartigen, kalten Welt.
„Lust auf Frühstück?“, meinte er nur und überging meine Frage damit einfach, so wie ich seine zuvor auch. Natürlich hatte er in dieser Nacht kein Auge zu gemacht. Das tat er nie, wenn es mir so schlecht ging. Sein Beschützerinstinkt war mehr als nur ausgeprägt, er schien eher ein dominierender Charakterzug seiner seits zu sein.
Ein Blick auf sein Shirt, zeigte mir wie wenig ich mich unter Kontrolle gehabt hatte. An der Stelle an der mein Kopf die Nacht über geruht hatte, prangte ein tellergoßes Brandloch und auch die darunter freigelegte Haut hatte eine unnatürliche rote Farbe angenommen. Ich sah mich genauer um und musste feststellen, dass sich dieses Bild an allen Körperstellen, mit denen er mich berührt hatte, wiederholte. Auch meine Kleidung konnte man nicht mehr als solche identifizieren. Es waren nur noch einzelne, verkohlte Stoffreste, die an meinem Körper herunterhingen.
„War´s so schlimm?“, diese Frage war eher an mich selbst gerichtet, als an ihn und doch schüttelte er den Kopf und machte eine wegwerfende Handebewegung.
„Ein Indianer kennt keinen Schmerz.“, feixte er und grinste mich frech an.
„Du spinnst doch“, lachte nun auch ich, stand auf und suchte die Brandsalbe aus dem Badschränkchen. Es gehörte dazu, das wussten wir, und doch machte ich mir jedes Mal auf´s neue Vorwürfe. Auch Sam stand jetzt auf, stellte sich vor mich und zog sich den verkohlten Fetzten Stoff über den Kopf, damit ich die Salbe auf seinen Verbrennungen verteilen konnte. Die nur noch zur Hälfte gefüllte Tube in meiner Hand, verbesserte meine Stimmung nicht gerade.
Mein Bruder blieb stumm, während ich seine Wunden versorgte, doch es war kein vorwurfsvolles Schweigen, keine unangenehme Stille, eher ein stummes Versprechen, dass er immer für mich da sein würde, egal wie sehr ich ihn dabei auch verletzte. Doch gerade das war es, wodurch ich anfing mich selbst zu hassen. Jedes Mal, wenn ich ihn verletzte, wenn er durch mich Schmerzen hatte, ein bisschen mehr. Meinem eigenen Egoismus war es schließlich zu verdanken, dass er noch bei mir war, sich nicht traute mich alleine zu lassen und sein eigenes Leben zu leben.
Nur weil ich ihn brauchte. Weil ich dumme Pute der Meinung war, diese ganze Scheiße ohne ihn nicht überstehen zu können. Er würde niemals eine eigene Familie gründen, eine nette Frau finden, Kinder zeugen und diese dann aufwachsen sehen, das war mir klar. Aus freien Stücken würde er mich niemals verlassen, sein ganzes Leben mit seiner kleinen Schwester verbringen und irgendwann einfach sterben, ohne wirklich etwas im Leben erreicht zu haben, etwas hinterlassen zu haben, durch das sich die Menschen an ihn erinnerten.
Und was wäre dann? Dann wäre ich wieder alleine. Dass ich kein Mensch sein konnte, war mir klar. Die verbrannte Haut und die älteren, bereits verheilten Narben auf dem Körper meines Bruders waren ein unumstrittener Beweis dafür. Ich konnte nicht wissen wie lange ich leben würde, ob ich unsterblich war, oder doch die Lebensspanne eines Menschen hatte, wusste ich nicht, das würde die Zeit zeigen. Ich hoffte stark auf letzteres, wusste aber in meinem tiefsten Inneren, dass die Natur solche Kräfte nicht an ein Menschenleben verschwendete. Das wäre reines Wunschdenken. Und doch klammerte ich mich an diese Hoffnung, wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring, denn was sollte ich mit dem Geschenk der Unsterblichkeit anfangen? Ich war ein emotionaler Krüppel.
Sam war der Einzige, für den ich Gefühle hatte, dem ich sie zeigen konnte und dessen Nähe ich ertrug, ja sogar brauchte. Ich war einfach abhängig von ihm und wenn er irgendwann nicht mehr wäre....Ich stockte. Die Vorstellung ihn zu verlieren war einfach mehr als ich ertragen konnte. Es ging einfach nicht. Sam war alles für mich, mein Bruder, mein bester Freund, meine ganze Familie. Wie sollte ich denn ein Leben ohne ihn führen können.....? Erneut unterbrach ich meine Gedanken, denn ich spürte bereits, wie sich neue Tränen in meinen Augen sammelten. Schnell blinzelte ich sie weg.
„So , fast wie neu, findest du nicht?“, meine Stimme klang fester, als ich erwartet hatte. Sammy begutachtete mein Werk ganz genau, bevor er mit einem fröhlichen
„Bin begeistert“, antwortete, mir einen Kuss auf die Stirn drückte und das Bad in Richtung Küche verließ. Wehmütig sah ich ihm hinterher. Es war alles meine Schuld. Ich war ein dummes, egoistisches Miststück....
Allen Veränderungen,
selbst jenen, die wir ersehnt haben,
haftet etwas Melancholisches an,
denn wir lassen einen Teil von uns selbst zurück.
Wir müssen ein Leben sterben,
ehe wir ein anderes beginnen können.
-Anatole France
Bäume. Überall waren riesige Bäume, die mit ihren Ästen nach dem Himmel zu greifen schienen. Die wärmenden Sonnenstrahlen schafften es kaum durch ihr dichtes Blätterdach zu stoßen. Der Boden war, bis auf einen schmalen Trampelpfad, von Farnen überwuchert und auf der Erde verrottende Stämme wurden von dicken Moosteppichen bedeckt. Eine dünne Nebelschicht wabberte über den Waldboden und verschaffte der Umgebung eine gruselige Note.
Die Glühwürmchen, die um uns herumschwirrten, wollten so gar nicht in dieses leicht düstere Bild passen. Waren die nicht eigentlich nur Nachts unterwegs? Langsam fühlte ich mich von den leuchtenden Punkten verfolgt, denn sie tauchten jedes Mal auf, wenn ich außerhalb der Stadt unterwegs war. Komisch. Schweigend liefen Sam und ich den Weg entlang. Die Augen stur geradeaus gerichtet und die Schönheit der Natur ignorierend. Weder eine Karte noch ein Kompass zeigten uns den Weg, denn wir hätten ihn auch mit verbundenen Augen gefunden, waren wir doch schon so oft an diesem Ort gewesen.
In einiger Entfernung konnte ich das Rauschen eines Wasserfalls vernehmen. Was bedeutete, dass wir bald da waren. Wir bogen nach rechts, verließen somit den Trampelpfad und stapften jetzt durch das dichte Unterholz, bis man bereits das Salz in der Luft schmecken konnte und sich der dichte Wald langsam zu lichten schien. Das Tosen des Meeres, das unter den riesigen Klippen wütete, wurde immer lauter und eine vertraute Melancholie ergriff von mir Besitz.
Sam ging es genau so, das konnte ich spüren. Sein trauriges Lächeln spiegelte meines. Nur noch wenige Schritte, dann standen wir direkt am Rand der Klippen. Unter uns brachen sich die Wellen an den aus dem Wasser ragenden Felsen. Sie versprachen den Tod, sollte man auch nur einen Schritt zu weit gehen oder abrutschen. Doch mir machten sie keine Angst. Für Sam und mich bedeutete dieses vertraute Bild des unendlich erscheinenden Meeres nur eines - Freiheit! Denn hier begann unser neues Leben.
Ich schloss meine Augen und sog tief die beruhigende, salzige Luft in meine Lungen. Dann lies ich meinen Blick schweifen und blieb an dem kleinen, hölzernen Kreuz hängen, das sich links neben Sammy, dierekt am Abhang befand. Auch er musterte es mit einer undurchdringlichen Miene. Ich ging einen Schritt auf ihn zu und legte ihm meine Hand auf die Schulter.
„Zehn Jahre“, ich flüsterte nur, Sammy verstand und nickte, hob seinen Blick und sah mir in die Augen. Er lächelte wieder und legte seine Hand auf meine.
„Und trotzdem konnte ich dich nicht beschützen. Ich hätte...“
„Nein Sam“, unterbrach ich ihn ruhig, sah ihn liebevoll an. Sein Blick wirkte gequält, er machte sich Vorwürfe, dass wusste ich. Doch ihn traf keine Schuld, niemals hätte ich ihn dafür verantwortlich machen können.
„Du hast mich gerettet“
„Aber...“
„Nichts aber. Es ist vorbei, das ist alles was zählt.“, mein Blick verschleierte sich und ich sah wieder zu dem hölzernen Kreuz. Ein, von der Sonne ausgebleichtes, Foto und ein goldener Schriftzug darunter zierten es. Links konnte man ein kleines, etwa achtjähriges Mädchen erkennen. Es hatte ein strahlendes Lächeln auf den Lippen und dunkelrote, lange Haare, die ihr Gesicht liebevoll zu umspielen schienen. Neben ihr stand ein etwas älterer Junge mit braunen, kurzen Haaren der die kleine liebevoll ansah und einen Arm um ihre Schultern geschlungen hatte. Darunter stand in goldenen Buchstaben ´Lilith und Mikel`. Wehmütig lächelnd legte ich die einzelne weiße Rose in meiner Hand, vor das Kreuz und strich kurz über das verwitterte Holz. Dann trat ich einige Schritte zurück und gab somit den Weg für Sam frei. Er ging ruhig auf das Kreuz zu, betrachtete das Bild der beiden genau, bis auch er seine weiße Rose vor das Mahnmal legte.
„Wir sollten gehen, bevor uns jemand sieht.“, meinte Sam dann, mit gesengtem Blick. Ich schüttelte leicht den Kopf. Niemand außer uns würde hier her kommen. Niemanden ineteressierten die beiden toten Kinder. Man hatte sie einfach vergessen und das war auch gut so.
„Nein. Sie haben es verdient, dass jemand um sie trauert.“, meinte ich traurig und Sam blieb stehen.
„Du hast recht“, stimmte er mir dann zu und wir setzten uns gemeinsam auf einen großen Stein direkt vor dem Kreuz.
„Kannst du dich noch an den Moment erinnern, als das Foto geschossen wurde?“, durchbrach er nach einiger Zeit die Stille und ich musste lächeln.
„Ich hatte Geburtstag und es gab einen Kuchen.“, erinnerte ich mich, winkelte meine Beine an und schlang die Arme um sie.
„Ich hab dich immer für deine Stärke bewundert.“, gestand Sammy plötzlich und ich sah ihn überrascht an.
„Na ja, du konntest, trotz der ganzen Scheiße, immernoch lachen und bist nicht daran zerbrochen. Sieh dir das Bild an.“, er nickte zum Kreuz und ich folgte seinem Blick.
„Zu diesem Zeitpunkt warst du schon vier Jahre dort und du lächelst, als wärst du das glücklichste Kind der Welt. Als wäre nie etwas gewesen.“, er hatte recht. Wenn man das Bild betrachtete, sah man ein glückliches, sorgenloses Mädchen, das ihre Kindheit in vollen Zügen zu genießen schien. Niemand würde den Schmerz erahnen, den es tagtäglich fühlte. Es war eben nur eine Momentaufnahme. Es zeigte nur diesen einen, so vergänglichen Augenblick, in dem ich glücklich war.
„Lilith war stark und sie hatte dich. Wäre ich alleine gewesen, ich hätte es niemals so lange ausgehalten. Du warst mein Halt und bist es auch heute noch Sam.“, er rückte ein Stück näher an mich heran und nahm mich in den Arm.
„Sie war wirklich stark, doch du bist stärker, denn du musst mit ihren Erinnerungen leben und egal was du sagst, ich hätte dich beschützen müssen. Das werde ich mir niemals verzeihen.“, er sah beschämt zu Boden.
„Sam...“
„Nein, ich war einfach nicht stark genug. Ich hab dir nur wieder und wieder gesagt das alles gut wird, dich angelogen um dir Mut zu machen, dabei hatte ich selbst so große Angst.“, seine Stimme war nur noch ein Flüstern und sein Körper bebte, ich weiß nicht ob vor Wut oder Trauer. Ohne auch nur eine einzige Gefühlsregung zu zeigen saß ich neben ihm. Lauschte seinen Worten, wollte ihm wiedersprechen und tat es doch nicht. Ich hatte ihm schon unzählige Male gesagt, dass ihn keinerlei Schuld traf, dass er alles in seiner Macht stehende getan hatte und mir damals wie heute allein seine Anwesenheit Trost spendete. Doch es brachte nichts und ich konnte es nicht noch einmal sagen, denn in den Tiefen meiner selbst, gab es einen Teil von mir, der sich mehr als alles andere wünschte, er hätte mir damals geholfen, mich beschützt. Ich kam mir hilflos vor und schämte mich gleichzeitig solche Gedanken zu haben. Er selbst war nur ein Kind gewesen und hätte mir nicht helfen können. Niemand hätte das gekonnt. Als ich die ersten Tränen über seine Wange laufen sah, verschleierte sich auch mein Blick und ich konnte mich nicht mehr zusammen reißen.
„Wie ein Feigling haben ich mich unter meiner Bettdecke versteckt, mir die Ohren zu gehalten um deine Schreie, dein Wimmern nicht hören zu müssen, anstatt dir zu helfen. Anstatt dir die Hilfe zu geben nach der du geschrien hast. Diese Feigheit kann ich nie wieder gut machen Jaime. Jedes einzelne Mal, wenn du die Kontrolle verlierst, zusammen brichst, und ich die Schmerzen spüre, genieße ich sie. Sehe sie als Strafe für das an, was du wegen mir durch machen musstest. Doch das Schlimmste ist, dass ich weiß, dass diese Schmerzen nicht mal ansatzweise an das heran reichen, was du durchleiden musstest. Dass die Narben auf meinem Körper nur ein Bruchteil von denen auf deiner Seele sind.“
„Sam, bitte...“, schlurchzte ich unter Tränen und sah ihn flehend an.
„Du bist nicht Schuld. Du warst ein hilfloses Kind genau wie ich, doch jetzt sind wir erwachsen. Wie haben uns befreit, ein eigenes Leben aufgebaut. Auch wenn es nicht leicht war und auch immernoch nicht ist, doch wir haben es geschafft. Du und ich, Sam...“, meine Stimme brach und Sammy drückte mich fester an sich.
„Du und ich“, wiederholte er flüsternd meine Worte.
„Ich schwöre dir, dass ich nie wieder zulassen werde, dass dir jemand so weh tut Jaime. Nie wieder.“, versprach er mit schwacher Stimme und doch klang es wie eine Drohung. Eine Warnung an jeden der mir zu nahe kam.
Ich schniefte laut und wollte ihm gerade das gleiche Versprechen geben, als mich ein Gefühl des Unbehagens durchzuckte wie ein Blitz den dunklen Nachthimmel. Ruckartig richtete ich mich auf und suchte mit meinen Augen die Umgebung nach dem Auslöser dieses Gefühls ab. Sofort verschlossen sich meine Emotionen, wie ein Safe und mein Körper stellte sich, ohne mein Zutun, auf einen Kampf ein. Jeder Muskel in meinem Leib, war zum zerreißen gespannt. Meine Gefühle und Gedanken schienen in weite Ferne gerückt zu sein, Jahre zurück zu liegen. Ich wollte Sammy, der meinen Arm fest umklammert hielt, von mir schieben, ihn weg schicken, damit er in Sicherheit war, doch als ich mich zu ihm umdrehte war er verschwunden. Weg. Als hätte er sich in Luft aufgelöst.
„Sammy?“, hörte ich mich verwirrt fragen, doch ich bekam keine Antwort. Was zur Hölle war hier los? Eine Bewegung in meiner Nähe erinnerte mich wieder an die beunruhigende Energie die ich gespürt hatte. Meine Haut fing an zu prickeln und für den Bruchteil einer Sekunde tauchte ein Gesicht vor meinem inneren Auge auf.
„Scheiße“, flüsterte ich geschockt. Plötzlich konnte ich auch das Unbehagen zuordnen, denn ich hatte es schon einmal gespürt. Im Café. Fuck, Fuck, Fuck! Fluchte mein Unterbewusstsein. Wie aufs Stichwort tauchte er auf. Der Kerl mit den silberweißen Haaren und den faszinierenden Augen. Lässig, in dunklen Jeans und einem schwarzen Shirt gekleidet, trat er hinter den Bäumen, hinter denen ich ihn vermutet hatte, hervor und schlenderte gelassen auf mich zu. Den Blick direkt auf mich gerichtet.
Scheiße, was wollte der denn hier? Verfolgte er mich etwa? Nein, es war bestimmt nur ein dummer Zufall, dass er ebenfalls in diesen Wäldern unterwegs war und wir uns hier begegneten. Versuchte ich mir selber einzureden, obwohl ich mir durchaus darüber im klaren war, dass die Wahrscheinlichkeit, ihm hier, in diesem verfluchten Wald, der ungefähr Dreihundert Kilometer von der Stadt in der wir lebten entfernt war, über den Weg zu laufen, mehr als gering war. Doch warum zum Teufel hätte er mich denn verfolgen sollen? Ich war doch nur eine austauschbare Kellnerin in einem kleinen Café. Ich hatte keinen blassen Schimmer. Das Einzige was ich jetzt tun konnte, war die Haltung zu bewahren und so zu tun, als wäre nichts gewesen, als wäre es vollkommen normal ihm hier zu begegnen. Als wäre ICH vollkommen normal, denn erneut schrie mir mein Instikt zu ich solle vorsichtig sein, mich menschlich geben.
Er behielt sein Tempo bei, wurde weder schneller noch langsamer, obwohl er nur noch wenige Meter von mir entfernt war. Ein süffisantes Lächeln bildete sich auf seinen Lippen. Ich starrte ihn immernoch an, direkt in seine Augen und unfähig mich auch nur einen Millimeter zu rühren. Ich wollte etwas sagen, doch so sehr ich mich auch bemühte, ich brachte kein Wort heraus. Mein Verstand ratterte, versuchte meine Situation zu analysieren und eine Lösung zu finden. Warum konnte ich mich nicht bewegen? Es war keine Schockstarre oder dergleichen, immerhin arbeitete mein Kopf auf hochtouren, befahl meinen Glieder immer wieder sich zu bewegen, meinem Mund etwas zu sagen und doch blieb ich stumm und rührte mich nicht.
Adrenalin und Feuer schossen durch meine Venen, in einer tödlichen Mischung. Versuchten mich zu kontrollieren, um ihn in einer Explosion aus Wut, Unverständnis und Hass dem Erdboden gleich zu machen. Doch nichts tat sich. Nach Außen hin wirkte ich wie ein eingeschüchtertes kleines Mädchen, dass in seinem Bann stand, doch innerlich brodelte es in mir, versuchte wie ein Vulkan auszubrechen. Erfolglos. Und dann war plötzlich alles klar. Seine Augen! Schrie mein Verstand. Es musste an diesem Blick liegen, der mich bereits wenige Tage zuvor im Café festgehalten hatte. Scheiße! Was sollte ich nur tun? Auch meine Augen weigerten sich mir zu gehorchen, starrten ihn weiterhin an, genossen diesen Anblick sogar.
Verräter! Am liebsten hätte ich wie ein gnatziges Kind heftig mit dem Fuß auf dem Boden aufgestampft und dabei laut Geschrien, nur um meine Unzufriedenheit auszudrücken. Aber nein, noch nicht einmal dazu war ich in der Lage. Und dann war es soweit. Er stand direkt vor mir, kümmerte sich augenscheinlich nicht um irgendeinen persönlichen Breich, einen Sicherheitsabstand sozusagen, in dem er nichts verloren hatte. Eine große Hand legte sich auf meine Hüfte, schob sich unter meinen dünnen Pulli und berührte meine nackte Haut, zog mich näher an seinen Körper, die andere griff sanft nach meinem Kinn und hob es an. Plötzlich war auch mein Kopf vollkommen leer, ich konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, registrierte lediglich die Eindrücke um mich herum, doch konnte diese nicht verarbeiten.
Ich war nicht mehr als eine hilflose Puppe, einem Fremden vollkommen ausgeliefert. Doch genau dieses Gefühl ließ mich kämpfen. Weckte meinen Verstand, ließ meinen Kopf wieder arbeiten. Denn niemals wieder wollte ich mich so fühlen. Das hatte ich mir geschworen. Ich war kein kleines Kind mehr, dass hilflos war und alles mit sich machen ließ, weil es Angst hatte und sich nicht wehren konnte. Nie wieder wollte ich jemandem so ausgeliefert sein und schon gar keinem dahergelaufenen Möchtegern, der meinte mir einfach mal so, ohne Grund, meinen freien Willen nehmen zu können. Nicht mit mir!
„Tja, so besonders scheinst du ja dann doch nicht zu sein, was? Das war ja schon fast zu einfach.“, meinte er nur gelangweilt und begutachtete prüfend mein Gesicht, nichts ahnend von dem was in meinem Inneren vor sich ging.
„Schade eigentlich. Dabei dachte ich du wärst diejenige, nach der ich suche.“, er klang kein bisschen enttäuscht über diese Tatsache, auch wenn seine Worte diesen Eindruck erwecken sollten. Ich stockte kurz, in meinem inneren Kampf über die Kontrolle meines Körpers und dachte über seine Aussage nach. Was dachte er denn wer ich war, oder besser noch was ich war? Irgendetwas in meinem Kopf flüsterte, dass entgegen seiner Annahme, ich diejenige war die er suchte. Ein Grund mehr mich normal, menschlich, zu verhalten.
„Na ja, tut mir ja leid Süße, aber dann ist hier wohl Endstation für dich und deinen kleinen Freund. Denn so wie das aussah wird er deinen Tod nicht so einfach hinnehmen und am leben lassen, kann ich dich auch nicht so einfach, da ist es doch nett von mir, ihm dieses Leid zu ersparen, denkst du nicht auch?“, flüsterte er in einem gönnerhaften Ton. Und als wäre ich durch meine Unfähigkeit mich zu bewegen nicht schon genug gedemütigt, drückte er mein Kinn hoch und wieder runter, so dass es aussah als würde ich nicken. Plötzlich erinnerte ich mich wieder daran, dass Sammy verschwunden war. Ich hatte gar nicht mehr daran gedacht. Wie konnte mir das nur passieren? Sam war alles was ich hatte, wie um Himmels Willen, konnte ich sein aprubtes Verschwinden nur vergessen? Wut. Scham. Angst. Eine Welle aus Emotionen überrollte mich. Wütende Flammen jagten durch meine Adern, stärkten mich und richteten sich gegen ihn, machten ihn für Sammys Verschwinden und meine Unfähigkeit verantwortlich. Ich ließ mich mitreißen. Wer meinem Bruder in irgend einer Art und Weise drohte, der brauchte von mir kein Mitleid zu erwarten. Da konnte auch sein Hokus-Pokus-Blick nichts mehr dran ändern, denn der war ein Scheißdreck im Gegesatz zu dem, was da in meinem Inneren wütete. Der Typ hatte sich eindeutig mit der Falschen angelegt. Alle Gedanken daran mich zurück zu halten waren verflogen, ich konnte sie nicht mehr fassen. Mein Instinkt, mein Verstand, mein gesamter Körper schrie danach ihm zu zeigen mit wem er sich hier angelegt hatte. Ihm einen Denkzettel zu verpassen und nichts, absolut gar nichts konnte mich noch davon abhalten. Endlich hatte ich meinen Körper wieder vollkommen unter Kontrolle. Ich sah ihm immernoch in die Augen, doch sie hatten keinerlei Wirkung mehr auf mich. Mein Unterbewusstsein rieb sich vorfreudig die Hände. Ich schloss die Augen, spürte sofort wie er sich anspannte.
„Bist du dann fertig?“, entgegnete ich ihm leicht genervt, öffnete sie wieder und sah ihn herausfordernd an. Sie hatten ihre Farbe geändert, ein tiefes Rot angenommen das vereinzelt von Hellblauen Stellen durchzogen wurde, das wusste ich, doch ihn überraschte es so sehr, dass ihm für den Bruchteil einer Sekunde die Gesichtszüge entglitten. Jedoch hatte er sich schnell genug wieder unter Kontrolle, so dass es einem normalen Menschen wahrscheinlich gar nicht aufgefallen wäre. Sein Grinsen wurde breiter.
„Beeindruckend, vielleicht habe ich doch gar nicht so falsch gelegen.“, meinte er triumphierend.
„Vielleicht...“, entgegnete ich nun ebenfalls Lächelnd.
„Pech für dich, dass du damit dein Todesurteil unterschrieben hast.“, mit diesen Worten löste ich mich von ihm, konzentrierte mich auf das Blut, dass durch seine Adern pulsierte, jeden Winkel seines Körpers durchströmte und unterwarf es meiner Kontrolle, ließ ihn erstarren. Das Tosen des Meeres wurde lauter, die Wellen höher. Mit langsamen, bedächtigen Schritten, näherte ich mich der Klippe und beobachtete das Spiel des Wassers unter mir. Er wollte mir folgen, bemerkte jedoch, dass er nun derjenige war, der sich nicht mehr bewegen konnte.
„Was zum...“, flüsterte er überrascht und ich kicherte wie ein vergnügtes Kind.
„Jedes Lebewesen besteht zu einem Teil aus Wasser, weißt du....“, fing ich an, ließ meine Erklärung jedoch unbeendet, denn ich wusste das er verstand, was ich ihm damit sagen wollte. Ich warf ihm einen zuckersüßen Blick über die Schulter zu. Er erwiederte diesen sah mir direkt in meine Augen und lies sich nicht das geringste anmerken. Die fast schwarzen Wolken die schon heute Mittag ein Gewitter angekündigt hatten, bedekten mittlerweile den gesamten Himmel, ließen kaum noch Licht durch, so dass es unnatürlich dunkel war. Bald würde es anfangen zu regnen.
„Deine Tricks sind vielleicht ganz unterhaltsam, aber du solltest nicht den gleichen Fehler machen wie ich und deinen Gegner unterschätzen.“, meinte er nun, vollkommen von sich selbst überzeugt und durchbrach meine Kontrolle, kam wieder auf mich zu.
„Du bist vielleicht stark, aber ich bin stärker.“, versicherte er mir. Ich drehte mich nun komplett zu ihm um, musste ein Lachen unterdrücken.
„Denkst du allen ernstes, dass das alles war?“, ich schnaubte abfällig.
„Ich habe dir noch nicht mal ansatzweise gezeigt, was ich kann. Das eben...“, ich machte eine ausladende Handbewegung.
„ist eine kleine Spielerei, nichts im Vergleich zu dem, wozu ich fähig bin, wenn ich mich ein bisschen ins Zeug lege.“, mit diesen Worten bäumten sich riesige Wellen hinter mir auf und der erste Blitz zuckte über den Himmel. Es war die Wahrheit, kein leeres Versprechen. Noch nicht mal das Kontrollieren der unendlichen Wassermassen des Meeres, verlangte mir große Kraft ab. Es war vergleichbar mit dem Heben meines Arms oder dem Drehen meines Kopfes, als würde das Wasser Teil meines Körpers sein, nichts dem ich meinen Willen ausfzwingen musste. Er grinste immernoch, stand nun direkt vor mir, wieder näher als es mir lieb war.
„Jede dahergelaufene Nixe kann mit dem Wasser spielen. Zeig mir, dass du die bist, nach der ich suche.“, raunte er mir ins Ohr und ich stockte, wurde von seinem unglaublichen Duft eingelullt und spürte seine schnellen, heißen Atemzüge an meiner Wange. Es musste ihm unglaublich schwer fallen so dicht neben mir zu stehen, immerhin jagten die Flammen immernoch durch meine Venen und ließen nicht nur meinen Körper, sondern auch die nähere Umgebung unglaublich heiß werden. Beeindruckend! Schoss es mir durch den Kopf und ich hätte mich für diesen Gedanken am liebsten selbst geohrfeigt. Ich musterte ihn misstrauisch von der Seite. Er war immernoch leicht zu mir runter gebeugt und sein Gesicht ruhte neben meinem. Seine Haare fielen ihm in die Stirn, verdeckten fast seine Augen und sein Mund war leicht geöffnet. Der Drang ihn zu berühren wurde plötzlich übermächtig und ich konnte mich nicht dagegen wehren. Ohne das ich mich selbst hätte aufhalten können hob sich meine linke Hand, legte sich auf seine Wange und drehte sein Gesicht in meine Richtung. Scheiße, war das peinlich! Ich beobchtete es in Zeitlupe, wie eine Außenstehende und wollte mir am liebsten die Hand vor die Stirn schlagen, doch ich konnte nicht. Ich hatte keine Kontrolle mehr über meinen Körper. Fuck. Mein Blick streifte den seinen. Ich konnte Verwirrung darin lesen und dann ging alles ganz schnell. Ich zog seinen Kopf näher zu mir, schloss meine Augen und drückte meine Lippen auf seine. Ein unglaubliches Kribbeln fuhr durch meinen Körper und Elektrizität schien in der Luft zu viebrieren, als sich unsere Lippen berührten, meine Gedanken verschwanden hinter einem dichten undurchdringlichen Schleier. Ich war nicht mehr im Stande über das nachzudenken, was ich hier gerade tat. Mein Körper stand in Flammen und mein letzter kleiner Hoffnungsschimmer, dass er mich von sich stoßen, diesen Kuss unterbinden würde, so dass ich wieder Herrin meiner Sinne werden konnte, verflüchtigte sich in dem Moment, als sich seine Hände auf meine Hüften legten und mich näher an seinen Körper zogen. Er bewegte seine Lippen im Einklang mit meinen und ich drohte den Verstand zu verlieren. Dieser Kuss war alles andere als sanft oder zurückhalten und genau das war es, was mich meine Vernunft vergessen ließ. Ich krallte meine Hände in seine Haare zog ihn näher an mich und drängte meinen Körper seinem entgegen. Es war nicht genug. Ich wollte ihm noch näher sein. Selbst der dünne Stoff unserer Kleidung war mir ein Dorn im Auge. Etwas in meinem Inneren schien zu explodieren. Ich spürte die Hitze zwar, die jetzt durch meine Adern schoss, heißer als jemals zuvor, aber fühlte sie nicht. Für mich machte sie keinen Unterschied, doch mein Gegenüber keuchte an meinen Lippen. Ich rechnete damit, dass er mich jeden Moment los ließ, mich weg stieß und das Weite suchte. Doch nichts geschah, als würde ihm die unerträgliche Hitze auf meiner Haut, meinen Lippen nichts ausmachen. Als gäbe es etwas, dass wichtiger war als seine Schmerzen, ihn diese vielleicht sogar vergessen ließ.
„Zack!“, nur am Rande meines Bewusstseins bekam ich mit, dass wir nicht mehr alleinen waren. Jemand näherte sich uns, doch ich konnte nicht erkennen wer es war. Konnte meine Augen nicht öffnen, war gefangen in diesem Kuss, dieser ungeahnten Leidenschaft, die mir so gar nicht ähnlich sah. Wer oder was es auch immer war, nur noch wenige Meter trennten uns von ihm, dass konnte ich spüren, denn er hatte eine ähnliche Ausstrahlung wie der Kerl an dessen Körper ich mich gerade presste. Ein tiefes, gefährliches Knurren drang aus seiner Kehle, ohne das er seine Lippen von meinen löste und meine Knie drohten unter einem wohligen Schauer, der meinen Rücken entlang fuhr, nachzugeben. Es war eine Drohung an wen auch immer, uns in Ruhe zu lassen, so einnehmend, besitzergreifend, als würde ich nur ihm alleine gehören und er hätte Angst, dass der Fremde mich ihm wegnahm. Wäre ich bei klarem Verstand gewesen, hätte ich ihm spätestens jetzt eine gescheuert. Aber nein, ich musst ja wie ein hirnloser Zombie hier stehen und ihn abschlabbern.
„Verdammte Scheiße Zack. Was soll der Mist? Hast du unseren Auftrag vergessen? Was wenn die Königin hier von Wind bekommt?“, jemand schrie mit einer unüberhörbaren Wut in der Stimme und versuchte immernoch sich uns zu nähern, doch die Hitze, die immer stärker wurde je näher er uns kam, hinderte ihn daran.
„Ist sie es etwa?“, der Neuankömmling blieb stehen, ob der Verwunderung oder der Wand aus unerträglicher Hitze wegen, wusste ich nicht. Ich spürte das vibrieren seines Brustkorbes, bereits bevor das erneute tiefe Knurren zu hören war und er mich noch enger an sich zog. War das ein ja? War ich die jenige die sie suchten? Aber warum, was konnte ich getan haben um gesucht zu werden? Diese Fragen verschafften mir einen kurzen Moment der Klarheit, den ich sofort ausnutzte um wieder Herrin meiner Sinne und meines Körpers zu werden. Augenblicklich kühlte sich unsere Umgebung ab, mein Kopf arbeitete wieder wie er sollte, realisierte was gerade passiert war und schrie mich an es sofort zu unterbinden, Abstand von ihm zu nehmen. Doch der Fremde kam mir zuvor, riss ihn weg und schleuderte ihn von mir. Erschrocken und verwirrt riss ich die Augen auf und starrte den Fremden an. Jetzt endlich konnte ich mich wieder vollkommen konzetrieren. Ich sah mich verwundert um. Wo zur Hölle waren wir? Die Umgebung hatte sich verändert. Die natürliche Idylle der Klippen war einem alten, verwitterten Friedhof gewichen. Der Mond stand bereits hoch am Himmel, erleuchtete die schaurige Kulisse.
„Fuck Chester, dass du aber auch immer in den unpassendsten Momenten auftauchen musst.“
„Ich würde eher sagen, ich bin genau im richtigen Moment aufgetaucht Zack. Immer die gleiche Scheiße mit dir.“, völlig verdattert stand ich da, hörte den beiden zu und vergaß vollkommen, dass ich eigentlich hätte flüchten sollen. Immerhin war es mehr als offensichtlich, dass die beiden mich, warum auch immer, suchten und ich hatte auch nicht das Bedürfnis es herauszufinden. Zu spät erkannte ich das, denn Zack - anscheinend der Typ den ich geküsst hatte - sah mich abschätzig an und kam wieder auf uns zu, wodurch auch der andere - Chester hieß er glaube ich - seine Aufmerksamkeit wieder auf mich richtete. Scheiße!, dachte ich nur und überlegte wie ich, so schnell wie möglich, aus dieser bescheuerten Situation raus kam.
Ganz ruhig Jaime, auch zu zweit haben sie keine Chance gegen dich. Alles wird gut, bring es einfach so schnell wie möglich hinter dich. Redete mir mein Unterbewusstsein Mut zu.
„Okay.“, stimmte ich mir selbst zu, bevor ich mich hätte stoppen können. Verdammt. Ich sah mich verstolen um, doch die beiden schienen es gar nicht mitbekommen zu haben, dass ich mit mir selbst sprach. Das brauchte ich halt manchmal.
„Das ist es also?“, durchbrach dieser Chester die neuerliche Stille und Zack nickte kurz zur bestätigung.
„Was heißt denn hier bitte, ES?“, fragte ich aufgebracht, bevor ich die Worte hätte zurückhalten können.
„Bist du dir da sicher?“
„Ja“, die beiden ignorierten mich einfach. Das konnte ich mal gar nicht leiden.
„Hey ihr beiden Vollidioten, ich hab euch was gefragt.“, meine Stimme wurde lauter und man hörte deutlich heraus, das ich gereizt war.
„Meinst du sie hat eine Ahnung?“, fragte Chester, wieder an Zack gewand. Dieser schüttelte leicht den Kopf. Das wurde mir alles zu dumm, ich setzte mich in Bewegung, stapfte einfach wütend an den beiden vorbei.
„Hey, wenn du zu deinem Freund willst, muss ich dich leider enttäuschen … er ist weg. Du kannst ihn nicht mehr retten.“, meinte dieser Zack, in verschwörerischem Ton und das Gefühl, mir hätte jemand mit einem rostigen, stumpfen Buttermesser meinen Brustkorb geöffnet und mein Herz herausgerissen, ließ meine kleine, relativ heile Welt in sich zusammen brechen. Sofort versuchte ich mich auf Sammy zu konzentrieren, durchsuchte mit meinen Sinnen die Umgebung und konnte ihn nicht finden. Er war einfach weg.
„Du musst fliehen!“, Zack stand plötzlich hinter mir, presste seine harte Brust an meine Rücken und flüsterte mir ins Ohr, doch ich registrierte es kaum.
„Vertrau mir“, war das letzte was ich hörte, bevor ich zusammenbrach, in Zacks Armen, tränenüberströmt auf den Boden sank ... und schrie ...
Schließt eure Herzen sorgfältiger als eure Tore!
Es kommen die Zeiten des Betrugs.
-Johann Wolfgang von Goethe
Schreiend, schweißgebadet und mit von Tränen verschwommenem Blick, schreckte ich auf. Die verstörenden Laute, die unterbrochen von schlurzenden Versuchen Luft zu holen, aus meiner Kehle drangen, nahmen mir den Atmen. Hektischt sah ich mich in der Dunkelheit um, versuchte mich zu orientieren, herauszufinden wo ich war. Doch ich konnte im alles verschlingendem Nichts, das mich umgab, keine Anhaltspunkte, die mich hätten beruhigen können, finden. Das verstörte mich nur noch mehr. Ich versuchte aufzustehen, von hier weg zu kommen, mich in Sicherheit zu bringen, doch mein Fuß verfing sich in der Decke und riss mich zu Boden. Keuchend versuchte ich mich aufzurichten. Angst strömte durch meinen Körper, ohne das ich den Auslöser ausmachen konnte. Das Einzige, dessen ich mir sicher war, war dass ich flüchten musste, obwohl ich keine Ahnung hatte wovor oder wohin. Ich erblickte das Fenster, dass mir eigentlich hätte vertraut erscheinen müssen, doch ich verspührte keine Geborgenheit, konnte mich einfach nicht beruhigen. Wild strampelnd befreite ich mich von der mich umklammernden Decke, zerriss dabei den Stoff und schaffte es schließlich auf allen Vieren zum Fenster zu kriechen. Vorsichtig, jeden Moment mit einem Angriff rechnend, hockte ich mich hin und versuchte das Fenster lautlos zu öffnen. Wäre ich bei klarem Verstand gewesen, ich hätte mich vor lachen, über meine eigene Dummheit, auf dem Boden gekringelt. Doch die unglaubliche Angst und mein Selbsterhaltungstrieb ließen die Bedrohung die ich fühlte noch realer erscheinen. Ein leises knacken im Flur ließ mich innehalten.
Sam? Die Erkenntnis, dass ich mich in meinem Zimmer befand, Sammy ganz in meiner Nähe war und ich mich eigentlich nicht zu fürchten brauchte, sickerte langsam in mein Bewusstsein Ich wollte gerade umdrehen, mich wieder in meinem Bett verkriechen und versuchen weiterzuschlafen, doch etwas in meinem Innern drängte mich weiterhin von hier zu verschwinden. Es fühlte sich an als hätte mir jemand ein Seil um den Bauch geknotet und würde mich jetzt daran aus dem Fenster ziehen wollen. Was war nur mit mir los?
„Sie schläft. Jetzt oder nie!“, das war Sam, aber was meinte er? Die Tür schwang auf und mein Bruder erschien in ihr. Betrat mein Zimmer und erkannte geschockt, dass ich dabei war zu flüchten.
„Scheiße! Los, los los!“, brüllte er plötzlich, bevor drei ziemlich große, ziemlich böse wirkende Kerle an ihm vorbei und auf mich zu stürmten.
„Schnappt sie euch!“, schrie einer von ihnen und versuchte nach mir zu greifen. Ich entwischte ihm knapp, zerschlug mit meinem Ellenbogen die Fensterscheibe und sprang, ohne auch nur noch einen einzigen Blick zurück zu wefen.
Ich rannte. So schnell ich konnte flüchtete ich durch die leeren, dreckigen Straßen der Stadt. Das Gefühl eines Seils um meinen Bauch war weiterhin vorhanden, leitete mich durch die Dunkelheit. Heiße Tränen rannen meine Wangen hinab und wurden vom Wind mitgerissen. Ich konnte das Gefühlt von Sam – meinem Sammy - hintergangen worden zu sein, einfach nicht abschütteln. Aber warum? Warum tat er mir das an? Glasscherben und Kies stachen mir in meine nackten Fußsolen, schlitzten sie auf, doch ich hielt nicht an. Sie waren immernoch hinter mir, das konnte ich spüren. Ich bog um eine Ecke, in eine kleine Seitenstraße, stolperte über einen stinkenden Müllbeutel und landete mit dem Gesicht voran auf dem schmutzigen Asphalt. Meine aufgeschürfte Haut brannte, doch ich ignorierte den Schmerz, versuchte mich aufzurappeln.
„Jaime ...“, ich hielt mitten in der Bewegung inne. Er zog meinen Namen unnötig in die länge, als würde er ein ungezogenes Kind tadeln. Seine Stimme klang ungewohnt distanziert und kalt, jede Wärme und Vertrautheit war aus ihr gewichen. Noch vor wenigen Stunden, wäre ich dieser Stimme bis ans Ende der Welt gefolgt, doch nun löste sie nur noch Enttäuschung und Schmerz in mir aus.
„Warum Sammy?“, schluchzte ich verzweifelt und versuchte mich aufzurichten.
„Warum zur Hölle tust du mir das an?“, ich hob den Blick, begegnete dem seinen und erschrak. Nicht die kleinste Emotion war in ihm zu erkennen. Er lachte nur abfällig.
„Wer hätte gedacht, dass du eines schönen Tages, heulend vor mir im Dreck knien würdest? Du hast ja keine Ahnung, wie wertvoll du bist, mein Täubchen. Die ganze verdammte Welt sucht nach dir und du bist dir dessen nicht mal bewusst.“, seine Augen wanderten gleichgültig über meinen Körper.
„Was soll das heißen?“, meine Stimme zitterte, doch es war mir egal. Sammy kannte mich besser als jeder andere Mensch auf diesem Planeten und ich schämte mich nicht, meine Gefühle offen vor ihm zu zeigen.
„Nun ja, wie erkläre ich es dir am besten? Du trägst große Macht in dir und so gut wie jeder will diese für sich nutzen.“
„Aber warum jetzt, Sammy? Warum nach so vielen Jahren?“, ich verstand es einfach nicht. Er war doch immer für mich da gewesen. Mein Fels in der Brandung. Nur für ihn war ich stark geworden. Nur für ihn hatte ich so lange durchgehalten und war nicht an meinen Erinnerungen zerbrochen.
Er lachte nur sein falsches Lachen und beäugte mich kritisch.
„Tja, dich zu finden war schwieriger als erwartet. Es war schlau von dir, deine Identität zu ändern, auch wenn du es aus anderen Gründen getan hast.“, ich versuchte verzweifelt den Sinn hinter seinen Worten zu verstehen, aber mir fiel beim besten Willen nichts ein. Er war doch immer bei mir gewesen, warum also sprach davon, dass er nach mir gesucht hatte? Ich betrachtete sein vertrautes und doch so fremdes Gesicht. Er wirkte anders als früher. Seine Mimik und Gestik, die Art, wie er sprach und sich bewegte. Und plötzlich dämmerte es mir.
„Wer zur Hölle bist du?“, zischte ich wütend.
„Hölle, ist schon mal gar nicht so falsch, meine Liebste.“, langsam, mit Bedacht, richtete ich mich auf.
„Wo ist mein Bruder?“, flüsterte ich bedrohlich, machte mich zum Kampf bereit.
„Du erinnerst dich an den Tag, als er zusammengeschlagen wurde?“, er lächelte finster. Mir stockte der Atem.
„Nein ...“,
„Er ist nie zu dir zurückgekehrt ...“
„Du lügst! Ich war bei Paul und Jason -“
„Meine Brüder, was hälst du von ihnen?“ Nein, nein, nein, nein, nein! Nicht Sammy! Tränen drohten mir in die Augen zu steigen, doch ich blinzelte sie weg. Ich würde einen Teufel tun und vor diesem Ding meinen Schmerz zeigen. Unzählige Gefühle und Gedanken stürzten auf mich ein, drohten mich unter sich zu begraben, doch ich drängte sie zurück, in den hintersten Teil meines Kopfes. Schloss sie weg. Ich wollte das nicht mehr. Ich kannte nur Schmerz. Immer und immer wieder. Es war, als würde eine Sicherung durchbrennen. Plötzlich war mein Kopf vollkommen leer, bis auf ein einziges Gefühl, war alles weg.
Wut. Das war meine einzige Möglichkeit, nicht hier und jetzt zusammen zu brechen. Wut war das einzige Gefühl, bei dem ich mich stakt fühlen konnte.Ich wusste, dass ich mich irgendwann damit auseinander setzten musste, doch nicht heute, nicht jetzt. Dazu war ich im Moment nicht im Stande.
„Dafür wirst du sterben!“, ich trat einen Schritt auf ihn zu. Er hob abwehrend die Hände.
„Hey, hey, ganz ruhig Prinzessin, wer sagt denn, dass es keine Möglichkeit gibt ihn wieder zu bekommen? Wenn du tust was ich sage, verrate ich dir, wie du ihn wieder zurück holen kannst. Na, wie klingt das?“
„Wie ein Deal mit dem Teufel!“
„Oh, ich fühle mich geert.“, er verbeugte sich theatralisch vor mir.
„Doch ich bin nicht der Leibhaftige, nur ein Bote.“
„Wer schickt dich?“
„Jemand, der eine Menge dafür tun würde, um dich in die Finger zu bekommen. Sogar einen Toten auferwecken.“
„Tut mir Leid, ich lehne ab. Ich weiß vielleicht nicht viel über eure Welt, aber genug um mir darüber im Klaren zu sein, dass der Tod etwas endgültiges ist. Es mag vielleicht nicht unmöglich sein ihn rückgängig zu machen, doch er wäre nicht mehr der Selbe. Ein Wiedergänger ist eine unnatürliche, böse Kreatur und ich werden einen Scheiß tun und Sammy in so etwas verwandeln, nur weil ich ihn zurück haben will.“, obwohl ich nichts empfand, alle Gefühle hinter einer Wand versteckte, stahl sich eine heiße Träne aus meinem Auge.
„Du hast recht, doch wie du schon sagtest, du weißt nicht viel über unsere Welt. Es gibt Mittel und Wege, deinen Bruder als das zurück zu holen, was er war. Ein Mensch. Es kostet viel Macht, aber es ist möglich.“
„Warum, sollte das jemand für mich tun?“, ein gehässiges Grinsen stahl sich auf sein Gesicht.
„Nun ja, -“
„Du hast vergessen zu erwähnen, dass man einen hohen Preis, für eine Wiederbelebung, zahlt.“, ich wusste im ersten Moment nicht woher, doch die Stimme kam mir sehr bekannt vor. Sie hallte von den hohen Häuserwänden wider. Ich sah mich suchend um, konnte jedoch niemanden entdecken. Dieses Ding hingegen schien genau zu wissen, um wen es sich handelte, denn ein Ausdruck der Angst schlich sich auf das Gesicht, das eigentlich meinem Bruder gehört hatte.
„Verschwinde! Das hier geht dich nichts an!“, keifte es und sah sich ebenfalls suchend um.
„Oh und ob es mich etwas angeht.“, die Stimme war plötzlich leiser, kein Echo verschleierte ihre Herkunft. Ich brauchte mich nicht umzusehen, um zu wissen, dass er hinter mir stand. Ich konnte seine Nähe fühlen, als würde etwas nach mir greifen, mich zu ihm ziehen.
„Niemand in unserer Welt, der die Macht zu einer Wiederbelebung hätte, ist bereit diesen Preis für einen Menschen zu zahlen. Absolut niemand.“, er trat neben mich. Silberne Haare schimmerten im fahlen Licht der Straßeblaternen. Ich sah ihn nicht direkt an. Beobachtete ihn nur aus dem Augenwinkel.
Was wollte er hier? Die letzten Worte meines Traums drangen erneut an mein Bewusstsein.
Vertrau mir. Aber konnte ich das wirklich? Ich wusste nicht warum, aber ich war mir sicher, dass es kein einfaches, nächtliches Hirngespinnst meines manchmal irren Verstandes war. Mein Traum war so real und überzeugend gewesen, dass er schon fast einer Erinnerung glich. Doch im Moment hatte ich leider nicht die Zeit, um ausgiebig über diese Tatsache und die daraus resultierenden Fragen nachzudenken. Ich musste mich auf mein Bauchgefühl verlassen.
„Was ist der Preis?“, wollte ich wissen. Ich war nicht gewillt, das Angebot anzunehmen, doch wenn so viele Wesen nach mir suchten, war ich vielleicht auch in der Lage, meinen Bruder zurück zu holen. Und ich war bereit, jeden Preis dafür zu bezahlen.
„Das ist doch unwichtig. Komm einfach mit mir und du bekommst deinen Bruder zurück, mehr musst du nicht wissen.“, langsam schien das Ding nervös zu werden.
„Er lügt.“, Zack sprach ruhig, als würden wir uns über einen schlechten Film unterhalten. Und ich glaubte ihm. Keine Ahnung warum, aber das ungute Gefühl, dass ich sonst immer in seiner Gegewart verspürt hatte, war weg. Ich vertraute ihm und hätte mich dafür am liebsten selbst geschlagen. Das war doch hirnrissig.
„Nein, nein, nein, er lügt.“, das Ding wurde immer unruhiger und mir platzte der Kragen. Ohne großartig darüber nachzudenken, pakte ich es an der Kehle und drückte es gegen die nächst beste Wand.
„Wag es nicht, mich anzulügen!“, zischte ich. Schweisperlen bedeckten seine Stirn und es schüttelte heftig den Kopf.
„Würde ich nie.“, beteuerte es und ich fing an zu lächeln. Ich hob meine freie Hand vor sein Gesicht und ließ sie in Flammen aufgehen.
„Denk noch mal scharf nach!“, langsam legte ich meine brennende Hand an seine Wange, ließ meinen Daumen liebevoll über seine Haut gleiten. Sein Schrei war Ohrenbetäubend, als das Feuer sein Fleisch verbrannte. Doch das machte mir nichts aus. So etwas wie Mitleid, empfand ich schon lange nicht mehr. Zu viel war in meinem bisherigen Leben passiert.
„Okay, okay. Ich hab gelogen.“
„Brich ihm das Genick!“, Zack stand immernoch hinter mir. Seine Stimme war frei von Emotionen, sein Blick eiskalt.
„Nein, warte! Lass mich am Leben. Ich kann dir nützlich sein.“, flehte es mit mitleidigem Blick. Ich schnaubte abfällig.
„Du hast meinen Bruder getötet und erwartetst, dass ich dich einfach so davon kommen lasse?“, ich ließ kurz von ihm ab, um ihm dann, mit einer einzigen, flüssigen Bewegung, das Genick zu brechen. Das Knacken, des brechenden Rückrats hallte dumpf in der Finsternis wieder. Der leblose Körper, sackte schwer zu Boden.
„Er wird wieder aufwachen, oder?“, ich drehte mich um und sah Zack fragend an.
„Ja, aber so haben wir etwas Zeit gewonnen. Komm.“, er griff nach meiner Hand und führte mich aus der Gasse. Ich ließ es geschehen, folgte ihm mit leerem Blick. Auch wenn ich das Gefühl hatte, ihm vertrauen zu können, musste ich weiterhin vorsichtig sein. Im Moment brauchte ich seine Hilfe, da führte kein Weg dran vorbei, doch ich durfte nicht nachlässig werden. Es gab niemanden mehr, der mein vollstes Vertrauen verdiehnt hatte. Jeder verfolgte seine eigenen Ziele und ich musste bereit sein, das für mich zu nutzen.
Das letzte was man von ihr fand,
war ein Satz im Tagebuch...
'Gott, meine Flügel sind gebrochen,
bitte erlös' mich von dem Fluch!'
-Rapsoul (Songtext)
Zwei Stunden. So lange saßen wir uns bereits gegenüber und starrten uns an. Das kleine Zimmer, mit den zwei Doppelbetten, lag in absoluter Dunkelheit. Die vergilbten Vorhänge waren geschlossen, sodass auch das Licht der blinkenden Neonreklame ausgesperrt wurde. Ich saß auf meinem Bett, die Knie an meinen Körper gezogen und meine Arme um sie geschlungen. Er hatte seine Ellenbogen auf seine Knie gestützt, die Hände miteinander verschrängt und den Kopf auf diese gelegt. Wir ließen uns nicht aus den Augen. Schließlich hielt ich es nicht mehr aus und brach die Stille.
„Ich erwarte absolute Ehrlichkeit“
„Sicher“
„Was willst du von mir?“
„Ich soll dich zu meiner Königin bringen“
„Warum?“
„Das weiß ich nicht, ich erfülle nur meinen Auftrag“
„Bullshit! Sag mir, verdammt noch mal, die Wahrheit!“
„Das darf ich nicht. Sie wird es dir sagen“, ich stöhnte genervt auf.
„Warum sind auf einmal alle hinter mir her?“, fuhr ich resigniert fort.
„Du bist wertvoll. Das hatte dir der Wandler doch bereits gesagt“
„Das Ding, das aussah wie mein Bruder?“
„Ja“, meine Güte, dass er sich alles aus der Nase ziehen lassen musste.
„Was machst du, wenn ich nicht mit dir gehen will?“
„Dann bleibe ich so lange bei dir, bis du es willst“
„Was?“
„Ich darf dich nicht mit Gewalt zu ihr bringen“
„Warum?“
„Das weiß ich nicht“
„Also darfst du mir kein Härchen krümmen?“
„Das hab ich nicht gesagt“, ohne wirklich darüber nachzudenken stürzte ich mich auf ihn und schlug ihm mit der Faust ins Gesicht. Gott, tat das gut. Er war überrumpelt, deshalb rechnete ich nicht mit dem Echo. Schwerer Fehler. Zu schnell für meine Auge zog er sein Knie an und traf mich mit voller Wucht in den Magen. Ich hatte mich schnell wieder unter Kontrolle und trat nach ihm. Doch er fing meinen Fuß ab, hielt ihn fest und mich somit gefangen.
„Keine faulen Tricks“, warnte er mich. Ich lächelte nur, zog mein Bein an, sodass er nach vorne gerissen wurde und traf ihn mit meinem anderen Fuß, mit voller Wucht, am Kopf.
„Das hab ich gar nicht nötig“, er rappelte sich wieder auf, lächelte nun ebenfalls. Blut tropfte aus seiner Nase, doch er wischte es einfach mit seinem Ärmel weg.
„Gar nicht mal so schlecht“, ich stellte mich in Kampfposition auf, seinen nächsten Angriff erwartend. Der ließ jedoch auf sich warten.
„Angst?“, forderte ich ihn heraus, er lachte nur.
„Vor einem kleinen Mädchen?“, er bewegte sich unglaublich schnell, sodass ich ihn fast nicht kommen sah. Aber nur fast. Sein Fuß schnellte auf mich zu. Ich wehrte ihn ab, wurde jedoch von seinem Ellenbogen im Gesicht getroffen, kurz bevor er seine Faust in meinen Magen rammte. Ich rechnete es ihm hoch an, dass er sich nicht zurückhielt, denn ich tat es auch nicht. Noch bevor er aus meiner Reichweite flüchten konnte, verpasste ich ihm eine Kopfnuss, trat ihm die Beine weg und fixierte ihn, mit dem Gesicht nach unten, auf dem Boden.
„Von wegen, kleines Mädchen“
„Deine Konzentration ist echt miserabel“, presste er grinsend hervor und schlug mir mit seinem freien Ellenbogen erneut ins Gesicht. Ich ließ aus Reflex seinen zweiten Arm los, den ich ihm auf den Rücken gedreht hatte, und fand mich, schneller als mir lieb war, mit dem Rücken auf dem Boden wieder.
„Aber deine Technik ist nicht schlecht“, er saß rittlings auf meinem Bauch und fixierte meine Arme über meinem Kopf.
„Was heißt hier nicht schlecht? Weißt du, wie lange es gedauert hat, meine Techniken zu perfektionieren? Das könntest du ruhig mal würdigen“, grinste ich frech, hakte mein Bein unter sein Kinn und zog ihn, mit einer schnellen Bewegung, von mir runter.
„Fein, ich geb mich geschlagen, bevor wir auch noch den Rest des Inventars zerlegen“, er hatte recht, diverse Lampen und ein kleiner Holztisch waren bei unserem Kampf bereits zu Bruch gegangen.
„Geht doch“, meinte ich nur triumphierend, rappelte mich auf und bot ihm meine Hand, um ihm hoch zu helfen. Er nahm sie an und ich zog ihn auf die Beine.
„Vielleicht sollte ich mir deine Wunden mal anschauen, ich hab dich ja ganz schön übel erwischt“, stichelte ich und zog eine Flasche Wodka aus der Minibar.
„Das ist ja wohl das Mindeste“
„Okay, setzt dich hin“, ich ging ins Bad, griff mir eines der kleinen Handtücher und tränkte es mit dem Alkohol, bevor ich selbst noch einen großen Schluck aus der gekühlten Flasche nahm und sie daraufhin Zack anbot. Er nahm sie dankend an und ich setzte mich neben ihn auf´s Bett, drehte mich halb in seine Richtung. Er tat es mir gleich.
„Zeig mal her“, wies ich ihn an, griff behutsam nach seinem Kinn und drehte seinen Kopf so zu mir, dass ich die Platzwunde an seiner Schläfe gut im Blick hatte. Ich sog zischen die Luft ein. Das sah ganz schön übel aus. Vorsichtig drückte ich das feuchte Handtuch auf die Wunde und säuberte sie so vom Blut. Zack machte keinen Mucks. Angeber. Ich griff nach dem Wodka und schüttete erneut etwas auf das nunmehr rote Handtuch.
„Ich hoffe das muss nicht genäht werden“, sinnierte ich flüsternd vor mich hin und versorgte nach der Platzwunde auch seine ramponierte Nase und diverse kleinere Schrammen.
„Na, Gewissensbisse?“, grinste er frech.
„Ich bereue nichts“, stellte ich lächelnd klar und betrachtete mein Werk.
„So fertig. Willst du selbst noch mal nachschauen?“,
„Nicht nötig, ich vertrau dir“, zwinkerte er und nahm mir das Handtuch aus der Hand.
„Aber du hast auch ganz schön was abbekommen“, stellte er, immernoch grinsend, fest, stand auf und holte ein sauberes Tuch aus dem Bad. Auch dieses wurde mit dem Wodka getränkt, den ich ihm danach schnellstmöglich aus der Hand riss, um einen großen Schluck zu nehmen. Scheiße, das wird gleich richtig weh tun. Auch wenn ich es nicht gerne zugab, war ich in solchen Dingen eine echte Mimose. Ich holte noch einmal tief Luft und kniff die Augen zusammen.
„Kann losgehen“, wies ich ihn an und biss die Zähne zusammen. Wie ich es voraus gesehen hatte, brannte es furchtbar, als der durchtränkte Stoff meine Wunden berührte. Unbewusst krallte ich meine freie Hand in Zack´s Knie und hielt bei jeder Berührung automatisch die Luft an. Oh Gott, er hätte mich lieber verbluten lassen sollen.
„Okay, wir haben´s gleich“, meinte er, wobei das Lächeln in seiner Stimme unüberhörbar war. Ich öffnete eins meiner Augen und sah ihn argwöhnisch an.
„Das gefällt dir, was?“, vorsichtig tupfte er über meine aufgesprungene Lippe, sagte jedoch nichts weiter. Und wie ihm das gefiel.
***
Gierig betrachtete er das kleine Mädchen, das da friedlich schlafend vor ihm lag. Seine fahle Haut prickelte vor Aufregung und Vorfreude. Sie war erst seit wenigen Tagen bei ihnen, doch diese kurze Zeit hatte ausgereicht, um ihn an die Grenzen seiner Selbstbeherrschung zu treiben. Er hielt es nicht länger aus. Er musste sie haben. Jetzt! Mit langsamen, bedächtigen Schritten näherte er sich ihrem abgenutzten Kinderbett. Darauf hatte er so lange warten müssen. Erfürchtig berührte er ihre Wange und Stöhnte unvermittelt auf. Oh Gott, ihre Haut, so rein und unberührt. Langsam zog er die Bettdecke weg und betrachtete das verwaschene, viel zu große Nachthemd, das sie bedeckte und ihren Körper so unglaublich winzig aussehen ließ. Perfekt! War der einzige Gedanke den er fassen konnte. Und sie gehörte ihm alleine. Er registrierte nur am Rande seines Bewusstseins, dass sie ihn verwirrt und mit schlaftrunkenem Blick musterte. Bestimmt, setzte er sich an den Rand der Matratze, erwiederte ihren Blick und legte behutsam eine Hand auf ihre Hüfte.
„Keine Angst mein Schatz, Daddy wird dir nicht weh tun. Es wird dir gefallen, das verspreche ich dir“, raunte er und lächelte sie gierig an. Die Kleine wusste nicht warum, doch er machte ihr Angst. Eine einzlne Träne kullerte ihre Wange hinuter, bevor er sich vorbeugte und ihre unschuldige Kinderseele in tausend Fetzen zerriss. Es war das erste Mal, doch es würde nicht genug sein. Er würde nie genug bekommen. Sie machte keinen Muchs, während sie versuchte seinen gierigen Finger zu entkommen und schließlich verlor. Sie blieb stumm, bis er ging und sie, zusammengerollt auf den blutbefleckten Laken, zurückblieb.
„Shhh … Alles wird gut. Beruhige dich“
„Nein! Geh weg von mir!“, er umklammerte mich, wiegte meinen zitternden Körper in seinen Armen. Ich wollte das nicht. Er sollte aufhören! Warum konnte er mich nicht in Ruhe lassen? Ich ertrug es nicht länger. Die Schmerzen, die Demütigungen … es war einfach zu viel. Heiße Tränen traten aus meinen geschlossenen Augen, kullerten meine Wangen hinab, während ich verzweifelt versuchte ihn von mir weg zu drücken.
„Wieso ich?“, warum musste das alles mir passieren? Womit hatte ich das verdient? Ich war doch nur ein kleines, wehrloses Kind.
„Shhh ...“, er streichelte beruhigend über meinen Kopf, doch damit konnte er mich nicht täuschen, nichts konnte mich die unendlichen Qualen, die er mir zufügte, vergessen lassen. Mit aller Mühe kratzte ich die letzten Überreste meiner Kraft zusammen.
„Du mieses Stück Dreck hast es nicht verdient zu leben, während ich mich durch jeden verdammten Tag quälen muss. Irgendwann wirst du dafür bezahlen und ich werde die jenige sein, die dein mickriges Leben beendet“, versprach ich flüsternd.
„Jaime … Wach auf“, wisperte er und erst jetzt erkannte ich seine Stimme. Zack. Die Angst, fiel wie eine riesige Last von mir ab und ich atmete erleichtert aus. Es war vorbei. Alles nur ein böser Traum, eine Erinnerung an die Qualen meiner Kindheit.
„Öffne deine Augen“, vorsichtig kam ich seinem ruhigen Befehl nach. Zack lag neben mir, in meinem Bett und hielt mich in den Armen. Ich hob leicht den Kopf um ihm ins Gesicht sehen zu können.
„Was machst du hier?“, ich war immernoch vollkommen fertig von meinem Alptraum, schaffte es nicht wütend auf ihn zu werden, trotz seiner ungewollten Nähe. Er erwiederte meinen Blick, bewegte sich jedoch keinen Millimeter von mir weg.
„Was hast du geträumt?“
„Das geht dich nichts an“, ich versuchte mich aus seiner Umklammerung zu lösen, vergeblich.
„Du hast um dich getreten, geschrien und geweint. Ich wollte dich beruhigen“, ich erwiederte nichts darauf und wir schwiegen eine Weile, lagen einfach so da. Obwohl ich es nicht wollte, genoss ich seine Nähe, fühlte mich geborgen.
„Du kannst es mir erzählen“, versuchte er es erneut. Ich schüttelte nur mit dem Kopf.
„Nein, kann ich nicht“, meine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern und eigentlich mehr an mich selbst, als an ihn gerichtet, doch er hörte es trotzdem.
„Warum glaubst du das?“, er ließ eifach nicht locker.
„Ich habe ein sprechendes Häschen verfolgt, bin in ein Loch gefallen und in einer anderen Welt gelandet. Das Übliche eben, kein Grund sich darüber großartig Gedanken zu machen“
„Das muss aber ein aggressives Häschen gewesen sein, wenn du dich so sehr wehren musstest, Alice“, er blieb vollkommen ruhig.
„Jup, schräg was?“, ich brachte tatsächlich ein Lachen zustande.
„Du kannst mich dann jetzt los lassen. Wie gesagt, es war nur ein Alptraum, nichts worüber man sich sorgen machen muss“, er zögerte einen Moment, kam dann jedoch meiner Bitte nach. Erleichtert richtete ich mich auf und sah mich in der Dunkelheit um.
„Okay … ähm … ich verschwinde mal unter die Dusche, ich glaub das habe ich im Moment echt nötig“, vor allem aber brauchte ich Ruhe um mich wieder zu beruhigen. Dieser Traum hatte alles wieder aufgewühlt, die verhassten Erinnerungen zurückgebracht.
Er antwortete nicht, also krabbelte ich unbeholfen aus dem Bett und beeilte mich ins Bad zu kommen. Dort angekommen schloss ich die Tür hinter mir ab, drehte die Dusche auf und setzte mich, samt meiner Kleidung, unter den heißen Strahl. Ich lehnte mich an die kühlen Fliesen, umklammerte meine Knie und fing hemmungslos an zu weinen.
Wie sollte ich das alles nur ohne Sammy überstehen? Er hatte mir immer beigestanden, mir geholfen über alles hinweg zu kommen, aber nun? Wie sollte ich es alleine schaffen? Erst jetzt wurde mir wirklich bewusst, dass ich ihn wahrscheinlich für immer verloren hatte. Er war einfach weg und ich hatte es noch nicht einmal bemerkt. Bravo Jaime. Ich hatte mich nicht mal von ihm verabschieden können, auch wenn das wahrscheinlich nichts an dem Schmerz, den ich jetzt in meiner Brust fühlte, geändert hätte. Das hatte er nicht verdient. Es war alles meine Schuld.
Wäre ich nicht so ein verdammter übernatürlicher Freak, wäre er noch hier. Würde vielleicht sogar ein normales Leben führen können. Aber stattdessen war er tot und ich saß hier heulend in irgend einem billigen Motel und trauerte um ihn. Ich war sowas von verkorkst. Man sollte mich lieber wegsperren, damit ich niemanden mehr gefähredete.
Ich ließ meinen verschleierten Blick über meine Umgebung wandern und blieb an dem kleinen Milchglasfenster hängen, dass sich an der Wand neben der Dusche befand. Vielleicht sollte ich einfach verschwinden, mich irgendwo auf eine Straße legen und darauf warten, dass mich ein Truck überfuhr.
Ich meine, was zur Hölle tat ich hier eigentlich? Ich hatte meinen Bruder verloren, war dann ohne großartig darüber nachzudenken mit einem vollkommen Fremden mitgegangen, von dem ich nur wusste, dass er hinter mir her war, hatte sogar, wenn auch ungewollt, kuschelnd mit ihm im Bett gelegen, mich trösten lassen und es zu allem Überfluss auch noch genossen.
Was war nur mit mir los? Wie bescheuert konnte man eigentlich sein? Er war doch immernoch mein Feind, oder? Ich war kurz davor das kleine Fenster aufzureißen und in die Nacht zu verschwinden, doch ich konnte nicht. Ich hatte keine Ahnung wohin ich fliehen, oder was ich tun sollte. Dazu kam noch, dass ich panische Angst davor hatte alleine zu sein. Jetzt wo ich Sammy verloren hatte, gab es niemanden mehr dem ich wichtig war, oder der mir etwas bedeutete. Ich war vollkommen alleine auf der Welt. Ein leises Klopfen riss mich aus meinen Gedanken. Ich reagierte nicht.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“
„Ja natürlich. Wie sollte es nach so einer beschissenen Nacht auch anders sein?“, Zack sollte mich endlich in Ruhe lassen, ich hatte schon genug Probleme.
„Hör´ zu, ich weiß wie du dich fühlst, aber ...“
„Einen Scheiß weißt du! Ich sollte den ganzen Mist hier und jetzt beenden. Ich hab einfach keinen Bock mehr!“, ich war so wütend auf ihn, auf mich, auf die ganze verdammte Welt, dass ich diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht zog. Ich war es einfach Leid einen Arschtritt nach dem anderen vom Leben zu kassieren.
„Das ist es also was du willst? Vor deinen Problemen davon rennen? Für so feige hatte ich dich eigentlich nicht gehalten“
„Was meinst du, ist das Himbeershampoo giftiger als die Kokoslotion oder sollte ich mich lieber gleich mit der Zahnseide an der Dusche aufhängen?“
„Hältst du das für einen verdammten Witz?“, er klang langsam ziemlich wütend.
„Ob die Duschwanne tief genug ist, um mich darin zu ertränken?“, sinnierte ich weiter vor mich hin. Rückblickend muss ich viellecht zugeben, dass bei mir eine Sicherung durchbrannte. Es war zu viel auf einmal. Mein Leben war niemals leicht gewesen, doch irgendwann kann man einfach nicht mehr und trifft übereilte Entscheidungen, wählt den leichtesten Ausweg. Es wäre so einfach. Ich würde nichts spüren. Nie wieder davonlaufen. Nie wieder Albträume, nur noch alles umfassende Ruhe.- immer und immer wieder redete ich mir das ein, versuchte mich so selber zu überzeugen und ich schaffte es. Nichts hätte mich von meinem Vorhaben abbringen können.
„Mach die Tür auf Jaime, sofort!“, ich ignorierte ihn einfach, rappelte mich umständlich auf und durchsuchte den Badenzimmerschrank.
„Jaime!“, grinsend entdeckte ich eine Packung Einwegrasierer.
„Bingo!“ Ich nahm einen, brach die Klinge heraus und setzte mich mit dieser wieder unter den heißen Wasserstrahl. Ich zögerte nicht. Warum auch? Ich hatte mein Leben lang kämpfen müssen. Hatte nichts Gutes erfahren. Immer nur Schmerz und Angst, wieder und wieder. Die letzten Stunden hatten mir bewiesen, dass es niemals aufhören würde. Ein normales Leben, Freunde und vielleicht sogar eine Familie, dass würde mir immer verwehrt bleiben.
Wie durch Butter glitt das kalte Metall durch die Haut meines Handgelenkes. Nur noch ein paar Atmezüge, dann war es endlich vorbei. Ich spürte den Schmerz nicht mal. Das heftige klopfen meines Herzens übertönte einfach alles. Es wollte leben, das dumme Ding und doch pumpte es mit jedem hektischen Schlag, mehr Blut aus dem tiefen Schnitt. Ich lächelte seelig, ich war das erste Mal seit langem frei von Angst und stattdessen … erleichtert.
Es heißt, wenn man stirbt, zieht das vergangene Leben, wie auf einer Leinwand erneut an einem vorbei. Doch ich hatte keinen wundervollen Film mit den Höhepunkten meines Lebens, nur ein paar vereinzelte Bilder glücklicher Momente. Bider von Sammy. Bilder unserer Flucht. Unsere erste Wohnung - ein winziges Appartement mit vergilbten Wänden und nichts als einer alten Matratze auf dem Boden. Die kleine, schwarze Katze, die Sam mir zu meinem dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Es war nicht viel und doch bedeuteten mir diese Augenblicke mehr als der gesamte, jämmerliche Rest meiner Vergangenheit oder die Zukunft die ich hätte haben können. Nach und nach verschwammen die Bilder vor meinem inneren Auge, wurden unscharf um schließlich, in einem immer dichter werdenden, schwarzen Nebel, zu verschwinden.
Das ist nicht wahr!
Ein Herz kann noch so schwach sein
und manchmal auch nachgeben.
Aber ich habe gelernt,
dass es tief im Innern ein Licht gibt,
das nie erlischt!
-Kingdom Hearts
Wärme. Geborgenheit. Sicherheit. Vertrauen. Liebe. All das kannte ich nicht wirklich. Ich glaubte es zu spüren, wenn Sammy in meiner Nähe war und doch war es nur ein Schatten dieser Gefühle. Ein schwacher Abklatsch, denn tief in meinem Innern verschloss ich mich vor ihnen. Als Selbstschutz wird dieses Verhalten oft beschrieben. Lieber nie geliebt, als geliebt und verloren. So dachte ich früher. Doch ich lag falsch, dass erkannte ich, jetzt wo alles vorbei war. Zu spät.
Ich bereute es. Wünschte mir ich hätte es wenigstens versucht, statt mein Leben wegzuwerfen und immer nur die schlechten Seiten zu sehen. Ich hätte Träume und Hoffnungen, ja sogar eine Zukunft haben können, denn so schwer das Leben auch ist, lohnt es sich doch, oder? Aber ich war zu dumm um es zu erkennen, zu blind um die Möglichkeiten zu sehen, die noch vor mir lagen. Die vollkommene Schwärze um mich herum, hüllte mich ein wie eine warme Decke. Versuchte mich zu trösten.
War das das Ende? Würde ich so die Ewigkeit verbringen? Alleine mit meinen Gedanken und die Entscheidungen die ich einst traf bereuend? Nein! Das konnte es noch nicht gewesen sein. Plötzlich schien alles in mir leben zu wollen. Tränen brannten in meinen Augen, doch ich war mir nicht sicher ob ich an diesem Ort überhaupt in der Lage war zu weinen. Ich war so dumm gewesen. Das Leben war niemals einfach, denn sonst wäre es nicht lebenswert. Man musste für sein Glück kämpfen und nicht einfach feige den leichtesten Ausweg wählen. Warum hatte ich das nicht früher erkannt? Ich war doch eigentlich nie der Typ gewesen der einfach aufgibt.
Ich versuchte mich zu bewegen, mich aus der unnachgibigen Umarmung der Finsternis zu lösen, doch ich kam nicht von der Stelle. Ein weit entferntes Flüstern ließ mich aufhorchen. Hatte ich womöglich doch noch eine Chance bekommen? Konnte ich weiterleben? Ich versuchte etwas zu sagen, um Hilfe zu schreien, doch kein Laut verließ meine Lippen. Wieder dieses Flüstern, doch es war zu leise, ich verstand die Worte nicht.
Ich betete zu Gott, flehte ihn an mir noch eine Chance zu geben. Wie oft hatte ich ihn verflucht, seinen Namen missbraucht oder ihn einfach als nicht existent abgestempelt und doch war er in diesem Moment alles was ich hatte. Plötzlich leuchtete in der Ferne ein kleines Licht auf. Ist das Gott? Ich ruderte heftig mit meinen Armen und Beinen, immer dem winzigen, leuchtenden Punkt entgegen, doch immernoch bewegte ich mich keinen Millimeter.
„Jaime“, ich hielt verdutzt inne. Das Ding konnte sprechen und es war anscheinend weiblich.
„Komm zu mir.“, verlangte es mit ruhiger, fester Stimmte. Ich hätte am liebsten gelacht.
Als würde ich das nicht schon die ganze Zeit versuchen.
„Du musst es wollen.“, ich konzentrierte mich noch stärker darauf zum Licht zu gelangen, doch es brachte einfach nichts.
Ich schaffe es nicht, verdammt noch mal! Meine Gedanken hallten in der Dunkelheit, als hätte ich sie laut ausgesprochen.
„Doch, du bist stark. Deine Zeit ist noch nicht gekommen.“, ein letztes Mal nahm ich all meine Kraft zusammen, ruderte mit meinen Gliedmaßen wie eine Ertrinkende und schaffte es diesmal tatsächlich, mich ein kleines Stückchen vor zu arbeiten.
„Gut so, aber beeil dich, wir haben nicht mehr viel Zeit!“, Zentimeter um Zenimeter näherte ich mich dem leuchtenden Punkt. Je näher ich kam, desto geborgener fühlte ich mich. Die Nähe des kleinen Lichts schien so vertraut, als wäre es mein ganzes Leben lang an meiner Seite gewesen. Hätte über mich gewacht. Als ich schließlich erkannte, was da vor mir schwebte und seelenruhig auf mich einredete, hielt ich erschrocken inne. Ein Glühwürmchen?
„Ich wusste, dass du stark genug bist.“, das Leuchten des Insekts wurde stärker, dehnte sich aus und fing langsam an, auch mich einzuhüllen.
Wer ,oder besser was, bist du? Mit dem hellen Licht begann auch eine wohlige Wärme um mich herum zu wabbern und meinen Körper zu umschließen.
„Du bist mein Fleisch und Blut, mein Kind.“
Was? Soll das heißen, ich bin zur Hälfte ein Glühwürmchen? Also bitte, ich war vielleicht tot, aber nicht dumm.
„Nein. Einst war ich eins der mächtigsten Wesen, die jemals auf diesem Planeten wandelten, doch ich brach die Regeln.“
Ich verstehe nicht.
„Das wirst du noch, mein Schatz, wenn die Zeit dafür gekommen ist, wirst du die ganze Wahrheit erfahren.“
Immer diese Geheimniskrämerei.
„Für den Moment reicht es wenn ich dir einen Teil, unserer Geschichte erzähle.“ Ich verstand zwar nicht wirklich, was sich hier abspielte, doch eine Wahl hatte ich wohl kaum und wenn es stimmte, dass dieses … Glühwürmchen … meine Mutter war, dann wurde es Zeit, dass zumindest ein paar meiner Fragen beantwortet wurden.
Na dann, schieß mal los. Ein glockenhelles Lachen erklang. So rein und wunderschön, dass es einem eine Gäsehaut über den Körper jagte. Dann wurde es wieder still.
„Dein Vater und ich, teilten eine verbotene Liebe. Wir versuchten es zu unterdrücken, doch letztlich schafften wir es nicht. Das Leben war ohne einander nichts mehr wert … Wir wussten, dass auf dieses Vergehen der Tod stand und doch hatten wir die Hoffung einen Weg zu finden, der uns in eine gemeinsame Zukunft führen konnte. Aber wir lagen falsch. Ich war bereits schwanger, als es ans Licht kam. Man ließ uns die Wahl. Entweder die Frucht unserer Liebe vernichten und unsere Gefühle leugnen, oder sterben und die Ewigkeit ohne einander und unsere Kinder verbringen.“, eine kleine Pause entstand und ich war sprachlos. Was hatte das alles zu bedeuten?
„Ich gebar Zwillinge. Um dich und deine Schwester zu schützen und vor den Augen derer zu verbergen, die euch für ihre Zwecke nutzen oder vernichten wollen, nahmen wir euch einen Teil eures Erbes und versteckten euch unter den Menschen.“ Das rattern in meinem Kopf hätte eigentlich klar und deutlich in der Dunkelheit wiederhallen müssen, als ich versuchte diese neuen Informationen zu verarbeiten. Ich hatte also eine Schwester und Eltern die mich so sehr liebten, dass sie sogar ihr Leben für mich ließen? Mein ganzes Leben lang, war ich davon überzeugt gewesen, dass meine leiblichen Eltern Junkies oder Minderjährige waren, die mich nie gewollt hatten und jetzt sowas. Ich war vollkommen sprachlos.
„Wir wurden zum Tode verurteilt und fristen nun unser endloses Dasein in dieser Zwischendimension. Aber wir haben es nie bereut, dass musst du wissen.“ Ich hatte keine Ahnung, was ich dazu sagen sollte.
„Von hier aus beobachten wir euch. Sehen aus der Ferne dabei zu wie ihr euer Leben meistert, wachsen und gedeihen könnt, ohne die Wesen zu fürchten, die immernoch nach eurem Leben trachten.“ Ich musste ein ironisches Lachen unterdrücken.
Von wegen wachsen und gedeihen, ohne Angst. Mein Leben war die Hölle.
„Das, was dir wiederfahren ist tut mir Leid, Jaime. Ich hätte alles gegeben um dich beschützen zu können, doch ich bin machtlos.“
Schon gut … Ich gebe dir auch nicht die Schuld, aber es ist schwer ... mit den Erinnerungen zu leben und zu wissen, das mich niemand hätte retten können. Aber mir bleibt ja nichts anderes übrig, oder? Ich brachte nur ein müdes Lächeln zustande. Ich musste mich zusammen reißen. Immerhin hatte ich hier die Möglichkeit bekommen, mit meiner Mutter zu reden, auch wenn sie wie ein Glühwürmchen aussah. Jetzt war eindeutig der falsche Zeitpunkt, um mit Schuldzuweisungen um sich zu werfen.
Du hast vorhin gesagt, dass meine Zeit noch nicht gekommen ist, heißt das, dass ich noch eine Chance bekomme?
„Das liegt nicht in meiner Hand.“
Aber in wessen dann?
„Ich habe einzig und alleine die Möglichkeit, dich hier festzuhalten, bis er sich entschieden hat.“
Bis wer sich entschieden hat?
„Der Engel, der an deiner Seite war. Er alleine hat die Macht dich zurück zu holen und dir noch eine Chance zu geben.“ Tausende Gedanken rasten durch meinen Kopf, doch ich war nicht in der Lage auch nur einen von ihnen zu fassen. Zu viele Fragen, die noch unbeantwortet waren und es kamen sekündlich neue dazu. Ich war mir sicher, dass mein Kopf jeden Moment explodieren würde. Es war einfach zu viel.
Warum, zum Teufel, könnt ihr mir nicht einmal klipp und klar sagen, was Sache ist? Warum immer diese verdammten Rätsel?
„Manchmal ist es besser, etwas nicht zu wissen, um die richtigen Entscheidungen treffen zu können.“
Hast du mir nicht zugehört? Wieder dieses helle Lachen. Es legte sich wie Balsam auf meine Seele und beruhigte mich wieder. Eine Weile war es still, doch keineswegs unangenehm. Eher beruhigend. Schließlich fand ich meine Stimme wieder.
Warum siehst du aus, wie ein Glühwürmchen?
„Als ich starb, konnte ich mich nur mit letzter Kraft hier festhalten. Ich besaß nicht mehr die Macht, meine äußere Hülle zu erhalten. Glühwürmchen sind Wesen die das Feuer in sich tragen. Es ist ein Teil von ihnen, so wie es auch ein Teil von dir und mir ist. Es war die einzige Möglichkeit, mit dir zu kommunizieren. Sowohl hier als auch in deiner Welt. Nur so können wir über euch wachen.“
Ist mein Vater auch hier?
„Nein“ Wieder entstand eine Pause. Ich glaubte schon, keine weiteren Erklärungen mehr zu bekommen, als sie seufzte und schließlich weiter erzählte.
„ Man sorgte dafür, dass wir weder hier, noch auf der anderen Seite, jemals wieder zueinander finden würden. Dass ich die Chance bekomme mit dir zu reden und nicht dein Vater, liegt einfach daran, dass du eher nach mir kommst, mein Schatz. Dein Temperament, der starke Wille und das Feuer, das so stark in dir wütet, gaben mir diese Möglichkeit.“
Werde ich ihm also niemals begegnen?
„Das weiß ich nicht“
Aber …
„Es ist soweit!“
Was?
„Er hat sich entschieden. Spürst du es nicht? Er zieht dich zurück.“ Jetzt wo sie es sagte, wurde mir das bekannte Gefühl eines Seils um meinen Bauch bewusst. War er es auch gewesen, der mich aus meinem Zimmer, weg von der drohenden Gefahr, gezogen hatte?
Aber es gibt noch so viel, was ich dich fragen muss!
„Dafür haben wir nicht mehr die Zeit. Du wirst deine Antworten bekommen, doch nicht jetzt und auch nicht von mir.“
Aber …
„Ich habe noch eine letzte Bitte, mein Liebling.“
Alles was du willst.
„Finde deine Schwester, bevor es eure Feinde tun! Sie braucht dich.“ Alles um mich herum wurde langsam milchig, verblasste in einem dichten, weißen Nebel. Die Stimme meiner Mutter, wurde immer leiser. Sie war kaum noch mehr, als ein Flüstern.
Aber wie soll ich sie denn finden? Wo soll ich suchen? Doch niemand antwortete mir. Die Umgebung wurde wieder dunkler und bunte Punkte fingen an vor meinen Augen zu tanzen, bildeten abstrakte Formen und verschmolzen schließlich.
Mama?
„Ich glaube an dich, mein Schatz. Achte auf die Glühwürmchen! Ich werde immer bei dir sein.“, es war kaum zu verstehen und doch brannten sich diese Worte in meinen Verstand, bevor mir alles entglitt und ein stechender Schmerz meinen Körper erfasste.
„Komm schon Jaime, wach verdammt noch mal auf!“
Nichts kann unverwandelt gerettet werden,nichts,
das nicht das Tor seines Todes durchschritten hätte.
-Theodor W. Kunstvoll
Blut. Es war einfach überall. Klebte auf dem Boden der Dusche, an ihrer Kleidung und an seinen Händen. Immer wieder rüttelte er an ihren Schultern, versuchte verzweifelt, nicht in Panik auszubrechen. Warum, zur Hölle, musste das immer ihm passieren? Nicht mal einen Tag war sie bei ihm und versuchte schon sich das Leben zu nehmen. Er hätte sie einfach nicht alleine lassen sollen, das war ihm jetzt klar geworden. Sie hatte gerade ihren Bruder verloren, da war es nur verständlich, dass sie zusammenbrach und nicht mehr klar denken konnte, keinen Sinn mehr im Leben sah und er hatte es nicht bemerkt, bis zuletzt nicht geahnt, dass sie ihre Drohung wahr machen würde. Er war so dumm gewesen und musste nun den Preis dafür zahlen. Nimand anderes war an dem Schuld, was passiert war. Er hatte die Verantwortung für sie, also musste er auch dafür gerade stehen.
Er drückte seine Hand auf ihre Brust, direkt über ihrem Herzen und konzentrierte sich nur auf das Leben, dass aus ihrem Körper floss. Tropfen für Tropfen sickerte es in den Abfluss der Dusche. Ihre Haut war bereits kalt, ihre Augen geschlossen, so lag sie in seinen Armen. Er atmete einmal tief ein und wieder aus und tat das, was alles verändern würde. Er gab ihr, ihr Leben zurück, eine zweite Chance und einen Teil seiner Selbst.
Langsam breitete sich ein schwarzer Nebel über ihren Körpenr aus, hüllte sie ein. Dann wartete er, Minuten, Stunden, ohne das etwas passierte. Verharrte in der Dusche und wog ihren leblosen Körper leicht hin und her. Er musste geduldig sein, auch wenn es ihm wie eine Ewigkeit vorkam, bis er endlich den ersten, schwachen Schlag ihres Herzens spürte. Wie auf Komando verzog sich auch der schwarze Schleier um sie herum, wurde von ihren Körpern absorbiert, bis nichts mehr von ihm übrig war.
Er richtete sich auf, lehnte sie behutsam mit dem Rücken gegen die kalten Fliesen und sah ihr ins Gesicht. Vorsichtig strich er ihr eine rote Sträne aus der Stirn und verharrte kurz mit seiner Hand an ihrer Wange. Schon jetzt konnte er es spüren. Verdammt, fluchte er innerlich. Aber es war zu spät, um zu bereuen. Er hatte getan, was nötig war um seinen Auftrag zu erfüllen. Sie musste leben, das war das aller Wichtigste, denn tot nützte sie niemandem etwas. Wieder verging eine lange Zeit, ohne das sich etwas regte und auch wenn er es zum ersten Mal getan hatte, wusste er, dass das nicht normal war. Wieder fing er an sie an den Schultern zu rütteln, doch es brachte nichts. Sie wirkte wie eine leblose Puppe. Nur das leise Pochen ihres Herzens zeugte von dem Leben, das in ihr schlummerte.
„Jaime“, flüsterte er und versuchte eine Reaktion in ihrem Gesicht zu erkennen. Nichts.
„Wach schon auf!“, frustriert fuhr er sich mit einer Hand durch seine Haare. Was, wenn er etwas falsch gemacht hatte? Was, wenn sie in eine Art Koma gefallen war?
„Scheiße!“, fluchend ließ er von ihr ab und stand auf. Mit großen Schritten durchquerte er das kleine Bad und suchte im Nebenzimmer nach seinem Handy. Doch er fand es nicht auf Anhieb und verlor die Nerven. Mit einer geschmeidigen Bewegung seines Armes wischte er eine kitschige Blumenvase und die dazu passende , unglaublich hässliche, Lampe von der alten Kommode. Beides zersplitterte unter einem lauten Krachen an der gegenüberliegenden Wand. Schwer atment, krallte er seine Hände in die Haare und versuchte sich zu beruhigen, doch es gelang ihm einfach nicht.
Was sollte er jetzt nur tun? Verzweifelt sah er sich im Zimmer um und überlegte für einen kurzen Moment, einfach seine Sachen zu schnappen und zu verschwinden, irgendwo unter zu tauchen. Doch noch bevor er diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen konnte, ließ ihn das leise Klingeln eines Handys aufhorchen. Seines Handys! Er entdeckte es unter einem der Betten und nahm ab, sobald er es in die Finger bekam.
„Ja“
„Hey, Zack, ich bins. Warum zum Teufel hat das denn so lange gedauert? Gibt’s Probleme?“, Zack stöhnte genervt.
„Und was für welche!“, gab er resigniert zu und setzte sich auf sein Bett.
„Ich hatte sie, alles war gut, bis sie auf die glorreiche Idee kam, sich die Pulsadern aufzuschlitzen.“, Chester sog hörbar die Luft ein.
„Sie ist tot?“, wollte er aufgeregt wissen. Zack zuckte mit den Schultern.
„Ich weiß es nicht“
„Was soll das heißen?“, er fuhr sich mit der freien Hand übers Gesicht, bevor er noch einmal tief durchatmete.
„Ich hab sie zurück geholt, aber-“
„Du hast was? Bist du bescheuert?“
„Was hatte ich denn bitte für eine Wahl? Du weißt was ihr Tod bedeutet hätte. Ich musste das tun!“
„Und du weißt hoffentlich was ihr Tod jetzt für dich bedeutet.“
„Ja“, meinte er nur mit belegter Stimme. Kurze Zeit blieb es still, bis Zack schließlich das Schweigen brach.
„Das ist aber nicht das Problem, das ich meinte.“, eröffnete er und Chester stöhnte genervt auf.
„Was denn noch?“
„Sie wacht nicht auf“, wieder Stille.
„Es ist schon mehr als zwanzig Stunden her, doch sie rührt sicht nicht. Ihr Herz schläg, wenn auch schwach. Es ist als läge sie im Koma. Geht das? Hab ich vielleicht was falsch gemacht?“, wollte Zack verzweifelt wissen, stand wieder auf und tiegerte durch den kleinen Raum. Kurz warf er einen Blick durch die geöffnete Badezimmertür, doch sie war immernoch nicht aufgewach, lag noch genau so da, wie er sie zurückgelassen hatte.
„Chester?“
„Ich weiß es nicht. Eigentlich kann man dabei ja nicht viel falsch machen, aber ...“, er hielt inne.
„Aber?“
„Na ja, vielleicht hat es ja nicht ausgereicht.“
„Wie meinst du das?“
„Deine Kraft. Hast du vergessen, wer, oder besser was sie ist? Die gesamte Macht, die du aufbringen kannst, ist immerhin nur ein Bruchteil von dem, was sie in sich trägt. Denk doch mal nach. Bei jemandem deiner Art hätte es sicher funktioniert, vielleicht auch bei einem Wesen, dass dierekt über dir steht, aber bei ihr? Du stehst so weit unter ihr, Kumpel, selbst ihre Schuhe besitzen mehr Macht als du.“
„Jetzt übertreib mal nicht“
„Ich meine es ernst. Ich glaube selbst dein Vater hätte Probleme gehabt sie zurück zu holen.“
„Scheiße“, erneut ertönte ein lautes Krachen, während den Radiowecker, das gleiche Schicksal, wie die Vase und die Lampe, ereilte.
„Was soll ich denn jetzt machen?“
„Ich weiß es nicht. Du könntest versuchen, ihr mehr zu geben, vielleicht wacht sie dann auf, aber-“
„Wie viel mehr?“
„So viel wie nötig ist, aber-“
„Was wenn es nicht reicht? Wenn selbst alles nicht genug ist?“, Zack verzweifelte langsam.
„Dann verbringt sie den Rest ihres endlosen Lebens als Kartoffel und du gehst drauf.“
„Sehr aufmunternd“, schnaufte Zack und ging zurück ins Bad, hockte sich neben sie.
„Tut mir ja leid Kumpel, aber ich glaube du hast keine Wahl, oder willst du Linume erkläre, dass du für ihren Tod verantwortlich bist? Alles oder nichts Bruder!“
„Verdammt“
„Du sagst es“, in Gedanken versunken betrachtete Zack ihr regloses Gesicht. Wenn sie doch endlich aufwachen würde., dachte er verzweifelt, doch was sein musste, musste eben sein.
„Meld dich, wenn du´s überlebst, Kumpel.“, meinte Chester aufmunternd.
„Wir hören uns“, entgegnete dieser ruhig und beendete das Gespräche.
„Zeit zum Aufwachen, Alice“, murmelte er vor sich hin, setzte sich wieder neben sie und zog ihren Körper zurück in seine Arme. Erneut positionierte er seine Hand direkt über ihrem Herzen und konzentrierte sich. Es wird funktionieren. Es wird funktionieren. Es muss einfach funktionieren., versuchte er sich Mut zuzureden. Der schwarze Nebel kroch über ihre Körper. Er war dunkler als beim ersten Mal, schluckte das gesamte Licht in seiner Umgebung und legte sich um sie, hüllte sie ein. Mit jedem Schlag ihres Herzens sickerte ein Teil der Dunkelheit in ihren Körper und jedes Mal, wenn das passierte, gab Zack mehr seiner Kraft frei. Es wird funtionieren!
„Jaime wach auf!“, doch wieder rührte sie sich nicht. Der Nebel wurde immer dünner, durchlässiger und Zack musste gegen seinen Überlebenstrieb kämpfen um noch mehr seiner Macht freizusetzten. Ihm blieb nicht mehr viel übrig, würde sie jetzt aufwachen, könnte er sich wieder vollständig erholen, andernfalls würde er Probleme bekommen.
„Komm schon Jaime, wach verdammt noch mal auf!“, schrie er fast und tatsächlich meinte er eine Bewegung in ihrem Gesicht gesehen zu haben. Sofort richtete er sich ein Stück auf.
„Jaime?“, immer schneller absorbierte ihr Körper den schwarzen Dunst, bis er komplett verschwunden war. Dann öffneten sich flatternd ihre Augenlieder, ihr Gesicht verzog sich kurz zu einer schmerzverzerrten Maske, entspannte sich jedoch augenblicklich wieder und Zack atmete mehr als erleichtert auf.
„Gott sei dank, du bist wach.“, ohne groß darüber nachzudenken zog er sie noch enger an seine Brust und vergrub sein Gesicht in ihren Haaren. Verwirrt blickte sie sich um, wehrte sich jedoch nicht und ließ ihn gewähren.
„Versprich mir, dass du das nie wieder machst!“, murmelte er fordernd in ihre Haare und sie sah fragend zu ihm auf.
„Was denn?“, er hielt augenblicklich inne und begegnete ihrem Blick.
„Verarschst du mich?“
„Nein?“, es hörte sich eher nach einer Frage, als nach einer Antwort an. Er sah sich auffällig um und sie folgte seinem Blick und erstarrte. Überall war Blut. An ihr, auf ihm und in der gesamten Umgebung verteilt. Es war unglaublich viel. Egal was hier passiert war, das konnte doch niemand überleben, oder?
„Was … wer …?“, stotterte sie unbeholfen. Ohne ihr zu antworten griff er nach ihrem Handgelenk und hielt es vor ihr Gesicht.
„Mach das nie wieder!“, forderte er erneut eindringlich und sie konnte nur nicken. Eine Weile herrschte Stille und Zack bekam eine furchtbare Vorahnung. Ihr zitternder Körper war immernoch an ihn gekuschelt und sie hatte sogar ihre Hände in sein Shirt gekrallt. Warum?, fragte er sich. Wieso stieß sie ihn nicht von sich und ließ seine Nähe zu? Sie war doch hart im nehmen, das alles konnte sie doch eigentlich gar nicht so sehr schocken, oder?
„Jaime“, es dauerte einen Moment bis sie reagierte und ihn fragend ansah.
„Wer?“, Scheiße!, fluchte er innerlich.
„An was kannst du dich erninnern?“, sie sah ihn nachdenklich an und fing an auf ihrer Unterlippe zu kauen, als sie plötzlich erstarrte. Vorsichtig hob sie ihre Hand und tastete ihre Lippe ab.
„Was ist das?“, wollte sie schockiert wissen und zog vorsichtig an dem silbernen Stecker der sich rechts unter ihrer Lippe befand.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, fluchte er laut und versuchte aufzustehen, doch sie hinderte ihn daran.
„Was ist los? Wo willst du hin?“, ihre Stimme war viel zu hoch, panisch, genauso wie ihr Blick.
„Wer bin ich?“, fragte er ernst und sie schien verwundert.
„Du bist Zack“, antwortete sie ruhig, vollkommen sicher, als wäre das die einfachste Frage der Welt. Jetzt war es an ihm sie verwirrt anzusehen.
„Warum weißt du, wie ich heiße, aber erkennst deinen eigenen Namen nicht?“
„Ich weiß nicht“, es schien sie kein bisschen aus der Ruhe zu bringen.
„Kommt dir das nicht komisch vor?“
„Nicht sehr, ich hab einfach noch nicht darüber nachgedacht. Wie ist denn mein Name?“, sie sah ihn erwartungsvoll an und er säufzte verzweifelt.
„Jaime, verdammt noch mal, dein Name ist Jaime!
„Hmm“, sie dachte kurz darüber nach.
„Da klingelt nichts, aber gut zu wissen.“, meinte sie schließlich und er stöhnte genervt auf.
„Du treibst mich noch in den Wahnsinn. Weißt du denn auch, wer ich bin, oder bestehen deine gesamten Erinnerungen nur aus meinem Namen?“
„Äh … Na ja, genau genommen schon.“, sie zuckte unbeholfen mit den Schultern.
„Ich habe zwar keine Ahnung wie, wo und wann wir uns kennengelernt haben, aber ich weiß, dass ich dir vertrauen kann, das ist alles.“, verzweifelt fuhr er sich mit den Händen durch die Haare.
„Einen Scheiß weißt du!“
„Aber-“
„Nix aber!“, obwohl sie sich immernoch an ihn klammerte, stand er auf, zog sie mit sich auf die Beine. Er suchte kurz auf dem Boden nach seinem Handy und wählte Chesters Nummer, nachdem er es gefunden hatte. Er brauchte unbedingt Hilfe! Jaime stand unbeholfen neben ihm.
„Bist du jetzt böse?“, sie sah ihn mit großen Augen an.
„Nein“, brummte er nur und hielt sich das Handy ans Ohr. Schon nach dem ersten Klingeln ging Chester ran.
„Du hast es also überlebt.“, stellte er erfreut fest.
„Und ob du böse bist. Was hab ich denn getan?“, es schien sie nicht im geringsten zu interessieren, dass er telefonieren wollte.
„Jaime, halt die Klappe!“, schnauzte er und sie verschränkte bockig die Arme vor der Brust.
„Ah, es hat also funtioniert.“, das Lächeln in Chesters Stimme war unüberhörbar.
„Ja, mehr oder weniger.“
„Du bist so gemein!“, meckerte sie vor sich hin und stampfte, wie ein kleines Kind, mit dem Fuß auf. Chester lachte.
„Sie scheint putz munter zu sein.“, stellte er zufrieden fest, doch Zack seufzte genervt auf.
„Nicht wirklich. Ich glaube, sie hat ihr Gedächtnis verloren. Das Einzige, an das sie sich erninnern kann, ist mein Name und ich hab keine Ahnung warum.“
„Verdient hast du´s ja nicht, so wie du mit mir umspringst.“, grummelte sie weiter und sah ihn vernichtend an.
„Wenn du nicht gleich ruhig bist, knebel ich dich!“, er erwiederte ihren Blick und griff drohend nach einem der Handtücher, die auf einer Ablage verteilt waren.
„Ganz ruhig Zack. Vielleicht liegt es ja an der Verbindung, dass sie sich zumindest an deinen Namen erinnert. Wahrscheinlich ist das gar nicht mal so schlecht, hast du darüber schon mal nachgedacht?“
„Ich kann mich nicht erinnern, sowas verdiehnt zu haben.“, sie konnte einfach nicht ruhig sein.
„Und das liegt auch ganz bestimmt nicht daran, dass dein Gedächtnis momentan auffallende Ähnlichkeit mit einem schwarzen Loch hat.“, meinte er sarkastisch und sie streckte ihm die Zunge raus, nur um kurz darauf los zu quieken, als sie versuchte diese wieder in ihrem Mund verschwinden zu lassen.
„Da isss ja noch sson Ding!“, stellte sie lisbelnd fest.
„Anscheinend“, meinte er nur kurz.
„Was ist denn los?“, wollte nun auch Chester neugierig wissen.
„Sie lernt gerade ihren Körper und dessen metallische Dekoration ganz neu kennen.“
„Bitte was?“
„Soll das heißen ich hab noch mehr davon?“, sie sah ihn erschrocken an und stellte sich schnell vor den kleinen Spiegelschrank, der über dem Waschbecken hing. Bei ihrem geschockten Gesichtsausdruck konnte auch Zack sich ein Lachen nicht verkneifen.
„Zack“
„Hmm?“
„Hörst du mir eigentlich zu?“, wollte Chester ernst wissen.
„Wer zum Teufel braucht denn gleich zwei Lippenpiercings? Hätte eins nicht auch gereicht?“, sie sah Zack durch den Spiegel fragend an.
„Das nennt sich Snakebite“
„Ich weiß, wie das heißt, ich bin ja schließlich nicht dumm!“
„Wie schön, dass du dich zumindest noch an die wichtigen Dinge erinnerst.“, zog er sie schmunzelnd auf.
„Zack!“
„Gott, du bist ja so witzig“, ihre Stimme troff nur so vor Ironie, was ihn aber nicht davon abhielt noch breiter zu grinsen.
„Meine Fresse, ich merk schon, das hier führt zu nichts. Pass auf, ich hole euch, wo seid ihr?“
„Äh … Was?“, endlich konzentrierte er sich wieder auf seinen Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung.
„Wo ihr seid, du Genie“
„Irgendwo am Stadtrand von Redmond, in einem kleinen Motel. Warum?“
„Ich hole euch! Aber Redmond ist zu gefährlich, es hat sich erstaunlich schnell rumgesprochen wo sie ist. Kannst du sie in zwei Tagen nach Salem bringen?“
„Sicher“
„Gut, ich melde mich dann morgen noch mal, um den Treffpunkt auszumachen.“
„Tu das“, Zack legte auf und verstaute sein Handy in der Hosentasche.
„Hör auf daran zu ziehen, du reißt sie dir noch raus.“, tadelte er Jaime, die anscheinend die Elastizität ihrer Haut mit hilfe iher Lippenpiercings überprüfte.
„Ich bekomme die nicht raus!“
„Dann lass sie doch einfach da wo sie sind“, Jaime sah überrascht auf.
„Gefallen sie dir?“, sie ließ endlich von den silbernen Steckern ab und legte den Kopf leicht schief.
„Ich weiß nicht. Warum fragst du mich das? Sie müssen doch dir gefallen und nicht mir.“
„Wenn du sie magst, lasse ich sie drin“, lächelte sie und drehte sich zu ihm um.
„Das ist das Dümmste, was ich heute von dir gehört habe“
„Also gefallen sie dir?“, sie überging seine Stichelei einfach und sah ihn abwartend an. Doch anstatt zu antworten drehte er sich einfach um, verschwand im Nebenzimmer, nur um kurz darauf, mit einem Haufen Klamotten in der Hand zurück zu kommen.
„Hier“, er warf ihr das kleine Bündel zu und drehte sich erneut um.
„Geh duschen und zieh das an!“, kaum hatte er die Worte gemurmelt, war er auch schon durch die Tür verschwunden und hatte sie hinter sich geschlossen.
„Sie gefallen ihm“, stellte sie lächelnd fest und tat was er gesagt hatte.
***
„Ich fühle mich ein wenig unwohl“, verunsichert schaute ich mich um.
„Warum?“
„Weil die Leute uns anstarren“, erneut musterte ich meine Umgebung, eine überfüllte Fußgängerzone an deren Seiten sich ein Geschäft an das nächste reihte, und begegnete etlichen interessierten Blicken.
„Ignorier sie einfach, sollen sie doch gucken.“, Zack schienen die gaffenden Passanten gar nicht zu interessieren. Mich dafür um so mehr, doch ich tat ihm den Gefallen, reckte das Kinn und straffte die Schultern. Geheucheltes Selbstbewusstsein war alles was ich den unzähligen Augenpaaren, die jeden uneserer Schritte verfolgten, entgegen zu setzten hatte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Veränderung meiner Haltung und schmunzelte.
„Was ist so lustig?“, wollte ich wissen und hakte mich bei ihm unter. Keine Ahnung warum und es war mir auch herzlich egal, aber ich hatte das Verlangen, ihn zu berühren und gab diesem einfach nach. Er ließ es zu und schmunzelte erneut.
„Nichts“
„Komm schon, erzähl!“, beharrte ich weiter und sah ihn eindringlich an. Die umstehenden Leute und deren Blicke waren volkommen aus meinem Bewusstsein verschwunden. Alles worauf ich mich konzentrierte war Zack.
„Ich hatte nur den Eindruck, dass dich solche Blicke früher einen feuchten Dreck interessiert hätten. Wahrscheinlich hättest du sie sogar mit deinem Mittelfinger beantwortet.“, er grinste schief und ich dachte über seine Worte nach.
„Wirklich?“
„Ich denke schon“
„Und … wie war ich noch so?“, es war schon seltsam, wenn er mir etwas aus der, doch ziemlich kurzen, Zeit erzählte, in der er mich kannte. Wir wussten nicht, warum sich meine gesamten Erinnerungen lediglich auf seinen Namen beschränkten, da ich noch nicht einmal meinen eigenen erkannte, doch ich hatte komischer Weise auch nicht das Verlangen allzu viel über meine Vergangenheit zu erfahren. Nicht, dass ich nicht wissen wollte, wie ich war, aber ich konnte das Gefühl nicht unterdrücken, dass mein vergangenes Leben alles andere als einfach und schön verlief.
Zack hatte mir erzählt, dass ich erst vor kurzem meinen Bruder verloren hatte und alleine das im Zusammenhang mit meinem gescheiterten Selbstmordversuch, ließ mich nur erahnen, was in meinem Innern vorgegangen sein musste. Doch wenn wir darüber sprachen fühlte es sich an, als würden wir über eine Fremde sprechen. Mein Gehirn weigerte sich strikt die Erzählungen auf meine Person zu beziehen. Ich war eine Außenstehende, die sich selbst mit einer gewissen Distanz bemitleidete, nicht mehr und nicht weniger
„Na ja, du hattest eine ziemlich große Klappe.“, er schmunzelte, anscheinend in einer Erinnerung vertieft und ich lauschte ihm weiter gespannt.
„Aber du hast niemanden an dich ran gelassen, wolltest mir ums verrecken nicht vertrauen und hast jeden als Bedrohung angesehen,“
„Aber warum bin ich dann mit dir mitgegangen, wenn ich dir nicht vertraut haben und dachte, dass du mir schaden willst?“, so schräg es auch klang, aber ich war mir selbst mehr als ein Rätsel, vor allem, da ich mir nicht vorstellen konnte, Zack zu misstrauen. Das schien ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, als würde das Vertrauen zu ihm einfach zu meinem Wesen dazu gehören. Es war einfach da, unerschütterlich und erfüllte jede Zelle meines Körpers.
„Weil du keine andere Möglichkeit hattest. Ich denke der Tod deines Bruders hat dich aus der Bahn geworfen. Du wusstest nicht mehr wo du hin sollst und ich hab dir geholfen und dich dann mitgenommen.“, er hielt vor einem Geschäft, öffnete die Tür und bedeute mir, mit einem Nicken, hinein zu gehen. Ich kam seiner Aufforderung nach und betrat, gefolgt von ihm, den kleinen Laden.
„Wir haben nicht viel Zeit. Hose, Shirt, Unterwäsche, Socken, Schuhe, tob dich aus, aber beeil dich.“, wies er an. Als Antwort bekam er von mir nur einen verwirrten Blick.
„Du kannst nicht ewig in einem meiner Shrits, einer Boxershort und den blutigen Schuhen durch die Kante rennen.“
„Zu viel Aufmerksamkeit?“, schlussfolgerte ich und er nickte. Er hatte mir erzählt, dass irgendwer hinter mir her war, was wohl auch irgendwie mit dem Tod meines Bruders zusammenhing. Aber worum genau es dabei ging, hatte er mir noch nicht gesagt. Ich wand mich wiederwillig von ihm ab und sammelte mir innerhalb weniger Minuten alles zusammen, was ich brauchte. Wobei ich die Schuhe weg ließ. Ich wollte meine alten behalten, auch wenn sich ein paar Spritzer meines Blutes auf ihnen befanden. Aber es war ja nicht viel, da sie, warum auch immer, in einer Ecke des kleines Bads gestanden hatten, also dürfte es eigentlich kaum auffallen. So konnte ich wenigstens etwas aus meinem vergangenen Leben behalten.
Ich ging zurück zu Zack, der bereits an der Kasse auf mich wartete und ziemlich desinteressiert und nur mit dem halben Ohr, den Erzählungen der Mitarbeiterin lauschte. Sobald ich auf ihn zu kam richtete sich seine gesamte Aufmerksamkeit auf mich, was meinen Körper mit einem Hochgefühl erfüllte.
„Fertig“, meinte ich mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht und hielt meine Ausbeute, wie eine Trophäe in die Luft. Er nahm mir, mit einem schiefen Grinsen, die Sachen ab und legte sie der Verkäuferin vor die Nase. Diese musterte mich kurz mit einem eindeutig missbilligenden Blick, bevor sie nacheinander die Preise einscannte und Zack bezahlte. Ihm gegenüber schien sie wesentlich positiver gesinnt als mir, denn sie strahlte praktisch vor Freude, als er zahlte und ihr somit ein wenig Aufmerksamkeit schenkte. Woran das wohl liegt?, dachte ich ironisch und lehnte demonstrativ meinen Kopf an Zacks Schulter.
„Zieh die Sachen am besten gleich an, dann starren die Leute auch nicht mehr so.“, flüsterte er mir ins Ohr und überreichte mir den Stapel Kleidung. Die Belustigung in seiner Stimme war nicht zu überhören, doch auch wenn die neuen Sachen eigentlich meinem Schutz dienen sollten, hatte ich das Gefühl er wollte mir damit auch einen Gefallen tun, weil es mich eben störte, wenn mich die Passanten angafften. Und selbst, wenn ich nur zu viel in diese Geste hineininterpretierte, freute ich mich darüber.
Zwanzig Minuten später, waren wir wieder unterwegs. Gingen vorbei an unzähligen Geschäften, Eisdielen und Restaurants, als ich meinte Musik zu hören. Erst war ich mir nicht sicher, doch als sie immer lauter wurde, je weiter wir gingen wand ich mich fragend Zack zu.
„Was ist das?“
„Keine Ahnung, wahrscheinlich irgendeine stumpfsinnige Veranstaltung auf der man viel zu viel Geld, unnütz für Essen, Getränke oder den Versuch ausgibt, ein Kuscheltier aus einem Automaten zu angeln.“
„Du meinst so eine Art Stadtfest?“
„Möglich“, es konnte nicht mehr weit sein, denn immer mehr Leute mit Zuckerwatte in der Hand, oder Kinder mit Ballongtieren kamen uns entgegen. Als dann schließlich die Masse an Mensche immer größer wude und ich Zack, bereits zwei Mal, fast aus den Augen verloren hatte, griff ich nach seiner Hand und zog ihn in Richtung eines Zuckerwattestandes.
„Das sind viel zu viele Menschen, wer tut sich denn sowas freiwillig an?“, verständnislos sah ich ihn an und er erwieder meinen Blick auf die selbe Art und Weise.
„Ich hab keine Ahnung“, meinte er und wand sich kopfschüttelnd von der nie versiegenden Flut der Passanten ab. Ich beobachtete das Schauspiel noch eine Weile und wunderte mich, das niemand totgetrampelt wurde, als Zack mir plötzlich eine Portion rosa Zuckerwatte vor die Nase hielt.
„Wenn wir eh einmal hier sind-“, kommentierte er seinen Einfall gelangweilt.
„-können wir uns auch ein wenig umsehen.“, ich lächelte über seinen unerwartete Sinneswandel. Er nahm meine Hand und zog mich am Rande des Menschenstroms tiefer aufs Festgelände, steuerte nach einer Weile zielstrebig auf einen Schießstand zu. Ich sah mir die Preise an, die als Anreiz an den Wänden hingen, während Zack sich an einer der Waffen positionierte.
„Was willst du?“, fragte er, während er sich das Luftgewehr genauestens besah.
„Keine Ahnung“
„Komm schon such dir was aus, egal was.“, meinte er grinsend. Der Schausteller, dem der Stand gehörte, sah uns nur geringschätzig an. Neben uns versuchte ein kleines Mädchen, mit blonden Zöpfen, über den Tresen zu sehen, zeigte dann auf einen riesigen Stoffteddy und hüpfte aufgeregt auf und ab.
„Ben, Ben! Den will ich!“, ein blonder Kerl, mit hellbraunen Augen, trat neben die Kleine und musterte den Teddy mit strengem Blick.
„Für so einen Mist gebe ich kein Geld aus.“, meinte er kalt und ich rechnete jeden Moment damit, dass die Kleine in Tränen ausbrach. Sie schien auch kurz davor, ihre Unterlippe zitterte bereits gefährlich, als noch ein weiteres Mädchen, in meinem Alter, sich in das Gespräch mit einmischte.
„Komm schon Ben, sie ist deine Schwester, tu ihr doch den Gefallen.“, versuchte sie ihn zu überzeugen, doch er blieb hart.
„Nein“
„Bitte Ben“, bettelte nun auch die Kleine erneut.
„Nein“, ich fragte mich wirklich wie ein Kerl so gemein zu einem kleinen Mädchen sein konnte und erstrecht, wenn sie seine Schwester war. Ich drehte mich wieder zu Zack um.
„Den da“, meinte ich zu ihm und zeigte auf eben jenen Teddy. Zack nickte zufrieden und widmete sich dem Schausteller.
„Wie viele Punkte brauche ich für den Teddy?“, wollte er wissen und das höhnische Grinsen des älteren Mannes wurde breiter.
„Hundertfünfzig Punkte. Pro Treffer gibt’s zwei Punkte und pro Platz hundert zu treffende Ziele, also musst du fünfundsiebzig Ziele treffen.“, leierte er runter und lächelte ihn abschätzig an. Auch das kleine Mädchen und ihre Begleiter hatten das Gespräch mitbekommen und anscheinend gefiel es Ben nicht, dass Zack sich genau den Preis holen wollte, den er seiner Schwester versagt hatte. Er trat an den Platz neben uns und nahm die Waffe in die Hand.
„Danke Ben“, quietschte die Kleine freudig, doch ihr Bruder beachtete sie kaum.
„Sei still, ich muss mich konzentrieren.“, wies er sie an und sie verstummte augenblicklich. Irgendwie tat sie mir leid, wer wollte schon so einen Typen als Bruder. Das Mädchen, das in meinem Alter war, nahm die Kleine an der Hand und zog sie ein Stück zur Seite, damit sie ihrem Bruder nicht im Weg stand.
Ich fragte mich, ob sie ebenfalls mit ihm verwand war, oder eher seine Freundin. Wahrscheinlich eher letzteres, denn sie hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit ihm. Ihre Haare waren lang und in einem tiefen schwarz, das im Licht leich bläulich schimmerte und ihre Augen hatten einen hellen Blauton, der mir irgendwie bekannt vorkam.
Allgemein erinnerte sie mich an irgenjemanden, was durch meinen Gedächtnisverlust schon an ein Wunder grenzte und ja nicht gerade häufig vorkam, doch ich wurde dieses Gefühl einfach nicht los. Als ich mich wieder Zack zuwand war ich der festen Überzeugung ihre Blicke zu spüren, die ebenfalls mustern auf mir ruhten. Komische Situation.
„Willst du noch etwas?“, ich brauchte einen Moment um zu reagieren, da ich ganz in Gedanken versunken war.
„Hmm?“
„Für den Teddy brauchen wir hundertfünfzig Punkte, aber es gibt insgesamt zweihundert zu erreichende, also bleiben noch fünfzig übrig. Kurzum du musst dir noch was aussuchen.“, verwirrt sah ich ihn an. Er grinste nur siegessicher.
„Das würde aber beudeten, dass du nicht ein einziges Mal daneben schießen darfst.“
„Ich weiß“
„Aber-“
„Ich habe nicht vor auch nur ein Ziel zu verfehlen. Glaub mir der nette Herr macht schon genug Geld, da brauche ich ihm meins nicht auch noch in den gierigen Rachen zu schmeißen.“, er redete laut genug, dass sowohl die umstehenden Leute, als auch der angesprochene Schausteller, jedes seiner Worte mehr als deutlich verstehen konnten.
„Eingebildeter Schnösel“, meckerte der Kerl hinter mir und schnaubte abfällig. Ich kicherte nur und schüttelte den Kopf.
„Du wirst schon sehen“, zwinkerte Zack mir zu und legte die Waffe an. Die erhöhte metallene Ablage, die dazu gedachte war dem Schützen das zielen zu erleichtern, beachtete er gar nicht. Die Art, wie er das Luftgewehr hielt, diese Vertrautheit, ich war mir sicher, dass es bei Weitem nicht das erste Mal war, dass er eine Waffe in der Hand hatte. Jedoch war es bisher wahrscheinlich nie so ein ungefährliches Model wie diese gewesen, das war offensichtlich. Auch der Bruder, des kleinen Mädchens legte die Waffe an, auf die selbe Weise wie Zack, doch es wirkte bei weitem nicht so sicher. Anscheinend wollte er ihm in nichts nachstehen. Männer.
„Kann´s losgehen?“, fragte Zack an den Schausteller gerichtete und dieser nickte zur Bestätigung. Kaum hatte er das Zeichen gegeben war das Klakern zu hören, das bezeugte, dass eine der kleinen Zielscheiben von einer Kugel getroffen wurde. In unglaublicher Geschwindigkeit und mit einer geschulten Ruhe stand er da, schoss nicht ein einziges Mal daneben und ließ so jeden in der Umgebung verdattert drein blicken. Nach nicht einmal zwei Minuten war das Schauspiel auch schon zu Ende und er hatte alle zu erreichenden Punkte geschossen.
„Siehst du“, grinste er erneut und ich tat es ihm gleich.
„Gar nichts so schlecht für einen eingebildeten Schnösel, auf einer so stumpfsinnigen Verstanltung wie dieser.“, zog ich ihn lachend auf und nahm meinen Preis entgegen. Auch der Typ neben uns war bereits fertig, hatte jedoch nicht einmal annähernd genug Ziele getroffen und somit nicht mehr als einen kleinen Schlüsselanhänger, in der Form eines Fisches, für seine Schwester heraus holen können. Immernoch lächelnd wand ich mich dem kleinen Mädchen zu, dass ziemlich traurig drein schaute und hockte mich vor sie. Verwundert sah sie mich an.
„Für dich“, ich hielt ihr den Teddy, der fast so groß war, wie sie selber, hin und sie nahm ihn freudestrahlend an.
„Danke Tante“, quietschte sie und fiel mir förmlich um den Hals. Ich erwiederte ihre Umarmung, drückte sie kurz an mich und genoss das Gefühl, etwas Gutes getan zu haben. Immerhin konnte ich ein kleines Mädchen glücklich machen und zum lächeln bringen, alleine dafür hatte sich der kleine Abstecher gelohnt.
Mittlerweile war es schon fast dunkel geworden. Die Dämmerung spendete kaum noch Licht, was jedoch die Atmosphäre der Kirmes, von überfüllt und nervig, zu romantisch und eigentlich gar nicht mal so übel, wechseln lies. Als die Kleine sich schließlich von mir löste, stellte ich mich wieder gerade hin und sah die Freundin des Bruders auf mich zukommen. Wieder verspürte ich eine gewisse Vertrautheit, wenn ich ihr ins Gesicht sah, doch ich wusste ums verrecken nicht woher. Sie lächelte mich an.
„Danke“, sagte sie schlicht, hielt mir ihre Hand entgegen und betrachtete mich einen Moment.
„Kein Problem, ich-“, weiter kam ich nicht, denn sobald sich unsere Hände berührten kribbelte es, als würden kleine Stromschläge durch den Hautkontakt ausgetauscht. Verwirrt sah ich sie an, war jedoch nicht in der Lage, meine Hand von ihrer zu lösen. Die Welt um mich herum schien zu verschwimmen. Ich bekam einen Tunnelblick, sah nur noch sie und die merkwürdigen kleinen Lichter, die um sie herum schwebten.
Doch plötzlich war alles vorbei. Ihr Freund hatte sie grob am Arm gepackt und schleifte sie zurück in den Menschenstrom, um von hier zu verscwhinden und ich konnte ihr nur verdatter nachsehen. Die kleinen Lichter die ich gesehen hatte, blieben jedoch. Es waren Glühwürmchen, die um mich herum durch die Luft flogen.
Was machen die denn auf einer Kirmes?
Viele Leute denken,
die anderen, die Fremden,
würden ihnen etwas wegnehmen,
was sie noch gar nicht haben.
-Louis Malle
Volkommene Dunkelheit umgab mich. Ich lag auf meinem Bauch, mit meinem Kopf halb unter dem Kissen und von einer dicken Steppdecke verdeckt, als ich blinzelnt meine Augenlieder aufschlug. Mit schweren Gliedern drehte ich mich auf die Seite, sah, zum gefühlt tausendsten Mal, auf die blinkende Anzeige des Radioweckers neben mir. Kurz nach drei Uhr morgens. Klasse, wirklich klasse. Die ganze Nacht, wälzte ich mich bereits schlaflos in meinem Bett. Nickte immer nur für wenige Minuten weg, um danach sofort, wie aus einem Albtraum hochzuschrecken, jedoch ohne mich daran zu erinnern überhaupt die Augen geschlossen zu haben. Ich war totmüde, fand jedoch keine Ruhe. Ich drehte mich halb um und sah zu Zack, der selig schlummernd in seinem Bett lag. Das ging so nicht weiter! Kurzentschlossen schlug ich meine Decke zur Seite, krabbelte aus meinem Bett und setzte mich dirket neben Zack auf die Matratze.
„Zack“, ich rüttelte leicht an seiner Schulter, doch er grummelte nur etwas unverständliches und versuchte meiner Hand zu entkommen, indem er mir den Rücken zu drehte.
„Zack, komm schon, wach auf.“
„Hmm“, er klang immernoch nicht wirklich wacher, drehte sich jedoch wieder zu mir und öffnete sogar seine Augen ein wenig.
„Ich kann nicht schlafen“
„Hmm“, eins seiner Augen hatte sich bereits wieder geschlossen und ich bezweifelte, dass sein anderes noch länger durchhalten würde.
„Kann ich bei dir schlafen?“, ein paar Minuten vergingen, in denen er nicht reagierte. Ich rechtnete bereits damit, dass er wieder eingeschlafen war, als er ohne ein weiteres Wort seine Decke ein Stück anhob, sodass ich schnell darunter schlüpfen konnte. Bevor er auch nur die Möglichkeit hatte, sich von mir zu entfernen, legte ich meinen Kopf auf seinen Arm und kuschelte mich an seine warme Brust. Er ließ es zu, war wahrscheinlich bereits wieder im Land der Träume versunken. Sobald ich die Wärme seines Körpers spürte, den Geruch seiner Haut in meine Lungen sog, überrollte mich die Müdigkeit wie eine Dampfwalze. Automatisch schlossen sich meine Augen und ich glitt davon, immer tiefer in die wohltuende Schwärze.
***
„Ach komm schon Sam, ist das dein Ernst?“, kritisch betrachtete sie die einzelnen Dokumente, die vor ihr, auf dem Holzfußboden, ausgebreitet lagen und sie zu verhöhnen schienen.
„Es ist doch nur noch dieses eine Jahr. Ich will einfach, dass du wie alle anderen auch, eine gute Chance auf eine erfolgreiche Zukunft hast. Bitte Jaime.“, er sah sie flehend an und beinahe hätte sie ihm dieses Laientheater abgekauft, aber nur beinahe.
„Ich bitte dich. Sammy, warum kannst du mir nicht einfach die verdammten Zeugnisse fälschen, die ich für eine gute Chance auf eine erfolgreiche Zukunft brauche?“, äffte sie ihn zickig nach. Sie verstand einfach nicht, warum er darauf bestand, dass sie ihr letztes Schuljahr absolvierte. Sollten sie, aus welchen Gründen auch immer, wieder zur Flucht gezwungen sein, müsste er ihr doch sowieso wieder neue Papiere besorgen. Es machte für sie keinen Sinn.
„Ich will dir doch nur eine gewisse Normalität ermöglichen.“, versuchte er erneut, sie von seinen guten Absichten zu überzeugen. Sie verschränkte nur bockig die Arme vor der Brust und schob ihre Unterlippe vor.
„Es wäre viel hilfreicher, wenn ich mir einen Job suchen und Geld für uns verdienen könnte, statt Tag für Tag dämlich in einer Schule rumzusitzen und mir das dumme, umwissende Geschwafel der Lehrer anzuhören. Was soll mir das bringen?“, sie schmollte wie ein trotziges Kind, doch Sammy schien das nicht im Geringsten zu interessieren. Er stand vor ihr, mit einem großen Karton in den Hände, und sah tadelnd auf sie hinunter.
„Jaime, benimm dich nicht wie ein kleines Kind. Unser Geld reicht noch eine Weile, danach werde ich mir einen Job suchen. Wir bekommen das schon hin, aber bitte tu mir diesen einen Gefallen.“, er packte doch tatsächlich seinen Hundeblick und diese bitte-tu-mir-nur-diesen-einen-Gefallen-Masche aus. Na klasse, da konnte sie ja nur verlieren. Immernoch mit einem gnatzigen Audruck im Gesicht, den sonst nur kleine Kinder hinbekamen, stand sie schnaubend auf und stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm in die Augen sehen zu können.
„Fein, aber die werden schon sehen, was sie davon haben!“, drohte sie böse lächelnd, doch Sam schien das nicht ernst zu nehmen.
„Ach ja? Was willst du tun? Die Schule anzünden oder doch lieber einen Lehrer als Geisel nehmen und drohen, ihn nur unversehrt frei zu lassen, wenn sie dir ein Fluchtauto und ein Abschlusszeugnis zur Verfügung stellen?“, grinsend ging er an ihr vorbei, stellte den Karton an die gegenüber liegende Wand, an der bereits etliche weitere gestapelt waren.
„Vielleicht“, schmunzelte sie leichthin, sammelte die Papiere vom Boden auf und schmiss sie auf eine der Umzugskisten.
„Aber womöglich stifte ich auch einfach alle anderen Schüler zu den unsinnigsten Sachen an. Ich meine, warum soll ich mir die Hände schmutzig machen, wenn es auch andere für mich übernehmen können?“, sie zwinkerte ihm zu und ließ sich auf die alte, geblümte Couch in der Mitte des Zimmers fallen. Er lachte nur weiter, setzte sich neben sie und zog sie in seine Arme.
„Du wirst nichts der gleichen tun.“, flüsterte er in ihr Haar.
„Woher willst du das wissen?“, schnaubte sie empört und richtete sich ein Stück auf, um ihn ansehen zu können.
„Weil du es für mich tun wirst. Du wirst immer püktlich sein, super Noten schreiben und alle anderen komplett ignorieren, so wie du es immer machst.“, er hatte recht, das wussten sie beide. Etwas unverständliches grummelnd, griff sie nach der Fernbedienung, die neben ihr lag, schaltete den Fernseher ein und kuschelte sich enger an Sams Körper.
***
Ein schrilles, nerviges Piepen, hallte durch meinen Kopf, schien von überall her zu kommen. Murrend vergrub ich mich tiefer unter meinem Kissen, drückte mir den Stoff auf die Ohren, doch es wurde kaum leiser.
„Zack, mach den blöden Wecker aus!“, grummelte ich, doch nichts geschah, das unerträgliche Geräusch wollte einfach nicht verstummen.
„Oh bitte“, stöhnte ich gequält und warf mein Kissen in die Richtung, in der ich die Quelle des Lärms vermutete, doch auch das brachte keinen Erfolg.
„Wenn ich dich in die Finger kriege, reiße ich dir jedes Zahnrad einzeln raus, du mieses, kleines …“, fluchend erhob ich meinen müden Körper und war schon drauf und dran dem kleinen, nervenden Zeitmesser, den nicht vorhandenen Hals umzudrehen, doch zu meinem Erstaunen musste ich feststellen, das der Wecker auf meinem Nachttisch gar nicht der Schuldige war. Ganz im Gegenteil, das brave kleine Ding zeigte vollkommen tonlos die Zeit an, nichts weiter. Verwirrt sah ich mich um und brauchte einen Moment, um festzustellen, dass es Zacks Handy war, das fröhlich vor sich hin klingelnd, auf der Kommode lag.
„Zack, dein Handy klingelt“, informierte ich ihn und wollte schon wieder ins Bett kriechen, als ich bemerkte, dass der Herr gar nicht hier war.
„Zack?“, rief ich noch mal, taxierte das Zimmer auf der Suche nach ihm, sah sogar im Bad und unter den Betten nach, doch er war nicht zu finden. Der hatte vielleicht Nerven. Er hätte sein dämliches Handy wenigstens mitnehmen können. Apropos dämliches Handy, das lästige Ding schrillte immernoch laut vor sich hin. Ich war mir sicher, dass es wahrscheinlich schon das gesamte Motel aufgeweckt hatte und jeden Moment, die wütende Meute hier eintreffen würde, um es mit Mistgabeln und Fackeln zur Strecke zu bringen. Doch da ich nur in einem von Zack´s Shirts hier stand, ging ich schnell ran, um das schlimmste zu verhindern. Immerhin wollte ich nicht, vor was weiß ich wie vielen Leuten, halb nackt da stehen.
„Was?“, blaffte ich in den Apparat, bekam jedoch nicht sofort eine Antwort. Anscheinend hatte mein Gesprächspartner nicht mit so einer Begrüßung gerechnet. Idiot, was erwartete er denn um diese unchristliche Zeit? Immerhin war es erst … ich ließ meinen Blick zum Wecker schweifen … halb elf. Ich sag ja, unchristlich wie sau.
„Ähm ... ich bins, Chester, wo ist Zack?“
„Bin ich sein Kindermädchen, oder was? Keine Ahnung wo der Herr sich rumtreibt.“
„Nein, aber ich wollte mit ihm besprechen, wo wir uns treffen.“
„Tja, dann bleiben dir wohl nur zwei Möglichkeiten. Entweder du sagst es mir – wobei ich nicht garantieren kann, dass ich es mir merken, geschweigedenn Zack korrekt überliefern werde – oder aber du rufst später noch mal an, wenn er wieder hier ist.“
„Okay, dann nehme ich das Tor nummer zwei!“, sein dümmliches Grinsen, das seinem eigenen Witz galt, war nicht zu überhören.
„Scherzkeks“, zickte ich und legte einfach auf. Grummelnd schnappte ich mir ein paar meiner neuen, sauberen Klamotten aus Zack´s Tasche und schlurfte Richtung Badezimmer. Wir hatten bereits am Vortag festgestellt, dass ich alles andere als ein Morgenmensch war und nur eine einzige Sache meine Laune heben konnte. Kaffee! Wahrscheinlich war ich süchtig nach der braunen Plürre, zumindest verhielt ich mich so, wenn sie mir enthalten wurde.
Als ich eine halbe Stunde später geduscht und angezogen wieder aus dem Badezimmer stolperte -hinterhältige Fußleiste- war von Zack jedoch immernoch keine Spur. Dabei brauchte ich doch sooo dringend meinen Kaffee. Fluchend durchsuchte ich daher seine Tasche nach etwas, das ich gegen einen Latte macchiato eintauschen konnte. Kurz war ich versucht, sein dummes, nerviges Handy für meine Sucht zu verhöckern, überlegte es mir jedoch im letzten Moment anders, als ich einen zehn Dollarschein zwischen seinen Klamotten fand. Bingo! Mit der Aussicht auf meine so nötige Dosis Koffein, wurde meine Laune doch glatt ein wenig besser. Nicht so sehr, das man hätte denken können, dass sie im positiven Bereich angesiedelt war, doch immerhin hatte mein Killerblick ein wenig an Intensität verloren.
Ich öffnete die Zimmertür und stellte fest, dass, obwohl die Sonne schien, ein paar dunkle Wolken ihre Schleusen geöffnet hatten und alles raus ließen, was keine Miete zahlte. Kurzum, es regtnete Bindfäden. Doch auch das konnte mich nicht von meiner Jagt nach einem Latte macchiato abhalten, in diesem Moment hätte es nicht mal ein Bulldozer gekonnt. Deshalb schritt ich, ohne großartig darüber nachzudenken hinaus, versuchte jedoch, so gut wie möglich, unter dem Vordach zu bleiben, dass die Eingänge der Zimmer vor dem Regen schützen sollte.
Wäre meine Laune, durch die Entzugserscheinungen, nicht so getrübt gewesen, hätten mir die tröpfelnden Geräusche des Regens, die Sonnenstrahlen, die sich in den einzelnen Tropfen brachen, oder auch der Regenbogen, der sich quer über den Horizont spannte, mit Sicherheit ein Lächeln auf die Lippen gezaubert. Doch in diesem Moment nervte mich einfach nur die ganze Welt. Der Regen war mir zu laut, die Sonne blendete mich und dieser verdammte Regenbogen war einfach nur fehl am Platz, wie er in diesen lästigen, bunten Farben am Himmel prangte, als gehöre ihm die ganze Welt. Überhebliches Ding.
Schnellen Schrittes lief ich dem kleinen Kiosk entgegen, der sich direkt neben dem Motel befand, und schnauzte die nette, alte Dame hinterm Tresen an, dass sie mir schnell einen Latte geben sollte, bevor ich ihr das überhebliche Grinsen aus dem Gesicht wischte. Die hatte doch Nerven, mir einen wunderschönen, guten Morgen zu wünschen. Pah!
Aus den Augenwinkeln sah ich, einen jungen Mann, der neben mir an einem der Stehtische stand und mich schmunzelnd betrachtete. Ich warf ihm einen Todesblick für diese Frechheit zu, nahm, nach endlos scheinenden fünf Minuten, endlich den dampfenden Becher entgegen und beförderte noch an Ort und Stelle zwei Tütchen Zucker in mein Getränk, bevor ich endlich den ersten Schluck nahm und genüsslich seufzte. Gott, tat das gut! Ein lautes Räuspern, zog meine Aufmerksamkeit wieder auf die nette Verkäuferin, die ich so angeblafft hatte. Mist!
„Das macht dann drei, neunzig“, sie hielt mir auffordernd die Hand hin und bedachte mich mit einem, alles andere als netten, Blick. Entschuldigend sah ich sie an.
„Es tut mir leid, dass ich sie so angefahren habe, aber ich brauchte wirklich dringend einen Kaffee.“, versuchte ich mich zu erkläre, ließ den zehn Dollarschein in ihre Hand fallen und schmiss noch ein freundliches „Stimmt so“ hinterher, doch sie blieb hart, sah mich an, als hätte ich ihr Erstgeborenes gefressen. Mist, Mist, Mist!
Nach weiteren fünf Minuten, in denen ich mich wirklich überschwänglich für meinen schroffen Tonfall und vor allem den Inhalt meiner Worte entschuldigt hatte, ohne Erfolg wohlgemerkt, verließ ich resigniert den kleinen Laden und machte mich wieder auf den Weg in mein Zimmer. Hoffentlich war wenistens Zack in der Zwischenzeit wieder aufgetaucht.
Schon nach den ersten Metern, bemerkte ich, dass mir jemand folgte. Woher genau ich das wusste? Keine Ahnung, aber ich war mir mehr als sicher. Als die Schritte immer näher kamen und ich kurz davor war, in einen leichten Laufschritt zu verfallen, den man auch als flüchten hätte bezeichnen können, verspürte ich kurz das Bedürfnis stehen zu bleiben und meinem Verfolger gegenüber zu treten, doch ich ermahnte mich selbst zum weitergehen, immerhin kannte ich das Grundschema der meisten Horrofilme - Einfältiges Opferlamm denkt, dass wenn der Mörder ruft: Bleib stehen oder ich bring dich um!, es lieber gehorchen sollte - Aber nicht mit mir!
Ich überlegte gerade, ob es sonderlich schlau von mir wäre, wenn ich in mein Zimmer flüchten … äh, ich meine, wenn ich in mein Zimmer zurück gehen würde, aber für den Fall, dass Zack noch nicht wieder da war, sollte ich mir lieber einen anderen Ort suchen. Am besten einen mit vielen Zeugen … äh, ich meine, mit vielen Menschen, natürlich, da ich ja immer gern gesellschaft hatte. Etliches ging mir gerade durch den Kopf, als sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter legte und mich so zum stehen bleiben bewegen wollte. Doch weder der Besitzer der Hand, noch ich selbst hatten mit meiner Reaktion gerechnet. Schneller als ich gucken konnte, hatte ich mich umgedreht, seinen Arm gepackt und ihn ihm auf den Rücken gedreht.
„Schon gut, schon gut, ich gebe auf. Bitte, lass meinen Arm los!“, mit großen Augen starrte ich auf meine Hände, die immernoch weiter zu drückten, ohne, dass ich daran etwas hätte ändern können. Mein Körper agierte vollkommen alleine. Ich brauchte einige Momente, um mich wieder zu fassen und meine Handlungen selbst kontrollieren zu können. Was zur Hölle war denn mit mir los?
„Äh … achso, ja sorry.“, entschuldigte ich mich schnell und zwang meine Hände dazu, ihren eisernen Griff erst zu lockern und dann vollkommen los zu lassen. Leichter gesagt, als getan. Sein schmerzerfülltes Stöhnen, während er sich seinen Arm rieb und sich zu mir umdrehte, trieb mir die Scharmesröte ins Gesicht. Mein Gott, ich hatte mich aufgeführt wie eine wilde Amazone auf Koks! Und zu allem überfluss hatte ich bei der Aktion auch noch meinen Becher fallen gelassen, sodass sich mein so dringend benötigtes Suchtmittel nun über dem Asphalt verteilt hatte. Das geschah mir recht. Verdammt!
„Es tut mit wirklich leid, das wollte ich nicht. Ich hab mich einfach nur erschreckt.“, versuchte ich mich erneut zu entschuldigen und erkannte dabei, leicht verwundert, dass es der Typ aus dem Kiosk war, der mich verfolgt hatte. Seine blonden, kurzen Haare waren ordentlich mit Gel friesiert, was irgendwie so gar nicht mit seiner verschlissenen Jeans und dem schwarzen engen Shirt, das halb von einer ebenfalls schwarzen Lederjacke verdeckt wurde, harmonieren wollte.
Der Blick aus seinen dunkelbraunen Augen lag musternd auf seinem Arm, den er sich immernoch hielt. Klasse, der dachte jetzt bestimmt, dass ich ein gewisses Aggressionsproblem hatte. Oder Stimmungsschwankungen. Erst hatte ich die Verkäuferin angeschrien und jetzt ihn tätlich angegriffen. Ich konnte echt froh sein, wenn er mich nicht anzeigte. Doppelmist!
„Na dann will ich nicht dabei sein, wenn du dir einen Horrofilm anguckst“, er grinste mich schief an. Hoffnung keimte in mir auf, dass ich vielleicht doch noch heil und vor allem ohne Anzeige, aus der Sache raus kam.
„Gehts dir gut? Hab ich dir sehr weh getan? Es tut mir wirklich, wirklich leid, dass musst du mir glauben.“, ich versuchte mich an einem Hundeblick, da ich jedoch keine Ahnung mehr hatte, ob ich den drauf hatte, oder nicht, war ich ein wenig verunsichert. Immerhin konnte so etwas schnell mal in die psychopatische Richtung abdriften, wenn man davon keine Ahnung hatte. Sein Grinsen verbeiterte sich, wuchs zu einem Lächeln heran und ich atmete erleichtert auf.
„Schon gut, alles okay.“, winkte er lässig ab, doch ich glaubte ihm nicht so recht.
„Sicher?“
„Ja doch“, er ließ seinen Arm zum Beweis, mehr schlecht als recht, kreisen und verzog dabei leicht das Gesicht. Erfüllt von Schuldgefühlen, machte ich einen Schritt auf ihn zu, überbrückte so die kurze Distanz zwischen uns und begutachtete seinen Arm. Vorsichtig hob ich meinen Fingern und drückte ihn leicht auf die Stelle, die er sich hielt.
„Tut das weh?“, wollte ich wissen, doch er schüttelte nur den Kopf, obwohl ich den Schmerz in seinen Augen aufflackern sah. Fein, wenn er es so wollte. Das Spiel konnte man auch zu zweit spielen. Ich erhöhte den Druck und sah ihn wieder unschuldig an.
„Und jetzt?“, wieder schüttelte er den Kopf, also drückte ich noch fester.
„Ah“, zischend sog er die Luft ein und ich zog meinen Finger sofort zurück. Plötzlich tat mir leid, dass ich ihm praktisch mit Absicht weh getan hatte. Offensichtlich bemerkte er etwas in meinem Blick, denn er sah mir beruhigend in die Augen. Schnell sah ich weg, bevor ich erneut irgendeinen Scheiß bauen konnte, immerhin hatte ich noch nicht die benötigte Dosis Koffein intus, um weitere fragwürdige Aktionen ausschließen zu können.
„Es geht mir wirklich gut. Es wird bestimmt ein blauer Feck, aber das ist doch gar nicht so schlecht, oder? Immerhin sind Verletzungen an einem Mann doch sexy und so habe ich wenigsten ein Andenken an dich.“, wieder dieses Zahnpastalächeln und als wäre das noch nicht genug, zwinkerte er mir doch tatsächlich zu! Okay, das lief hier gerade in die ganz falsche Richtung.
„Ähm … das, äh … klasse“, ein leicht hysterisches Lachen verließ meine Kehle und ich schlug mir erschrocken die Hand vor den Mund. Ich meine, dieser Typ flirtete mit mir. Mit mir! Und das, nachdem er mich ohne Kaffee und im Amazone-auf-Koks-Modus erlebt hatte, das konnte doch nichts gutes über seinen eigenen Gemütszustand verraten, oder? Vielleicht war er ja ein Masochist, oder irre – so wie ich- oder sogar beides. Okay … ganz ruhig … ein und aus atmen. Er beobachtete mich die ganze Zeit, schien ziemlich amüsiert. Toll, wenigstens hatte er Spaß an diesem ganzen Theater. Und dann fiel es mir schlagartig wieder ein. Zack! Es war, als würde ein Eimer Farbe über mein Gehirn gekippt. Als würde ich ihn spüren können.
„Hey, ich suche einen Kerl. Etwa so groß-“, ich hielt meine Hand weit über meinen Kopf.
„-weiße Haare, grimmiger Blick.“, etwas verdutzt über meinen so abrupten Themenwechsel konnte er nicht mehr, als mich einen ziemlich langen Moment einfach nur anzustarren, bis er sich schließlich wieder fing und auch das breite Grinsen in sein Gesicht zurückkehrte. Sag mal, hatte der sich Vaseline auf die Zähne geschmiert, oder wie hielt er dieses Dauergrinsen durch?
„Dein Freund?“, irgendetwas in seinen Augen blitze auf, doch ich konnte nicht genau zuordnen, was es war.
„So ähnlich. Hast du ihn gesehen?“
„Ja, ich glaube schon. Ich meine, die Haarfarbe, ist ja nicht gerade unauffällig.“, sofort verbesserte sich meine Laune deutlich.
„Er war vorhin an der Rezeption und hat mit irgendjemandem telefoniert.“, das komische Funkeln in seinen Augen wurde intensiver.
„Telefoniert?“, aber sein Handy lag doch im Zimmer. Das dumme Ding hatte mich immerhin ziemlich unsanft aus dem Schlaf gerissen.
„Ja, mit dem Münztelefon, das dort hängt.“
„Aha“, komisch. Wollte er vielleicht nicht, dass ich mitbekomme, mit wem er telefoniert, oder mich einfach nicht wecken? Aber dann hätte er doch auch sein dummes Handy nehmen und vor die Tür gehen können. Ich war so in meine Grübeleinen vertieft, dass ich kaum mitbekam, wie mir der Kerl seine Jacke um die Schultern legte. Verwirrt sah ich auf.
„Dir ist bestimmt kalt, außerdem sind wir schon ganz nass. Vielleicht sollten wir uns unterstellen.“, er sah mir aufmerksam in die Augen und ich nickte nur leicht mit dem Kopf. Das wir im Regen standen, hatte ich nicht einmal bemerkt. Er hatte recht, wir waren vollkommen durchnässt. Doch ich spürte weder die Feuchtigkeit auf meiner Haut, noch war mir auch nur ansatzweise kalt. Es mussten doch bestimmt um die dreißig Grad sein, warum also sollte ich bitte frieren? Doch anstatt ihn auf die Umgebungstemperatur hinzuweisen, ließ ich ihn meine Hand nehmen und folgte ihm stumm unter eine Überdachung.
„Wann war das?“
„Hmm?“, er sah mich fragend an.
„Na, wann hast du ihn gesehen?“
„Achso, keine Ahnung, vor ungefähr einer Stunde, bevor ich in den Kiosk gegangen bin, warum?“
„Naja, vielleicht ist er schon wieder im Zimmer und sucht jetzt nach mir. Ich sollte besser zurück gehen.“, er sah kurz ein wenig enttäuscht aus, nickte dann jedoch zustimmend. Ich achtete kaum darauf, denn ein komisches Gefühl machte sich in mir breit. Warum zum Teufel telefonierte er mit einem Münztelefon? Ich meine, ich wusste nicht wirklich viel, genau genommen so gut wie nichts, über mich und meine Vergangenheit, aber er hatte mir gesagt, dass wir sozusagen auf der Flucht vor irgendjemandem waren und selbst mir war klar, dass man ein Münztelefon mehr als leicht zurückverfolgen kann. Also, warum geht er dieses Risiko ein?
„Okay, aber wenn er noch nicht wieder aufgetaucht sein sollte, oder du Hilfe brauchst oder so-“, er zog eine kleine, weiße Karte aus seiner Hosentasche und hielt sie mir hin.
„-dann ruf mich an. Ich weiß, wir kennen uns nicht wirklich, aber hey, ich mag dich irgendwie, also denk nicht lange darüber nach und meld dich, wenn was ist, okay?“, wieder dieses Grinsen. Ich nahm ihm die Karte aus der Hand und erwiederte sein Lächeln.
„Soll das heißen, du stehst drauf, wenn dir jemand fast den Arm auskugelt?“
„Wer sagt denn, dass ich auf dich stehe?“, erneut zwinkerte er mir zu, bevor er sich umdrehte und im Regen hinter der nächsten Ecke verschwand. Komischer Vogel. Ich machte ebenfalls kehrt und lief schnell zu unserem Zimmer zurück, in der Hoffnung Zack dort anzutreffen. Doch immernoch gab es keine Spur von ihm, als ich die Zimmertür aufschloss und mich in dem kleinen Raum umsah. Meine Güte, wo steckte der Kerl?
Ich ließ mich lustlos auf mein Bett fallen und bemerkte überrascht, dass ich immernoch die schwarze Lederjacke trug. Fast automatisch hob ich meine rechte Hand, in der sich die kleine, weiße Karte befand und sah sie mir das erste Mal wirklich an. Christian Sapio stand in schön geschwungenen Lettern darauf. Christian, so hieß er also. Ich verstaute die Karte in meiner Hosentasche, streifte mir die Jacke von den Schulter und ging ins Bad, um meine Haare zu trocknen.
Nach kurzer Zeit, es waren vielleicht zehn Minuten, hatte ich plötzlch das Gefühl, nicht mehr alleine zu sein. Doch nicht auf eine schlechte Art, sondern auf eine gute. Ich fühlte mich … na ja … komplett. Als hätte die ganze Zeit, seit ich aufgewacht war, ein Teil von mir gefehlt. Verrückt, nicht?
„Jaime?“, nicht gerade elegant, stolperte ich aus dem Bad ins Zimmer und fiel Zack, wortwörtlich, in die Arme - verdammte Fußleiste. Ich wollte ihn gerade schreiend zur Rede stellen, warum er einfach so abhaut, ohne mir bescheid zu geben und warum zur Hölle er an einem Münztelefon telefoniert, als mir sein Blick auffiel. Mörderisch. Anders hätte man ihn nicht beschreiben können. Ruckartig schob er mich von sich, sah mir tief in die Augen.
„Was ist hier los?“
„Ähm, wie meinst du das? Ich hab mir die Haare geföhnt und-“
„Verkauf mich nicht für dumm!“, sein Blick blieb hart, eiskalt. Langsam wurde aber auch ich sauer. Was fiel ihm bitte ein, mich so anzuschnauzen und dazu auch noch ohne Grund?
„Schrei mich nicht an!“
„Ich hab ja wohl jeden Grund dazu.“, er beugte sich ein Stück zu mir herunter und zischte mir die Worte entgegen. Was war denn blos in den gefahren?
„Ach wirklich? Und der wäre?“, ich hielt seinem Blick stand, sah ihn herausfordernd an. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um, ging zu meinem Bett und griff nach der Lederjacke, die immernoch halb auf der Kante lag.
„Was ist das?“, er schrie wieder und ich verschränkte bockig die Arme vor der Brust. Ich verstand immernoch nicht, was sein Problem war.
„Eine Jacke du Genie“
„Wie dumm bist du eigentlich? Da lasse ich dich kurz alleine und du schaffst es irgendwie, dir einen Kerl anzulachen?“
„Bitte was? Und was heißt hier kurz? Du warst über zwei Stunden weg!“
„Lenk nicht ab!“
„Ich lenke nicht ab, das sind einfach Tatsachen. Außerdem sehe ich nicht ein, mich für etwas zu rechtfertigen, das völlig aus der Luft gegriffen ist.“
„Hör auf es zu leugnen, du stinkst förmlich nach diesem Kerl.“
„Ich tue was? Okay, jetzt hat sich anscheinend auch noch das letzte Bisschen deiner Grauen Zellen verabschiedet. Herzlich Glückwunsch, ihre Gehirnaktivität ist gleich Null, sie sind klinisch tod.“, aufebracht warft ich meine Arme in die Luft und fuchtelte wild mit ihnen rum.
„Jaime!“
„Denk doch mal nach! Warum zu Hölle sollte ich mir einen Kerl suchen und ihn mit aufs Zimmer nehmen? Ich hab dich einfach nur gesucht du Vollidiot. Ich bin aufgewacht, du warst nicht da, ich hab mich fertig gemacht, du warst immernoch nicht da. Es ist doch vollkommen logisch, dass ich mir sorgen mache, oder?“, er schien zu verstehen, sein Blick wurde kurz weich, bis er sich wieder der Jacke in seiner Hand bewusst wurde.
„Und was ist dann das hier?“
„Warum interessiert dich das überhaupt? Die bessere Frage ist doch, was du bitte so lange getrieben hast? Meine Güte, du hättest mir wenigstens eine Nachricht hinterlassen können.“
„Ich hatte etwas zu erledigen und jetzt sag mir endlich woher diese scheiß Jacke kommt!“, als wäre sie der Beweis einer Straftat, wedelte er mit ihr vor meinem Gesicht herum.
„Ich hab mich mit einem Typen unterhalten und er dachte, dass mir kalt ist. Ich hab vergessen sie ihm wieder zu geben. Zufrieden?“, dieser Kerl war doch echt die Härte. Warum steigerte er sich nur so in die Sache hinein?
„Nein“, ohne ein weiteres Wort, warf er mir die Jacke entgegen und ging zu seiner Tasche.
„Pack deine Sachen zusammen, wir müssen weiter.“
„Aber-“
„Los jetzt!“
Jemandem zu vertrauen
ist die größte Selbstaufopferung.
-Unbekannt
„Nicht so schnell, warte auf mich!“, unbeholfen stolperte ich über jede verdammte Wurzel, die es in diesem beschissenen Wald gab. So zumindest fühlte es sich an. Und wenn ich nicht gerade dabei war, mit den Armen rudernd, mein Gleichgewicht zu halten, blieb ich an diversen Zweigen hängen oder knallte mit dem Kopf voran gegen einen herunter hängenden Ast, von denen es hier mehr als genug gab.
„Zack!“, ich war erschöpft, vollkommen fertig, doch er ignorierte mich einfach, lief in immer größer werdendem Abstand vor mir her. Vor Wut schnaubend versuchte ich mein Tempo zu erhöhen, was mir leider nur unwesendlich gelang. Das war echt nicht meine Welt. Ich meine, genau genommen schon, immerhin befanden wir uns ja nicht auf einem fremden Planeten, aber dieser Wald mit seinen ganzen Bäumen, den Krabbelfiechern, die sich in meinen Haaren pudelwohl zu fühlen schienen und dem ganzen Unkraut, das mir sowohl die Sicht, als auch den Weg versperrte, waren einfach nur …
„Scheiße!“, ich hatte mal wieder eine Wurzel übersehen und war mit dem Gesicht voran, auf den von Moos überwucherten Waldboden geknallt. Und auch wenn der grüne, leicht feuchte Teppich meinen Sturz abgefedert hatte und ich kaum Schmerzen spürte, hatte mein Ego doch einen erheblichen Knacks davon getragen.
„Steh schon auf, wir müssen weiter!“, seine Stimme war kalt und fordernd. Es kümmerte ihn augenscheinlich einen Scheiß, ob ich mir weh getan hatte oder einfach nicht mehr konnte. Kurz: Ich kümmerte ihn momentan einen Scheiß! Seit unserem Streit im Hotel waren Stunden vergangen und doch waren das eben seine ersten Worte gewesen, die er seit dem mit mir gewechselt hatte.
Stur wie ich anscheinend war, blieb ich einfach liegen. Drückte mein Gesicht sogar noch ein wenig tiefer in das weiche Kissen unter mir und sog den leichten waldig-erdigen Geruch in meine Lungen. Wenn er rumzicken wollte, wie ein kleines Kind, bitte sehr, aber dieses Spiel konnte man auch zu zweit spielen.
„Jaime“, er klang genervt. Ich ignorierte ihn einfach.
„Hör auf mit dem Scheiß und komm!“, Ach ist das gemütlich hier …
„Los jetzt!“, dumdidumdidum ...plötzlich wurde ich am Arm gepackt und unsanft auf die Beine gezogen.
„Hey was-“
„Wir haben keine Zeit für diese Spielchen, verstanden? Wir müssen vor Sonnenuntergang die nächste Stadt erreichen, oder ziehst du es vor die Nacht im Wald zu verbringen?“, sein Blick war fordernd. Ich wand meinen Kopf zur Seite.
„Kommt drauf an“
„Worauf?“
„Von mir aus können wir auch eine ganze Woche in diesem verdammten Wald verbringen, solange du endlich aufhörst so … abweisend zu mir zu sein.“, ich wand mich in seinem Griff, schaffte es jedoch nicht mich zu befreien. Lange Zeit geschah nichts. Wir standen einfach nur da und schwiegen.
„Es tut mir leid“
„Was?“, ruckartig hob ich meinen Kopf und sah ihm in die Augen.
„Du hast mich schon versta-“, er unterbrach sich plötzlich selbst, wand seinen Blick ab und starrte an eine Stelle in einiger Entfernung von uns.
„Zack, was-“
„Shh“, mit einem kurzen Nicken bedeutete er mir seinem Blick zu folgen. Ich kniff die Augen zusammen um besser sehen zu können, was auch immer da war, doch ich konnte nicht mehr als Schatten erkennen, die sich zwischen den Bäumen bewegten.
„Was ist das?“, ich versuchte so leise wie möglich zu sprechen, wand meinen Blick jedoch nicht ab.
„Wir werden verfolgt“, sein ganzer Körper spannte sich an und sein Griff wurde stärker. Plötzlich hallte ein unmenschliches Knurren durch die Ruhe des Waldes. Es folgten Schreie, dann Schüsse.
Meine Ohren klingelten und ich zuckte bei jedem Knall erneut so heftig zusammen, dass ich fast mein Gleichgewicht verlor. Etwas in mir regte sich, schrie mich an, die Beine in die Hand zu nehmen und so schnell wie möglich von hier zu verschwinden, doch ich war nicht in der Lage auch nur einen Muskel zu bewegen, stand einfach nur da.
Es dauerte nur ein paar Sekunden, bevor sich wieder die erdrückende Stille über die Umgebung legte, doch noch immer hallten in meinem Kopf die Geräusches des Kampfes wieder, als wären sie nie verklungen.
Ich fing unbewusst an zu zittern, lauschte auf das, was als nächstes geschehen würde, doch kein Geräusch drang an meine Ohren. Nicht mal einen Vogel konnte ich zwitschern hören.
„Was war das?“, ich war wie gebannt, starrte weiter in die Entfernung, ohne jedoch auch nur eine Bewegung ausmachen zu können.
„Ich weiß es nicht“, er schien kurz zu überlegen, dann lockerte sich sein Griff und er machte doch tatsächlich Anstalten, einen Schritt in die Richtung zu machen, aus der eben die Schüsse gekommen waren.
„Was hast du vor?“
„Warte hier und versteck dich, ich werde nachsehen, was da los war.“
„Tickst du noch ganz richtig? Lass uns lieber von hier verschwinden!“
„Ich laufe nicht weg“
„Wie schön für dich, aber ich habe damit kein Problem, also komm!“
„Nein“, ich griff nach seinem Arm und versucht ihn in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen, doch es half nichts, er bewegte sich keinen Millimeter. Stattdessen schüttelte er mich ab, wie eine lästige Fliege und setzte sich in Bewegung.
„Zack!“, ich flüsterte immernoch, versuchte jedoch so viel Autorität wie möglich in meine Stimme zu legen. Was mir ziemlich misslang. Er ging immer weiter, ignorierte mich einfach.
„ZACK!“, immernoch keine Reaktion. Wütend über ihn und mich selbst, stapfte ich los und folgte ihm. Fein wenn er sich unbedingt umbringen lassen wollte, sollte er doch machen, aber ich würde einen Teufel tun, alleine hier im Wald zurück zu bleiben. Er wurde langsamer, bis ich ihn eingeholt hatte, als hätte er gespürt, dass ich ihm gefolgt war. Es könnte aber auch daran gelegen haben, dass ich nicht gerade anmutig durchs Unterholz stapfte. Wahrscheinlich hatte jedes Lebewesen in diesem Wald eine ungefähre Ahnung wo ich mich gerade befand. Elefant im Porzelanladen lässt grüßen.
„Hatte ich nicht gesagt du sollst warten?“
„Hatte ich nicht gesagt, wir sollten hier verschwinden?“, ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht, bevor er sich wieder unserem Ziel zuwand. Immernoch war es im ganzen Wald gespenstisch still. Na ja bis auf meine Wenigkeit natürlich. Auch wenn ich mich wirklich bemühte leise zu sein. Vor einem umgekippten Baumstamm, der bereits vollkommen von Moos und kleinen Pilzen überwuchert war hielt Zack plötzlich inne.
„Riechst du das?“, er sah mich fragend an und ich erwiederte seinen Blick.
„Was?“, ich konzentrierte mich, schloss die Augen und versuchte die Veränderung der Luft wahrzunehmen. Und tatsächlich, es war sehr schwach, doch deutlich vorhanden. Ein metallischer, leicht süßer Geruch, der mir irgendwie bekannt vorkam. Ich öffnete meine Augen.
„Was ist das?“, Zacks Miene blieb starr. Er nickte in Richtung des Baumstammes, der so riesig war, dass er mir die Sicht versperrte.
„Blut“, meine Muskeln verkrampften sich und plötzlich wurde dieser leichte Hauch, den ich vorher nur schwer wahrnehmen konnte, schier übermächtig. Er war einfach überall. Erfüllte meine Lungen und ließ einen Schwindel durch meinen Körper fahren. Ich riss meinen Arm hoch und presste den Ärmel meiner dünnen Jacke, auf Nase und Mund. Zacks Hand drückte leicht meine Schulter, sodass ich meinen Blick hob und ihn ansah.
„Wenn du willst, kannst du hier warten“, bot er mir an, doch ich schüttelte den Kopf und ließ meinen Arm wieder sinken. Nein, ich war stark, ich musste es sein! Zum Zeichen meiner Stärke, atmete ich ein paar Mal tief ein und wieder aus. Zwang mich, nicht umzukippen, oder mich zu übergeben. Ich brauchte ein paar Minuten, doch dann klangen der Schwindel und die Übelkeit immer mehr ab, traten in den Hintergrund und ließen mich wieder klar denken.
„Okay, dann mal los“, Zack kletterte, mit überraschender Leichtigkeit, auf den riesigen Stamm und reichte mir die Hand um mir hoch zu helfen. Ich ergriff sie und folgte ihm weniger elegant, ließ sie jedoch nicht los, als ich es geschafft hatte, denn das Bild das sich uns bot, drohte mich erneut zu überwältigen. Überall war Blut. Drei, in Schwarz gehüllte Männer lagen in unnatürlich verdrehten Posen auf dem Waldboden.
In ihrer Mitte ein riesiger, blutüberströmter Wolf, der uns zwar zähnefletschend entgegensah, aber nicht einmal mehr die Kraft hatte sich auf den Beinen zu halten. Das drohende Knurren, das aus seiner Kehle drang war bereits so schwach, dass es nicht einmal mehr ein Kind eingeschüchtert hätte.
Zack sprang vom Baumstamm, half mir erneut und betrachtete dann musternd das Schlachtfeld. Er ging zu einem der Männer, der direkt vor uns lag und griff nach der schwarz glänzenden Waffe, die dieser noch im Tod umklammerte und durchsuchte danach seine Taschen.
„Was ist hier passiert?“, meine Stimme war nicht mehr als ein Hauch.
„Sie haben uns verfolgt, daran besteht kein Zweifel“, er zog ein kleines Buch aus der Jacke des Toten, schlug es auf und hielt mir ein Foto entgegen, das darin gelegen hatte. Ich ging einen Schritt auf ihn zu, um es besser betrachten zu können. Es zeigte uns. Zack und mich, wie wir eine Straße überquerten.
„Und was ist mit dem Wolf?“
„Ich denke sie haben sie überrascht, als sie uns verfolgten“
„Sie?“, er nickte in eine Richtung und ich folgte seinem Blick. Ein kleines schwarzes Fellbündel lag rechts von uns, halb unter einem Busch versteckt. Es bewegte sich nicht.
„Einem Schattenwolf zu begegnen ist niemals eine schöne Sache, sie sind von Natur aus sehr aggressiv, aber wenn du auf einen triffst der Junge hat, bedeutet das deinen Tod.“, mein Blick wanderte automatisch zu der Wölfin, die immernoch nicht aufgeben wollte, uns weiterhin drohte.
„Warum haben sie das Junge getötet?“
„Keine Ahnung, so dumm ist eigentlich niemand. Vielleicht war es aber auch einfach nur ein Querschläger, der es erwischt hat.“, unbewusst ging ich einen Schritt, auf die sterbende Wölfin zu. Ich wusste, dass es eigentlich eine sauschlechte Idee war, sich ihr zu näher, doch ich konnte nicht anders.
„Warte, was hast du vor?“, Zack packte meinen Arm und hielt mich zurück.
„Du sagtest eben Schattenwolf“
„Ja und?“
„Was ist ein Schattenwolf? Ich habe noch nie davon gehört.“, ich war wie gebannt, versuchte seine Hand abzuschütteln um näher an das Tier heran zu kommen.
„Du glaubst es mir eh nicht, wenn ich es dir erzähle“
„Versuch es. Immerhin bin ich von den Toten wieder auferstanden, es geht wohl kaum noch verrückter, oder?“, er schien einen kurzen Moment zu überlegen, bevor er antwortete und mich gleichzeitig los ließ. Ich ging einen Schritt vorwärts.
„Schattenwölfe sind Wesen des Feuers. Sie können mit den Schatten verschmelzen und sich so tarnen. Sie werden wesentlich größer als normale Wölfe und sind wie gesagt ziemlich aggressiv und temperamentvoll. Es ist unmöglich sie zu zähmen oder zu kontrollieren. Kaum jemand hat jemals einen gesehen und konnte davon berichten.“, ich hörte ihm aufmerksam zu, bewegte mich jedoch immer weiter vorwärts. Das was er sagte hätte unglaubwürdig für mich klingen sollen, doch das tat es nicht. Ich glaubte ihm jedes Wort, ohne auch nur darüber nachdenken zu müssen.
„Warum Wesen des Feuers?“, ein Schritt und noch einer, noch einer, immer näher wagte ich mich vor.
„Es heißt, der Erste ihrer Art, wurde von der Göttin des Feuers, aus der Asche eines verbrannten Wolfes geschaffen. Sie war auch die Einzige, die sie kontrollieren konnte.“, abrupt hielt ich inne und drehte mich zu Zack um.
„Die Göttin des Feuers?“, irgendetwas klingelte da.
„Ja, Chantico“, er sah mich aufmerksam an. Ich drehte mich wieder um, nur noch wenige Meter trennten mich von der Wölfin.
„Jaime, bleib stehen, bitte. Sie ist zwar geschwächt, aber deswegen nicht weniger gefährlich. Sie kann dich immernoch in Stücke reißen.“, Zack wollte mir nachkommen, mich zurückhalten, doch sobald er den ersten Schritt in die Richtung der Wölfin machte, wurde ihr Knurren lauten und ihr Fell stellte sich auf.
„Sie wird mir nichts tun“
„Woher willst du das wissen?“, ich sah der Wölfin sicher entgegen.
„Sieh sie dir an“, forderte ich und wartete, doch er schien es nicht zu verstehen.
„Was?“
„Sie droht mir nicht“
„Ach und das Knurren und Zähnefletschen ist wohl nur spaßig gemeint oder wie?“
„Sieh genau hin! Sie droht nicht mir, sondern dir.“, sie sah mich nicht einmal an, nur an mir vorbei. Es war okay für sie, dass ich mich ihr näherte. Auch Zack schien es endlich zu bemerken, denn er blieb still und ließ mich machen. Als mich nur noch wenige Schritte von ihr trennten, hockte ich mich vor sie und hielt ihr meine Hand entgegen.
Ich konnte Zacks Anspannung deutlich spüren, blieb jedoch vollkommen ruhig. Ich weiß nicht warum, aber ich war mir sicher, dass sie mir nichts tun würde. Es war eher, als würde sie nach mir rufen. Sobald sie in mein Sichtfeld kam, hatte ich dieses Gefühl gehabt. Ich berührte mit meinem Handrücken leicht ihre Nase und sie senkte sofort den Kopf und schob ihn unter meine Hand. Ein Zeichen ihrer Unterwürfigkeit, das war mir sofort klar.
Ich kraulte leicht ihren Kopf und rückte ein Stück näher an sie heran. Sie war wirklich wunderschön. Ihr Fell war tief schwarz, nur an ihrem Kopf etwas heller, fast silber. Es erinnerte mich an Zack, mit seinen schwarzen Klamotten und den hellen Haaren. Sie hob ihren Kopf wieder, sah mir tief in die Augen, bevor sie mit ihrer rauen Zunge kurz über mein Gesicht leckte.
Dann wand sie den Blick ab und richtete ihn, auf das kleine schwarze Bündel, das in einiger Entfernung, immernoch vollkommen bewegungslos, lag. Ich verstand noch im selben Moment was sie wollte, stand auf und ging auf den kleinen Fellball zu. Vorsichtig hob ich es hoch und spürte sofort die Wärme und den schwachen Herzschlag.
„Es lebt“, stellte ich erleichtert fest und brachte den Welpen zu seiner Mutter. Als ich mich, mit dem Jungen im Arm, wieder vor sie gekniet hatte, fing sie sofort an, ihn mit der Nase anzustupsen und abzulecken, bis er endlich, ganz zaghaft die Augen öffnete. Wieder sah sie mich an und ein Name schoss plötzlich durch meine Gedanken.
„Misu“, Instinktiv nickte ich ihr zu. Dann bewegte sie sich etwas, stemmte sich auf ihre schwachen Vorderpfoten, bis ein weiteres, jedoch schneeweißes, Bündel zum vorschein kam. Erneut hob sie den Blick.
„Yuma“, sprach ich auch seinen Namen aus. Der zweite Welpe war wohlauf. Er kroch unter seiner Mutter hervor und sah sich neugierig um. Die Wölfin leckte ihm einmal über den Kopf und stupste ihn dann mit der Nase in meine Richtung. Tapsig und unbeholfen kletterte dieser auf meinen Schoß und kuschelte sich an seinen Bruder. Sie waren ein Geschenk und eine Bitte zugleich.
Ihre Mutter würde sterben, das war unvermeidlich, doch sie wollte ihre Jungen nicht schutzlos zurück lassen. Sie stupste meine Hand an, die ich auf mein Bein gelegt hatte, so lange, bis sie schützend auf den Welpen lag. Ich sollte auf sie aufpassen, sie groß ziehen, das war es, was sie mir sagen wollte. Ich hob meine andere freie Hand, legte sie auf den riesigen Kopf der Wölfin und lehnte meine Stirn vorsichtig an ihre Schnauze.
„Ich werde sie mit meinem Leben schützen“, versprach ich ihr flüsternd. Ich lehnte mich wieder ein Stück zurück, erwiederte ihren Blick. Meine Hand wanderte, wie von alleine, über ihre tief schwarzen Augen und sie sackte augenblicklich in sich zusammen.
„Schlaf jetzt“, ein Kribbeln breitete sich von meiner Hand bis in meinen ganzen Körper aus. Es war angenehm und ich hatte den Eindruck, dieses Gefühl zu kennen. Ich berühte immernoch den Kopf der Wölfin, spürte ihren immer schwächer werdenden Herzschlag, bis er schließlich vollkommen erstarb und der leblose Körper des Tieres in Flammen aufging.
Doch ich spürte die Hitze nicht, nur dieses vertraute Kribbeln. Yuma, der weiße Welpe hob den Kopf, sah erst die brennenden Überreste seiner Mutter und dann mich an. Ich streichelte ihn und er schmiegte sich in meine Handfläche. Noch eine ganze Weile saß ich dort, bemerkte die Tränen, die mir lautlos über die Wangen kullerten kaum, kraulte die Welpen und sah ins immer kleiner werdende Feuer, bis ich Schritte hinter mir vernahm.
„Das ist unglaublich“, flüsterte er ruhig und hockte sich neben mich.
„Warum hat sie das getan? Warum hat sie mir vertraut?“, Zack streckte seine Hand aus, wollte Misu berühren, doch noch bevor sie auch nur in seine Nähe kam, fing Yuma plötzlich an leise zu Knurren. Es war faszinierend, wie ausgeprägt seine Scheu und sein Misstrauen gegenüber anderen Wesen bereits war.
„Ganz ruhig“, redete ich sanft auf ihn ein und strich ihm über den Kopf. Zack zog seine Hand zurück und sah mich an.
„Ich weiß nicht, aber ich habe noch nie zuvor von etwas ähnlichem gehört. Du scheinst etwas Besonderes zu sein, wenn dich eine Schattenwölfin in ihre Nähe lässt und dir sogar ihre Welpen anvertraut. Das ist einzigartig.“, eine ganze Weile blieb es still zwischen uns, bis Zack schließlich aufstand.
„Wir sollten weiter gehen, sonst müssen wir die Nacht wirklich noch im Wald verbringen.“, ich nickte und stand ebenfalls auf. Was mit Misu und Yuma auf dem Arm, alles andere als einfach war.
Es vergingen Stunden, bis wir es endlich aus dem Wald und in die nächste Stadt geschafft hatten, denn auch wenn ich Yuma ab und zu absetzten konnte und er von alleine hinter uns herlief, musste ich doch enorm darauf achten nicht wieder über jede Wurzel zu fallen, die meinen Weg kreuzte, denn das gefiel Misu, der die meiste Zeit über schlief, ganz und gar nicht und wurde mit einem quengelnden, quietschenden Laut kommentiert.
Ich war mehr als froh, als wir endlich ein geeignetes Motel fanden und ich mich in mein weiches, warmes Bett fallen lassen konnte. Zack hatte es sich ebenfalls auf seinem Bett bequem gemacht und studierte aufmerksam alle Dokumente, die er bei unseren Verfolgern gefunden hatte, während ich als Bespaßer für meine beiden Welpen herhalten durfte.
Nach einer halben Stunde, die ich als lebendes Trampolin verbracht hatte stand ich auf um duschen zu gehen, musste jedoch feststellen, dass das meinen beiden Schatten ganz und gar nich gefielt. Sie folgten mir überall hin, sogar bis in die Dusche, doch das machte mir kaum etwas aus. Wo sollten sie auch sonst hin? Sie hatten ja nur noch mich.
„Was fressen Schattenwölfe eigentlich?“, mit nicht mehr als einem riesigen Shirt und einer von Zacks Boxershorts an, trat ich aus dem Bad und sah mich verwundert um, als ich feststellte, dass der Angesprochene gar nicht hier war.
„Oh bitte nicht schon wieder“, meckerte ich vor mich hin und wollte mir gerade eine Hose anziehen und als Ein-Mann-Suchtrupp losziehen, als ich den Schlüssel im Schloss vernahm. Mit einem Klicken öffnete sich die Tür und Zack erschien, mit zwei großen Einkaufstüten in den Händen.
„Wo warst du?“
„Einkaufen, sieht man das nicht?“
„Du könntest mir ja wenigstens mal bescheid sagen“, er ging einfach an mir vorbei und stellte die beiden Tüten auf seinem Bett ab.
„Oder zumindest einen Zettel schreiben“
„Ich glaube für Liebesbriefe ist es noch etwas zu früh oder?“
„Halt die Klappe“, wies ich ihn zurecht, setzte mich wieder auf mein Bett und schielte unauffällig zu ihm und dem Einkauf herüber.
„Was hast du gekauft?“
„Futter für deine kleinen Fellbälle und für uns.“
„Was fressen Schattenwölfe denn?“, wiederholte ich meine Frage von vorhin und bekam dieses Mal sogar eine Antwort.
„Ich hoffe Fleisch, aber wenn sie noch gesäugt wurden, können wir es ja mal mit Katzenmilch versuchen.“, er reichte mir eine Plastikschale in der sich kleine Fleischbrocken befanden. Ich öffnete sie und hielt den beiden, die mich bereits interessiert musterten, ein Stück vor die Nase.
Yuma versuchte es als erstes. Er biss herzhaft hinein, kaute und schluckte. Es schien ihm sogar zu schmecken, denn er kamm sofort näher und sah mich auffordernd an. Misu nahm sich ein Beispiel an seinem Bruder und fraß ebenfalls ein Stück.
Das ging immer so weiter, bis die Schüssel leer und die beiden Fellbälle pappsatt waren. Nachdem auch Zack und ich uns an Fertigsandwiches satt gegessen und den Plan für den nächsten Tag besprochen hatte, konnte ich mich endlich unter die Decke kuscheln und glitt fast sofort in einen traumlosen, ruhigen Schlaf.
Gebrannte Kinder fürchten das Feuer
oder vernarren sich darin.
-Marie Freifrau von Ebner-Eschenbach
Ein Knacken ... Da war es schon wieder. Vorsichtig öffnete ich meine Augen und sah mich um. Das Zimmer lag in vollkommener Dunkelheit. Yuma schlief seelenruhig, auf dem Rücken liegend und alle viere von sich gesteckt, quer auf meinem Brustkorb und Misu hatte es sich halb in meinem Gesicht gemütlich gemacht. Zaghaft drehte ich meinen Kopf in Zacks Richtung und stellte überrascht fest, dass er mich ebenfalls ansah, was mir wirklich einen riesigen Schrecken einjagte. Immerhin rechnete ich nicht damit, das er wach war.
„Ich hab was gehört“, informierte ich ihn flüsternd und er nickte zustimmend.
„Ich auch“, erneut hallte ein Knacken durch den kleinen Raum. Es kam von der Eingangstür. Versuchte etwa jemand bei uns einzubrechen? Zack richtete sich ruckartig auf und ich folgte seinem Beispiel, jedoch vorsichtiger, um die Welpen nicht zu erschrecken. Diese wachten auf und sahen mich verwundert, aus halb geöffneten Augen, an.
„Versteck sie im Bad“, Zack war mittlerweile aufgestanden und kramte leise in seiner Tasche. Ein wenig zu hektisch richtete ich mich auf, sodass mir leicht schwummerig wurde, nahm Misu und Yuma auf den Arm und verfrachtete sie so schnell und leise wie möglich ins Bad. Denen gefiel es jedoch ganz und gar nicht, dass ich sie dort alleine ließ, doch das war jetzt nicht weiter wichtig. Lieber so, als dass sie bei einem eventuellen Kampf zwischen die Fronten gerieten. Immerhin hatten die Männer im Wald Waffen bei sich gehabt und nicht gezögert diese einzusetzen. Ich wollte sie einfach nicht in Gefahr bringen. Auf Zehenspitzen eilte ich zu Zack, der mir sofort ein kleines, zweischneidiges Messer in die Hand drückte. Ich sah ihn verwundert an.
„Aber-“
„Du darfst nicht zögern, sie tun es auch nicht, okay?“, ich nickte stumm und postierte mich, schräg hinter ihm vor der Tür. Er hatte es irgendwie hinbekommen einen Baseballschläger aus seiner Tasche zu ziehe. Das Ding erinnerte mich stark, an die von Mary Poppins. Klamotten, Waffen, Geld. Man fand in ihr einfach alles, was das Herz begehrte.
Und dann warteten wir. Es dauerte keine zwei Minuten, bis ein lauteres Knacken durchs Zimmer hallte und die Eingangstür mit einem lauten Knall aufgestoßen wurde. Eine ganze Meute, schwarz maskierter Typen, verbargen sich hinter ihr und stürmten nun in den Raum. Wir hatten den Überraschungsmoment auf unserer Seite, denn sie hatten nicht damit gerechnet, dass wir sie bereits erwarten würden. Beunruhigt durch den Lärm, hörte ich Yuma und Misu im Bad jaulen und Knurren, doch darum konnte ich mich jetzt nicht kümmern.
Die ersten beiden Männer wurden direkt von Zack abgefangen, der sie mit Tritten und Schlägen in Schach hielt, doch die zwei, die danach ins Zimmer stürmten, kamen direkt auf mich zu, ohne, dass Zack mir hätte helfen können. Ich brauchte einen Moment um zu reagieren, als schon die erste Faust auf mich zugeflogen kam. Gerade noch im letzten Moment fing ich sie ab, rammte meinem Angreifer dafür mein Knie in den Magen und stach ihm dann, ohne groß darüber nachzudenken, mit meinem Messer direkt ins Herz. Doch ich hatte keine Zeit geschockt über meine eigene Tat zu sein, denn der zweite Typ wartete nicht, stürmte bereits auf mich zu. Ich wollte ihn schlagen und treten, doch er wich mir jedes Mal aus. Er war unglaublich schnell, seine Bewegungen schienen vor meinen Augen sogar leicht zu verschwimmen.
Ich wurde bereits panisch, denn er drängte mich immer weiter an die Wand hinter mir und nahm mir so jede Ausweichmöglichkeit. Doch ich riss mich zusammen, versuchte schneller als er zu sein, härter zu schlagen, ich musste weiter denken, als er. Ich hätte nie gedacht, dass ich dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre, doch ich schaffte es. Seine Bewegungen kamen mir langsamer vor, sodass ich ihn in eine Falle locken konnte.
Ich wich weiterhin zurück, tat als würde ich seine Angriffe erst in letzter Sekunde abwehren können und als er nicht damit rechnete, schnellte meine Hand mit dem Messer hervor und stach gnadenlos zu. Ich dachte nicht mehr darüber nach, dass ich gerade einem Menschen das Leben nahm, dass es eigentlich falsch war so zu handeln, anstatt die Polizei zu rufen … Ich handelte einfach. Überließ es meinen Instinkten und dem Adrenalin, dass in rauen Mengen durch meinen Körper floss, meinen Arsch zu retten. Entweder sie oder wir. An mehr konnte ich im Moment nicht denken.
Immer mehr Männer kamen in den kleinen Raum gestürmt, griffen uns an. Es waren einfach zu viele, sie waren überall. Einer versuchte mich festzuhalten. Ich trat und schlug nur noch wild um mich, in der Hoffnung sie so auf Abstand halten zu können, doch es reichte nicht.
Das Jaulen und Knurren, dass aus dem Bad drang wurde immer lauter und zog somit auch die Aufmerksamkeit der Maskierten auf sich.
„Jaime, die Tür!“, ich riss meinen Kopf zur Seite und sah gerade noch, wie einer der Männer, die Tür zum Bad auf riss und den beiden Welpen, die verzweifelt versuchten an ihm vorbei zu mir zu kommen, den Weg versperrte.
„Nein!“, er beugte sich runter und erwischte Misu im Nacken, hob ihn unsanft hoch. Und da passierte es, ich sah rot. Blinde Wut loderte in meinem Innern auf.
„Nimm deine dreckigen Pfoten von ihm!“, er drehte sich in meine Richtung, hielt sich Misu prüfend vors Gesicht und musterte ihn. Yuma schnappte nach ihm, versuchte irgendwie seinem Bruder zu helfen, doch er war einfach noch zu klein.
Meine Haut fing an zu prickeln, als würden tausende Ameisen auf mir herum spazieren. Mein Blick verschleierte sich, mir wurde heiß, so unglaublich heiß, als würde ich verbrennen.
„Sind das Schattenwölfe?“, wie durch Watte drangen die Stimmen und Geräusche an meine Ohren. Ich hielt inne, senkte den Kopf und versuchte mit geschlossenen Augen, das Zittern, dass meinen Körper erfasste unter Kontrolle zu bringen. Sofort waren drei Männer an meiner Seite und hielten mich fest.
Zack schrie, doch ich verstand die Worte nicht, alles was ich hörte, war das Jaulen und Knurren meiner Welpen. Dann öffnete ich meine Augen und hatte plötzlich das Gefühl, nicht mehr ich selbst zu sein. Etwas anderes steuerte mich.
„Lass. Ihn. Los!“, meine Stimme glich einem Knurren und die Luft um mich herum schien zu pulsieren. Der Kerl sah zu mir, hielt Misu noch ein Stückchen höher, über seinen eigenen Kopf und ließ ihn fallen. Ein dumpfer Aufprall, ein schmerzerfülltes Jaulen und mein Innerstes schien zu explodieren.
Die Männer die mich festgehalten hatten, wurden von mir gerissen, landeten bewusstlos in einigen Metern Entfernung an der Wand. Die anderen Maskierten schrien plötzlich gequält auf und krümmten sich vor Schmerzen.
Und ich? Ich stand inmitten dieses ganzen Chaos und lächelte bösartig vor mich hin. Wie ein verdammter Psychopath!
Überall um mich herum ging Stoff, Holz, Fleisch in Flammen auf. Der kleine Raum wurde von einem orangerot flackernden Licht und den unmenschlichen Schreien unserer Angreifer erfüllt. Das kribbeln auf meiner Haut wurde intensiver, der Druck in meinem Innern fast unerträglich. Wie von selbst bewegten sich meine Füße.
Langsam, gefährlich schritt ich auf den Mann zu, der es gewagt hatte Misu zu verletzten. Das kleine Fellknäul lag immernoch auf dem Boden vor seinen Füßen. Ein zitterndes Häufchen Elend, das meine Wut nur noch mehr schürte.
Der Mann bewegte sich nicht, stand einfach nur da und ich konnte die pure Angst in seinen Augen lodern sehen. Es gefiel mir, es war ein guter Anfang, doch alles in mir schrie nach mehr. Mehr Angst, mehr Schmerz, mehr Verzweiflung. Er sollte um sein Leben flehen und es dann auf die schlimmste Art und Weise, durch meine Hände verlieren. Ich wollte, dass er leidet!
Ich beugte mich vor und hob Misu auf meine Arme. Sofort schmiegte er sich an mich, schien Kraft aus der Berührung zu ziehen, denn das Zittern ebbte ab und ich hatte das Gefühl, es würde ihm besser gehen. Yuma zerrte immernoch knurrend, wie besessen am Hosenbein des Maskierten. Ich setzte Misu wieder ab, trat noch einen weiteren Schritt an den Mann heran. So nah, das ich die Spiegelungen des Feuers und meiner Gestalt in seinen angsterfüllten Augen erkennen konnte. Ich beugte mich vor, bis mein Mund direkt neben seinem Ohr schwebte.
„Niemand verletzt die, die ich liebe und kommt mit dem Leben davon“, die Stimme, die aus meinem Mund kam, war angsteinflößend und die Worte stammten nicht von mir. Unbekannte Bilder schossen mir unterschwellig durch den Kopf. Verzerrte Gesichter, trostlose Orte und schreckliche Szenen. Blut, Gewalt, Hass. Ich fragte mich kurz, ob daraus mein früheres Leben bestand, doch ich hatte jetzt keine Zeit mir darüber Gedanken zu machen.
Ich hob das Messer in meiner Hand und zog es mit leichtem Druck, ganz langsam über seinen Oberkörper. Blut quoll dickflüssig aus dem Schnitt und durchtränkte seine Kleidung. Er schrie, wollte sich wehren, flüchten, doch schneller als ich gucken konnte stand Zack plötzlich hinter ihm und fixierte ihn an Ort und Stelle. Er sah mich eindringlich an und ein schiefes Grinsen zierte seine Lippen. Jeder Muskel in seinem Körper stand unter Spannung. Und von einem Moment auf den anderen, sah ich ihn mit anderen Augen.
Die rohe Gewalt, die sein Körper ausstrahlte, empfand ich nicht länger nur als angenehm, als etwas, das mir Sicherheit gab, sondern als unglaublich anziehend. Die Art wie sich seine Muskeln und Sehnen unter seiner glatten Haut bewegten, schnürte mir den Atem ab. Und das Glitzern, das in seine Augen trat, als ich dem Mann vor mir ganz langsam mein Messer ins Herz stieß, ließ die Hitze in meinem Innern nur noch weiter anschwellen. Der leblose Körper vor mir sackte schlapp in sich zusammen und das Einzige an das ich denken konnte war, dass ich Zacks Hände auf meinem Körper spüren wollte.
Immernoch sah er mich an, doch auch sein Blick hatte sich verändert, intensiviert. Ich atmete ein, aus, versuchte meine Gedanken wieder unter Kontrolle zu bringen, doch ich war hilflos. Plötzlich, schneller als ich gucken, oder reagieren konnte, hatte er mich an die Wand gedrückt. Eine Hand war neben meinem Kopf abgestützt, die andere umfasste mich an der Hüfte. Immernoch fixierten wir uns gegenseitig mit unseren Blicken.
Sein Gesicht schwebte nur Millimeter von meinem entfernt. Sein Atem ging schnell und flach, seine Haut war von einem dünnen Schweißfilm überzogen, der im fahlen Licht des Feuers um uns herum glitzerte. Die perfekt definierten Muskeln seines Oberkörpers waren angespannt. Zeugten von der Gewalt, mit der er sich selbst zurück hielt. Seine vollen Lippen waren leicht geöffnet. Ich sog den verlockenden Duft seiner Haut in meine Lungen.
Alles wurde ruhig. Die Welt um uns herum nahm an Bedeutung ab, verschwamm zu einem undefinierbaren rötlich-orangenen Brei. Zacks Umrisse, waren das Einzige, dass ich noch klar erkennen konnte. Jedes Detail an ihm wirkte einfach nur perfekt auf mich.
Der Glanz in seinen silbernen Haaren, die wild von seinem Kopf abstanden, die scharfen Konturen seines Gesichtes, das rauchige grau seiner Augen, in denen ein Feuer loderte, das dem in meinem Innern gleich zu kommen schien und der unnachgiebige Druck, seiner verkrampften Hand, seine Stärke, die ein stummes Versprechen gab.
Ich gehörte ihm. Mit Haut und Haaren. In diesem so vollkommenen Moment nahm er mich in Besitz und würde mich niemals wieder frei lassen. Niemals.
Ein Lächeln bildete sich auf meinen Lippen und sein Echo erschien fast augenblicklich auch auf Zacks. Ich hob meine Hände, vergrub sie in seinen Haaren und zog ihn näher an mich. Sein Körper bedeckte meinen, übte einen unwiderstehlichen Druck auf mich aus. Auch seine zweite Hand fand den Weg auf meine erhitzte Haut. Er krallte sie in meine Haare, zog meinen Kopf zur Seite und berührte mit den Lippen die empfindliche Haut unter meinem Ohr.
Alle Härchen auf meinem Körper stellten sich auf und ein Feuerwerk schien in meinem Bauch zu explodieren. Ich krallte meine Nägel in seinen Rücken und keuchte atemlos auf. Seine Hände wanderten an meinem Körper hinab, bis sie an meinem Hintern ankamen und ihn besitzergreifend umschlossen.
Mühelos, als wäre ich leicht wie eine Feder hob er mich hoch und ich schlang automatisch meine Beine um seine Mitte. Er hob den Kopf, sah mir in die Augen und berührte mit seiner Nasenspitze meine, stupste sanft dagegen. Dann senkte er den Blick auf meinen Mund, kam ihm immer näher und …
Ein schrilles Klingeln hallte durch den Raum. Es war ohrenbetäubend und riss uns aus unserem tranceartigen Zustand. Es dauerte einen Moment, bis wir beide begriffen, dass es der Feueralarm sein musste, der gerade dabei war das gesamte Motel aus dem Schlaf zu reißen und auf uns aufmerksam zu machen.
„Scheiße!“
„Wir müssen hier weg, komm!“, Zack ließ mich runter, löste sich von mir und ich hatte das Gefühl, er würde einen Teil von mir mit sich nehmen. Doch dafür hatten wir jetzt keine Zeit.
Ich schnappte mir alles, was uns gehörte und in meiner Reichweite lag und warf es Zack zu, damit dieser es in seine Tasche packen konnte.
Als ich nichts mehr erkennen konnte, das wir vergessen haben könnten, schnappte ich mir Yuma und Misu und rannte gefolgt von Zack aus unserem mittlerweile lichterloh brennende Zimmer. Er überholte mich, steuerte auf den Parkplatz des Motels und einem sich dort befindlichen, teuer aussehenden schwarzen Chevrolet zu.
Er öffnete ihn, ich hatte keine Ahnung wie und es war mir auch egal, stieg ein und startete den Motor, der mit einem schnurrenden Geräusch zum Leben erwachte. Ich glitt mit meinen beiden Welpen auf dem Arm auf den Beifahrersitz, schloss die Tür und schnallte mich an. Fast im selben Augenblick rasten wir auch schon davon.
Blos weg von hier.
Wer die Wahrheit hören will,
den sollte man vorher fragen,
ob er sie vertragen kann.
-Ernst R. Hauschka
Die Nacht war klar und kühl. Zumindest ließen die kleinen Wölkchen, die bei jedem Atemzug meinen Mund verließen, darauf schließen. Doch ich spürte die Kälte nicht. Noch nicht einmal ansatzweise. Wie benommen saß ich da, Yuma und Misu auf meinem Schoß, und beobachtete wie gebannt die Lichter der kleinen Stadt und den Rauch der aus unserem Motelzimmer aufstieg, im Rückspiegel. Das Heulen der Sirenen hallte durch die Nacht, zerriss die friedliche, mitternächtliche Stille und verspottete mich.
Was bitte war da gerade passiert? Ich hatte einfach so, ohne Skrupel, ohne Gewissen oder Reue, Menschen getötet. Ihr Leben für immer beendet. Vielleicht hatten sie Familie, Kinder und Freunde. Ich habe ihnen einfach den Sohn, Vater, Mann, Freund genommen, ohne über die Konsequenzen, die daraus resultieren nachzudenken. Und das für mich Schlimmste an all dem. Ich habe es mit jeder Faser meines Körpers genossen.
Die Macht, die ich über sie hatte, ihr Leben in meinen Händen zu halten und darüber zu entscheiden, gab mir ein Gefühl, von dem ich glaubte es in meinem vergangenen Leben verzweifelt gesucht zu haben. Mein Körper, meine Psyche schienen wie ausgehungert, lechzten danach und wurden doch niemals satt.
Ich spürte plötzlich eine Hand auf meiner und sah auf. Zack taxierte mich, ahnte anscheinend, was in mir vor ging und schenkte mir einen aufmunterden Blick.
"Es tut mir Leid, Jaime", er sah zurück auf die Straße, drückte kurz meine Hand und entzog sich mir dann.
"Das war nicht deine Schuld, wir hatten keine andere Wahl", kurz stockte er, sah mich dann verwirrt an, bevor er sich und seine Gesichtszüge wieder vollkommen unter Kontrolle hatte.
"Nein, ich hätte das nicht tun dürfen, ich hätte die Kontrolle nicht verlieren dürfen. Du warst nicht du selbst, das hätte ich erkennen mü-"
"Warte, was? Nein, nein, nein. Nein, mein Gott das meinte ich nicht. Ich rede davon, dass ich diese ganzen Männer einfach so getötet haben", dachte er etwa ich würde darüber reden, was da zwischen uns passiert war? Warum zur Hölle sollte ich das bereuen? Es war doch nichts, das man bereut, oder?
Meine Fragen wurden nicht beantwortet, zumindest nicht von ihm, denn die Stimme in meinem Kopf knallte mir mehr als tausend mögliche Antworten an den Kopf und die wenigsten unter ihnen waren angenehm.
Stille entstand. Ich wagte es nicht auch nur einen lauten Atemzug zu machen, aus Angst vor dem was er sagen könnte. Wir hatten die kleine Stadt bereits hinter uns gelassen und sausten nun eine einsame Landstraße entlang. Um uns herum gab es nur unzählige Bäume, kein einziges Haus oder auch nur eine Tankstelle.
Nach einer kleinen Weile klingelte plötzlich Zacks Handy und riss mich aus meinem selbst auferlegten Delirium. Als wäre ich kurz weggetreten schreckte ich zusammen, was auch Yuma und Misu aus ihrem friedlichen Schlaf riss. Irgendwie beneidete ich die beiden.
Sie brauchten sich keine Gedanken über die letzten Stunden machen. Sie hatten schließlich niemanden getötet. Aber selbst wenn sie irgendwann groß genug waren, um irgendwem wirklich gefährlich werden zu können, interessiert es sie nicht, wen oder was sie töten. Ihr Instinkt leitet sie.
Droht Gefahr, töten sie. Haben sie Hunger, töten sie. Haben sie Angst, töten sie. Ganz einfach. Kein wenn und aber. Kein vielleicht. Es gibt nur eine Möglichkeit, eine Antwort auf alles. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, es wäre auch für mich so einfach.
"Was", fauchte Zack plötzlich ins Handy und ließ mich dadurch erneut zusammen zucken. Meine Güte war ich aber heute auch schreckhaft.
"Ja ... Nein, es gab Komplikationen ...Ja ... Nein, vergiss den Plan, wir kommen direkt hin ... In zwei Stunden, sag Bescheid und bereite alles vor ... Ja, ich weiß wo das ist", ohne ein Wort des Abschieds, warf er sein Handy zurück auf die Mittelkonsole des Autos und sah weiterhin stur geradeaus.
Warum bitte war er plötzlich so gereizt? Lag es an mir? An dem was da zwischen uns passiert war? Bereute er es etwa? Oder lag es an der ganzen allgemeinen Situation? Ich nahm all meinen Mut zusammen, holte tief Luft und überwand meine Angst, etwas zu hören zu bekommen, das mir ganz und gar nicht gefiel.
"Za-"
"Vielleicht solltest du noch etwas schlafen, während wir unterwegs sind. Die nächsten Wochen werden ziemlich anstrengend.", er unterbrach mich barsch, vermied es weiterhin, seinen Blick auf mich zu senken. Ich fühlte mich zunehmend unwohler in meiner Haut. Zum einen weil er sich plötzlich so abweisend verhielt und zum anderen, weil ich absolut keine Ahnung hatte, was er damit meinte, was als nächstes kam.
So weit hatte ich nie gedacht. Ich hatte immer nur von einem Tag zum nächsten gelebt, obwohl es ja eigentlich logisch war, das wir ein Ziel hatten. Er hatte es mir auch gesagt, doch ich nahm es einfach so hin, ohne weiter darüber nachzudenken, wäre ihm wahrscheinlich bis ans Ende der Welt gefolgt, nur um bei ihm zu sein.
Doch plötzlich machte es mir Angst und weckte so etwas wie Misstrauen in den tiefen meines Kopfes. Eine kleine, noch leise Stimme, die mir zu flüsterte, dass etwas nicht stimmte und es eigentlich wichtigere Dinge gab um die ich mich zu kümmern hatte. Doch ich ignorierte sie. Noch.
"Aber-", setzte ich erneut an.
"Tu einfach was ich dir sage, Jaime!", wieder unterbrach er mich, in einem Tonfall, der keine weitere Diskussion zu ließ.
"Bitte was?"
"Du hast mich schon verstanden"
"Na ich glaube jetzt geht´s ja wohl los. Für wen zum Teufel hältst du dich eigentlich, dass du meinst mir Vorschriften machen zu können? Ich bin kein verdammtes Kind mehr, dass du herumkommandieren kannst!", plötzlich flackerte Wut in meinem Innern auf und bahnte sich durch meine Worte einen Weg nach draußen.
Sein bevormundendes Verhalten ging mir mehr als nur gegen den Strich. Ich war ziemlich laut geworden und hatte somit auch die Aufmerksamkeit meiner Welpen auf mich gezogen, die sich überraschenderweise meinem Gemütszustand anpassten und Zack böse grummelnd fixierten.
Ein kurzes Lächeln, über dieses unglaublich niedliche Bild huschte über mein Gesicht, bevor ich meinen Blick wieder auf Zack heftete. Dieser schien gar nicht glücklich über die von mir provozierte Diskussion, die nun im Raum stand und wäre augenscheinlich am liebsten aus dem fahrenden Auto gesprungen um ihr zu entgehen.
"So hab ich das nicht gemeint", er lenkte ein, doch ich war noch lange nicht bereit, Frieden zu schließen. Die Suppe hatte er sich selbst eingebrockt, also sollte er sie jetzt gefälligst auch auslöffeln.
"Ach ja? Wie dann?", keifte ich und warf ihm meinen besten Todesblick zu.
"Warum bist du denn auf einmal so angepisst? Komm runter, verdammt!"
"Der Einzige der hier runter kommen sollte bist du! Führst dich hier auf, als hätte dir die ganze verschissene Welt sonst was getan!"
"Ich hab ja auch allen Grund dazu"
"Und der wäre?"
"Das geht dich nichts an"
"Was?"
"Das geht dich verdammt noch mal nichts an!"
"Was ist bitte dein Problem? Beantworte mir doch einfach die Frage!", ich sah rot, verlor die Kontrolle und schrie ihn hemmungslos an.
"Da gibt´s nichts zu beantworten! Du sollst dich einfach nur aus meinem beschissenen Leben raus halten!"
"Halt an"
"Was?"
"Du sollst verdammt noch mal anhalten, ich halte es keine Sekunde länger mit dir aus!"
"Nein!"
"Halt an!"
"Nein! Und jetzt Ende der Diskussion, hast du mich verstanden? Halt die Klappe und komm verdammt noch mal runter! Ich hab genug, von dieser Kinderkacke!", ich sah ihn kurz geschockt, über diese mehr als unpassende Art mit mir zu reden, an, bevor ich das Erstbeste tat, das mir in den Sinn kam. Ich griff nach dem Lenkrad.
Keinen Gedanken verschwendete ich an die Konsequenzen, die aus meiner unbedachten Handlung resultieren könnten. Das Auto machte einen scharfen Rechtsschlenker, bevor Zack meine Hand wegschlagen und uns vor einer Kollision mit einem Baum bewahren konnte. Er kochte vor Wut.
"Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt? Du hättest uns umbringen können!"
"Dann halt endlich an!", ich wollte meinen Willen um jeden Preis durchsetzen, verschränkte zum Nachdruck noch die Arme vor der Brust und starrte stur geradeaus. Zack atmete mehrmals tief durch, anscheinend um sich zu beruhigen.
"Jaime", seine Stimme wurde wieder weicher. Er wollte mich einlullen, das war offensichtlich, doch ich war noch nicht bereit nachzugeben. Ich steckte zu tief in meinem Trotz, als dass ich einfach hätte vergeben und vergessen können. Er hatte mich schlecht behandelt, angeschrien, rumkommandiert und mit dem Ausschluss aus seinem Privatleben tiefer verletzt, als ich mir momentan bereit war einzugestehen.
Ein quiekender Laut verließ meinen Mund und drückte meinen Unmut über seine Weigerung, zu tun, was ich sagte, aus. Auch meine Welpen gaben leise, unzufriedene Laute von sich, die aber eher von ihrer Verwirrtheit herrührten.
Nach zehn Minuten eisigen Schweigens hielt ich es nicht mehr aus und überwand meinen Stolz. Ich musste dringend Dampf ablassen, bevor ich noch anfing auf das Auto oder Zack einzuschlagen.
"Halt bitte an", ich senkte meine Stimme und löste die verkrampfte Haltung meiner Arme. Zack sah mir kurz prüfend in die Augen, bevor er seufzte und seinen Blick wieder auf die Straße richtete.
"Noch zwei Meilen, dann kommt ein Rastplatz", war seine schlichte Antwort, vollkommen frei von Emotionen. Klasse.
Der sogenannte Rastplatz, hatte es kaum verdient diese Bezeichnung zu tragen. Zwei Dixi-Klos und ein morscher Holztisch mit einer Betonbank an jeder Seite. Er war komplett leer und nicht beleuchtet, weshalb er auch gut und gerne der Schauplatz eines drittklassigen Horrorfilms hätte sein können. Ich konnte das zu Tode verängstigte Opferlamm geradezu vor mir sehen, wie es hysterisch kreischend und mit wild rudernden Armen über den betonierten Parkplatz stolperte.
Ich sah kurz zu Zack, bevor ich resigniert seufzte und mich abschnallte um auszusteigen und irgendetwas zu finden, dass noch nicht kaputt war, um meine immernoch vorhandene Wut daran auszulassen. Schließlich war es doch nicht wirklich schlau auf bereits beschädigte Dinge einzuschlagen. Wo blieb denn da der Spaß an der sinnlosen Zerstörung?
Zack schien zu ahnen, was ich vor hatte. Der genervte Ausdruck in seinem Gesicht hätte ihm sicherlich die Rolle des irren Massenmörders beschert, doch ich bezweifelte, dass es ihm ausgereicht hätte, nur so zu tun, als würde er jemanden umbringen. Er schien mir eher der Typ, der alleine der Glaubwürdigkeit -oder dem puren Spaß an der Freude- wegen mit einem echten Messer zu stach.
Ich setzte meine Welpen vorsichtig auf dem Boden ab, bevor ich selbst ausstieg und nach einem geeigneten Busch mit genug Blätterbewuchs, um meine Gestalt zu verdecken, Ausschau hielt. Mir war es vorher kaum aufgefallen, doch wenn ich nun an mir runter sah musste ich leider feststellen, dass von meinen Klamotten, mit denen ich ins Bett gegangen war und die ich auch während des Kampfes an hatte, nicht mehr viel übrig geblieben war.
Ich musste doch näher an den Flammen gestanden haben, als ich gedacht hatte. Und da wir uns anscheinend in ... na ja ... knapp eineinhalb Stunden mit jemandem treffen würden, musste ich mir dringend etwas ausgehfähigeres anziehen, damit ich nicht direkt beim Kennenlernen unangenehm auffiel.
Deshalb stolzierte ich hoch erhobenen Hauptes und in den winzigen Stofffetzen, die meinen Körper nicht mal ansatzweise ausreichend bedeckten, zu Zacks Tasche, die er in der Eile vorhin einfach nur auf den Rücksitz geschmissen hatte und wühlte darin nach etwas passendem zum anziehen.
Yuma und Misu tollten in einem Radius von circa drei Metern um mich herum, erledigten ihr Geschäft und spielten ausgelassen miteinander. Ihnen schien die kurze Verschnaufspause gerade recht. Glücklicherweise vertrugen sie das Autofahren relativ gut, auch wenn es logisch war, dass sie alles andere, als natürlich und angenehm für sie sein musste.
Ich war stolz wie eine Mutter und konnte mir bereits jetzt schon kein Leben mehr ohne die beiden kleinen Racker vorstellen, ich wollte es auch gar nicht.
"Beeil dich, ich will in zehn Minuten weiter", Zack war ebenfalls ausgestiegen. Er stand hinter mir und zog genüßlich an einer Zigarette. Ich betrachtete ihn kurz eingehen, bevor ich mich wieder seiner Tasche zu wand.
"Seit wann rauchst du denn?", ich hatte ihn in unserer gemeinsamen Zeit niemals rauchen gesehen. Okay, zugegeben, die knappen drei Tage, die wir bis jetzt zusammen verbracht hatte, als ´gemeinsame Zeit´ zu bezeichnen, als wären es Jahre, war vielleicht auch ein wenig übertrieben.
Trotzdem war es doch ziemlich ungewohnt ihn so zu sehen. Ich fragte mich unwillkürlich, ob ich in meinem früheren Leben vielleicht auch geraucht hatte. Zumindest empfand ich den Geruch des Rauchs nicht als abstoßend oder so. Ganz im Gegenteil, ich mochte ihn irgendwie.
"Lang genug", er wand sich ab und machte doch tatsächlich Anstalten mich einfach so stehen zu lassen. Nicht mit mir! Kurz entschlossen drehte ich mich um und stürzte mich praktisch auf ihn.
Ich hatte den Überraschungsmoment auf meiner Seite und drückte ihn mit dem Rücken voran zu Boden. Keine Ahnung woher die Kraft und die Technik dafür kamen. Sie waren einfach da, leiteten mein Unterbewusstsein.
"Was zu Hölle ist plötzlich dein Problem? Okay ich war vielleicht ein wenig zickig, aber das gibt dir noch lange nicht das Recht, mich so zu behandeln! Ich weiß vielleicht nicht viel über mich selbst, oder meine Vergangenheit, aber ich kann dir sagen, dass du mich momentan echt wütend machst, also lass es und verhalte dich verdammt noch mal wieder normal!", ich drückte ihn mit meinem gesamten Körpergewicht auf den Boden, hatte meine Knie auf seinen Armbeugen positioniert und hielt seine Hände mit meinen fest.
Er antwortete mir nicht, war sich anscheinend zu fein, um sich und sein Verhalten zu rechtfertigen. Nicht einmal ansehen konnte er mich, obwohl ich ihn gerade aus vollem Hals anschrie. Er sah einfach weg, hatte seinen Blick auf meine linke Hand geheftet, die seine rechte fest umklammerte.
"Hallo? Ich rede mit dir!",immernoch keine Reaktion.
"Zack!"
"Deine Kräfte kommen zurück"
"Was?", ich war verwirrt. Was sollte denn das jetzt heißen? Er taxierte weiterhin meine Hand, nickte nur leicht in die Richtung, in die er sah, als würde das alles erklären.
"Das ist großartig!"
"Wovon zur Hölle redest du da?", endlich folgte ich seinem Blick und stockte mitten in der Bewegung. Ich hatte bei meiner impulsiven Handlung seine immernoch glühende Zigarette nicht bedacht, war einfach auf ihn los gegangen. Meine Hand umklammerte seine, inklusive des Glimmstängels, der mein Fleisch versenkte.
Erst jetzt bemerkte ich auch den veränderten Geruch. Es roch eindeutig nach verbranntem Fleisch. Aber sollte das nicht eigentlich weh tun? Wie paralysiert starrte ich auf die Stelle, an der die Zigarette auf meine Haut traf, konzentrierte mich und versuchte den Schmerz zu spüren, der eigentlich aus so einer Begegnung resultieren sollte, doch da war nichts. Absolut gar nichts.
"Was zum", flüsterte ich geistesabwesend und bemerkte verwundert, dass sich auf der Haut, die unmittelbar an die verbrannte Stelle anschloss, ein feines Netz aus leuchtend roten und schwarzen Adern gebildet hatte. Es pulsierte in einem Rhythmus, der dem meines Herzschlags identisch zu sein schien.
"Wie ist das möglich?", meine Stimme war nicht mehr, als ein Hauch. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Frage an Zack oder doch mich selbst gerichtet hatte. Er befreite sich aus meinem Griff, stand auf und hielt mir auffordernd die Hand hin. Ich nahm sie an und ließ mich von ihm auf die Füße ziehen.
"Ich erklär´s dir später Jaime, versprochen, aber jetzt müssen wir weiter. Ich will vor Sonnenaufgang ankommen, damit uns niemand bemerkt.", er umrundete den Wagen und öffnete die Fahrertür, bevor ihm auffiel, dass ich immernoch vollkommen verdattert an Ort und Stelle stand.
"Jaime komm schon, wir haben keine Zeit zu verlieren. Bitte", der drängende Unterton in seiner Stimme und sein bittender Blick brachten mich endlich dazu meine Schockstarre und das wenig befriedigende Versprechen Zack´s, auf Antworten, zu überwinden und mich in Bewegung zu setzten.
Ich stieg wieder auf den Beifahrersitz und hob erst Misu und dann Yuma auf meinen Schoß, bevor Zack auch schon, kaum, dass ich die Tür geschlossen hatte, aufs Gas drückte.
Es dämmerte bereits, als wir durch die gefühlt tausendste Kleinstadt, mit den Einfamilienhäusern und gepflegten Vorgärten, den kleinen Einkaufsläden, die wahrscheinlich schon seit Generationen von ein und der selben Familie geführt wurden und den sauberen Straßen, auf denen nicht einmal ein Kaugummi auf dem Bordstein klebte, fuhren.
Der Horizont färbte sich langsam leuchtend violett, was die unzähligen Sterne, die noch vor ein paar Minuten über uns funkelten, verschlang. Doch im Gegensatz zu den anderen Städten verließen wir diese nicht direkt auf dem schnellsten Weg wieder.
Wir fuhren in ein Wohngebiet, in dem die Häuser schon einen ziemlich alten und teilweise sogar verlassenen Eindruck machten. Die meisten bestanden aus dunklem Holz, mit bunten Fenstern und kleineren und größeren Türmchen an den Seiten. Wasserspeier in den unterschiedlichsten Formen beobachteten uns von einigen Dächern aus, weswegen ich mich gleich ein wenig unwohler fühlte.
Was wollten wir hier? Noch bevor ich meine Frage aussprechen konnte, waren wir am letzten Haus in dieser Straße angelangt. Es grenzte direkt an den Wald, wirkte genau so alt wie die anderen, jedoch verliehen ihm die vielen bunten, wild wuchernden Pflanzen im Vorgarten etwas heimeliges.
Vom morschen Lattenzaun, der es vollständig zu umschließen schien, blätterte bereits die ehemals weiße Farbe ab, genau so wie am ganzen Haus. Tür und Fenster schienen ein wenig schief, hatten sich anscheinend über die Jahre hinweg, durch Wind und Wetter verzogen.
Ich betrachtete das alles mit einer gewissen Faszination, während Zack den Wagen auf die kleine Auffahrt lenkte und den Motor abschaltete. Er atmete einmal tief durch und sah mich dann eindringlich an.
"Bevor wir da reingehen, hast du dir ein paar Antworten verdient.", ich erwiderte seinen Blick mit großen Augen, traute mich nicht auch nur einen Mucks von mir zu geben, so aufgeregt war ich. Meine Handflächen wurden feucht und ich rieb sie an dem Fetzen, der mal eine Boxershort war.
Durch meinen Überfall auf Zack und die darauf folgende Entdeckung, dass ich anscheinend schmerzfrei war, was Verbrennungen anbelangte -zumindest hatte ich mir das so zusammengereimt- hatte ich es nicht mehr geschafft, mir etwas ordentliches anzuziehen, da der Herr ja gleich darauf weiter wollte.
"Ich denke mal dir dürfte mittlerweile klar geworden sein, dass es Dinge in dieser Welt gibt, die der menschliche Verstand weder erfassen, noch begreifen kann. Dass ich dich zurück geholt habe, Yuma und Misu, das was im Hotel und auf dem Rastplatz geschehen ist, sind glaube ich Beweise genug. Auch wenn die Menschen glauben die am höchsten entwickelte Spezies zu sein und das Recht zu besitzen, auf diesem Planeten zu schalten und zu walten wie es ihnen passt, ist das ein Trugschluss. Nur wenige von ihnen wissen von unserer Welt. Der größte Teil tut uns jedoch als Fabelwesen, Märchen und Sagen ab. Sie verschließen bewusst ihre Augen, bemerken nicht, dass sie kontrolliert werden und das ist auch gut so.", meine Augen wurden noch größer, mein Verstand versuchte diese Information zu verarbeiten, doch nicht einmal die Stimme der Vernunft in meinem Kopf unterbrach ihn, hinterfragte das, was er gerade behauptete.
Logisch und ganz nüchtern betrachtet, war es gar nicht so abwegig. Ich hatte es am eigenen Leib erfahren, war von den Toten auferstanden, hatte einem riesigen Wolf beim sterben beigestanden und ihm versprochen mich um seine Jungen zu kümmern. Normal, war anders.
"Wir beide Jaime, du und ich, wir gehören zu dieser anderen Welt. Du magst dich vielleicht nicht mehr daran erinnern und ich bin mir sicher, dass du auch vor deinem Tod nicht wusstest, wer du wirklich bist, doch es ist und war schon immer so. Du bist etwas ganz besonderes, Jaime, einzigartig in beiden Welten.", er machte eine kurze Pause, bevor er fort fuhr. Er sah währenddessen die ganze Zeit über aus dem Fenster.
"Phanes schuf die Erde, ein leeres Ödland ohne Leben. Dann formte er acht Götter, die unter ihm herrschen und der toten Welt Leben einhauchen sollten. Unter ihnen die vier Elemente: Gaia, die Göttin der Erde, Aither, der Gott der Luft, Pontos, der Gott des Wassers und Chantico, die Göttin des Feuers. Diese vier gestalteten zusammen mit Tartaros, dem Gott der Unterwelt, Erebos, dem Gott der Finsternis, Eros, dem Gott der Liebe und Nyx, der Göttin der Nacht, die Erde und erschufen alles Leben auf ihr. Jeder von uns, ist ein Urahne eines dieser acht Götter, doch du bist anders Jaime und das ist genau das, was dich so gefährlich, besonders und für manche zu einer Bedrohung macht. Du bist eine direkte Nachfahrin zweier dieser Götter. Das Resultat eines gebrochenen Gesetzes und somit das mächtigste und wertvollste Geschöpf, das jemals auf dieser Erde gewandelt ist.", er hielt erneut inne und das Einzige, was die plötzlich so drückende Stille durchbrach, war mein abgehackter, unregelmäßiger Atem, der stoßweise aus meinen Lungen gepresst wurde, nur damit ich gleich darauf wieder hastig, einer Ertrinkenden gleich, frischen Sauerstoff in meinen Körper saugen konnte.
Ich hyperventilierte. Auch wenn es am Anfang einleuchtend schien, was er mir erzählte, so war es doch eine ganz schöne Bombe, zu behaupten, ich wäre irgendein übermächtiger Nachkomme zweier Götter, wenn ich es doch noch nicht einmal schaffte unfallfrei geradeaus zu laufen.
Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich, plötzlich schien es einen Kurzschluss zu geben und alles um mich herum flackerte, bevor meine Umgebung schließlich in einem tiefen, wohltuenden Schwarz versank.
Beurteile nie einen Menschen nach seiner Fröhlichkeit,
ich habe auch gelacht um nicht weinen zu müssen.
-Unbekannt
Ich weißt nicht wie lange ich weg gewesen war. Die Wahrheit über mich, die mir Zack so feinfühlig wie ein Baseballschläger um die Ohren gehauen hatte, war einfach, für den Moment, zu viel für mein eh schon vollkommen überreiztes Hirn gewesen, sodass es anscheinend die Notbremse gezogen hatte. Das waren eindeutig zu viele Informationen, Situationen und Ereignisse für eine Nacht gewesen. Wer wäre da bitte nicht zusammen gebrochen?
Ich hatte getötet -und es genossen-, mit Zack rum gemacht, mich mit ihm gestritten, herausgefunden, dass ich schmerzunempfindlich gegenüber Feuer war -zumindest dachte ich es wäre so, vergleichsweise einfach- und hatte schließlich erfahren, dass ich wohl der übermächtige Nachfahre zweier Götter war.
Klasse, wirklich klasse. Besser konnte ein Abend doch gar nicht laufen. Und wie ich nun so da lag, von der wohltuenden Schwärze hinter meinen Augenlidern eingelullt, wurde mir plötzlich bewusst, dass sich wohl von jetzt an alles ändern würde. Wenn Zack das alles, die ganze Zeit über, von mir gewusst hatte, dann waren es wirklich alles andere als reine Freundlichkeit, Mitleid, oder wie mein dummes Herz heimlich gehofft hatte, tiefergehende Gefühle für mich, die Zack dazu verleiteten, mir zu helfen.
Es musste reine Berechnung gewesen sein. Er hatte gesagt, ich sei wertvoll, zwar nicht in welchem Sinne, doch das konnte ich mit meinem von Amnesie und menschlichem Irrglauben verseuchten Verstand wahrscheinlich eh nicht erfassen. Das musste auch der Grund gewesen sein, warum er das, was zwischen uns passiert war, so sehr bereute. Ich war anscheinend nicht mehr, als ein Mittel zum Zweck für ihn, es nicht wert mehr als nur reine Faszination für mich zu empfinden und mich für seine Ziele zu missbrauchen.
Ich versuchte immernoch alles schön nacheinander zu verarbeiten, auch wenn sich die Nachfahren-Bombe immer wieder in den Vordergrund drängte und um Aufmerksamkeit bettelte, als ich plötzlich feststellte, dass sich der wohltuende Schleier, der mich mit Dunkelheit und Ruhe umgab, langsam aufzulösen schien.
Das Gefühl kehrte in meine Glieder zurück, Geräusche von außen wurden immer lauter und übertönten die Stimme in meinem Kopf, mit der ich gerade über meine Zukunft diskutiert hatte, und das Schwarz hinter meinen Lidern hellte sich auf, nahm einen rötlich orangen Farbton an. Ich spürte etwas feuchtes auf meiner Stirn und hörte eine beruhigende Stimme, die leise auf mich einredete.
"Öffne die Augen, Liebes, ich weiß, dass du wach bist", flüsterte sie und ich kam ihrer Aufforderung, nach kurzem Zögern, nach. Ich musste ein paar mal blinzeln, da ich nicht auf das helle Licht um mich herum vorbereitet war. Als sich meine Augen an die Verhältnisse gewöhnt hatten erkannte ich verwundert, dass ich in einem mir unbekannten Zimmer auf einem kleinen Bett lag.
Der Raum war quadratisch mit weißen Wänden, einem Schrank mir gegenüber und einem kleinen Fenster, an dem ein Schreibtisch stand, zu meiner Rechten. Auf der linken Seite befand sich eine Tür, neben der ein von dunklem Holz umrahmter Spiegel hing.
Ich sah mich weiter um und entdeckte schließlich eine männliche Gestalt auf der rechten Seite, im Schatten einer Ecke an die Wand gelehnt stehen und mich beobachten. Zack! Ich erkannte ihn sofort.
Mein erster Impuls bei seinem Anblick war, mich aus dem Bett und in seine Arme zu stürzen, doch ich hielt mich zurück, krallte meine Hände in die geblümte Decke um mich zu kontrollieren, so übermächtig schien mir der Drang ihn zu berühren. Ich hatte meine Schlussfolgerungen, die ich während meiner Ohnmacht gezogen hatte, nicht vergessen. Er hatte mir so einiges zu erklären.
"Wie geht es dir, Liebes?", da war sie wieder, die ruhige, vertrauensvolle Stimme, die mich aus meiner so angenehmen Ohnmacht gelockt hatte. Ich blickte mich verwundert um und musste feststellen, dass zu meiner Rechten, an meinem Bett eine alte, freundlich lächelnde Frau saß und mir den Arm tätschelte.
"Ähm, gut, denke ich", stotterte ich unbeholfen und versuchte ihr unauffällig meinen Arm zu entziehen. Ich kannte sie nicht und irgendwie war es mir unangenehm, wenn mich jemand fremdes anfasste, auch wenn es nur eine nett gemeinte Geste war.
"Danke", setzte ich noch schnell höflich nach und richtete mich vorsichtig auf.
"Du warst ziemlich lange weg. Es war nicht einfach dich aufzuwecken, du hast dich gewehrt, als gäbe es keinen Morgen", ein Lachen klang in ihrer Stimme mit, doch ihr Blick verriet Besorgnis.
"Wo bin ich?", wollte ich vorsichtig wissen.
"Und wo sind Yuma und Misu? Zack was soll das alles?", ich sah ihn fragend an, doch er wich meinem Blick aus, starrte nur stur aus dem Fenster.
"Du bist in meinem Haus, Liebes. Zackary war so freundlich dich hierher zu bringen, damit wir an deinem Gedächtnis und deinen Kräften arbeiten können, bevor sie dich Linume vorstellen"
"Katharina!", zischte Zack aus der dunklen Ecke, woraufhin die alte Frau ihren Kopf in seine Richtung wand und ihn böse anfunkelte.
"Nicht in diesem Ton Zackary! In meinem Haus wird nicht gelogen, das weißt du, und ihr die Wahrheit weiter vor zu enthalten ist für mich das gleiche wie lügen. Du hast doch gesehen was es ihr gebracht hat, so viele Informationen auf einmal zu erhalten. Überfordert hast du das arme Kind!", ihr Ton war bitterböse und er zeigte anscheinend auch die gewünschte Wirkung, denn Zack senkte den Kopf und blieb still. Wow, ich musste diese Katharina unbedingt fragen, wie sie das machte.
"Na geht doch", sie nickte zufrieden.
"Und jetzt geh und such Chester. Sag ihm, dass sie wach ist und bereitet schon mal alles vor", sie wand sich erneut mir zu, während Zack, leise wie ein Schatten, den Raum verließ. Jedoch nicht ohne einen letzten, unauffälligen Blick auf mich zu werfen, der mir entgangen wäre, hätten meine Augen nicht wie magnetisch an seiner Gestalt gehangen. Ein mitleidiges Lächeln breitete sich in ihrem faltigen, von grauweißen Haaren umrahmten Gesicht aus.
"Männer, nicht war? Dumm wie Brot, wenn es ums Feingefühl geht, aber was würden wir nur ohne sie tun?", sie zuckte kurz mit den Schultern, bevor sie sich von dem Stuhl neben meinem Bett, auf dem sie gesessen hatte, erhob und zum Fenster schritt. Sie blieb mit dem Rücken zu mir stehen und starrte in die Dunkelheit, hinter der Glasscheibe.
"Er ist ein guter Junge, weißt du?! Auch wenn er manchmal dumme Sachen sagt oder tut, hat er ein gutes Herz und darauf kommt es doch am Schluss an. Vielleicht dauert es ein bisschen, aber er wird die richtige Entscheidung treffen, daran musst du dich immer wieder erinnern, hörst du?", sie flüsterte nur und trotzdem brannte sich jedes einzelne Wort in meinen Geist, als hätte sie sie mir über Jahre hinweg, immer wieder, eingeflüstert.
***
Drei Monate. So lange war ich nun schon bei Granny, wie ich sie liebevoll nannte, und trainierte jeden Tag, stundenlang. Ohne ihn.
Ich hatte mich mittlerweile fast daran gewöhnt, doch die Gedanken wollten einfach nicht verschwinden. Niemand sagte mir, wo er war, warum er ging, oder ob er wiederkommen würde. Ich hätte nie gedacht, das mich der Verlust eines Menschen, so kurz ich ihn auch kannte, erneut so aus der Bahn werfen konnte. Dass ich jede Nacht bruchstückhaft meine verloren geglaubte Vergangenheit wieder durchleben musste, machte es auch nicht besser.
Doch mein früheres Leben, die Erinnerungen an Sam und die jüngsten Ereignisse mit Zack hatten mich in die Realität zurück geholt und vorsichtiger denn je werden lassen. Ich konnte es mir nicht leisten Vertrauen aufzubauen, oder Gefühle zu zu lassen. Ich war mir selbst am nächsten und bis auf Yuma und Misu machte ich da keine Ausnahmen mehr.
Man musste aus seinen Fehlern lernen, das war mir mittlerweile klar geworden.
***
"Wunderschönen guten Morgen, Liebes. Na, gut geschlafen?", Katharina stand inmitten ihrer kleinen Küche, über und über mit Mehl bedeckt, einer grell grünen Plastikschüssel in der einen und einer Kelle in der anderen Hand, und strahlte mich an.
"Kaffe", brummte ich nur und bog mit schlurfenden Schritten und hängenden Schultern um die Ecke. Nachdem ich mich wenig elegant auf die alte, mit bunt geblümtem Stoff überzogene Sitzbank fallen gelassen hatte, beobachtete ich mit grimmigem Blick, jeden ihrer Handgriffe. Sie öffnete den Hängeschrank zu ihrer Linken, angelte die größte Tasse, die er zu bieten hatte, und die ich mir bereits am Tag meiner Ankunft auf Lebenszeit sicherte, heraus, stellte sie vor mir ab und griff hinter sich, nach der blassblauen Thermoskanne.
"Denk nicht mal dran, alte Frau!", zischte ich und taxierte sie mit bösem Blick. Jeden Morgen das gleiche Theater.
"Kind, probier doch wenigstens!", ihre Stimme war leise und bittend, jedoch autoritär genug, dass ich, wäre ich zehn Jahre jünger gewesen, sofort gespurt hätte. Doch glücklicherweise war dem nicht so und ich war alt genug um mich gegen sie und ihr ekelhaftes Gesöff, das sie Kräutertee schimpfte, durchzusetzen.
"Niemals! Gib mir Koffein, oder ich schwöre dir, die Pfannkuchen, die du da gerade so liebevoll zubereitest, werden die nächsten dreißig Sekunden nicht überleben", fast wäre mir, bei ihrem entsetzten Blick, ein irres, Weltherrschaft haschendes Kichern entwichen. Aber nur fast. Sie seufzte schwer, bevor sie nach der rotgoldenen Kanne zu ihrer Rechten griff und die schwarze, lebenserhaltende Flüssigkeit in meinen Becher füllte.
"Das du aber auch immer gleich so aggressiv werden musst. Also wirklich Jaime, wo sind denn deine Manieren geblieben?", sie tat empört über mein Tun, dabei durfte sie dieser Show doch jeden Morgen aufs neue beiwohnen.
"Im Bett", nuschelte ich in meine Kaffeetasse und nahm gierig einen großen Schluck. Nach einer halben Stunde, zwei weiteren Tassen Kaffee und vier von Grannys selbstgemachten Blaubeerpfannkuchen befand sich meine Laune auf einem weitaus höherem Level und ich war bereit für zwischenmenschliche Interaktionen.
"Also, was steht heute an?", fragte ich seufzend und schob, meinen überfüllten Bauch reibend, meinen Teller weit von mir über den Tisch.
"Nun, Chester müsste in einer halben Stunde hier eintreffen und da ich gestern bereits das Unkraut im Garten gejätet habe und nichts weiter ansteht, dachte ich mir, ich könnte euch begleiten und sehen, wie weit du schon bist", sie zwinkerte mir zu und räumte meinen Teller, zusammen mit dem restlichen Geschirr, in die Spülmaschine. Ich brachte nur ein wenig überzeugendes Lächeln zustande.
"Schön", kommentierte ich meinen misslungenen Versuch, sie über meine Verwirrung hinweg zu täuschen und stand auf, um auch meine geliebte Kaffeetasse im Geschirrspüler zu versenken und im Bad zu verschwinden. Granny nahm es hin und begann, emsig wie eine Biene, die Küche zu putzen.
Als ich zwanzig Minuten später, frisch geduscht und angezogen aus dem Bad stolperte -alle Fußleisten der Welt schienen sich gegen mich verschworen zu haben- saß Chester bereits am Küchentisch und nickte mir grinsend zu, während ich die Treppe runter schlürfte. Er trug eine helle, löchrige Jeans und ein weißes, enges Shirt, was einen sehr schönen Kontrast zu seinem pechschwarzen Haar und den fast ebenso dunklen Augen bildete. Er war im Grunde genommen wirklich attraktiv. Groß, mindestens eins neunzig, markantes Kinn, hohe Wangenknochen und volle Lippen. Sein Körper war durchtrainiert, wirkte jedoch nicht bullig, eine gute Mischung eben, aber aus einem Grund, den ich mir partout nicht eingestehen wollte, interessierte er mich in dieser Hinsicht herzlich wenig.
"Guten Morgen eure Majestät, kann man euch bereits gefahrlos gegenübertreten oder hetzt ihr mir gleich eure blutrünstigen Bestien auf den Hals?"
"Weder noch, elendiger Sklaventreiber, aber sagt, habt ihr heute schon kleinen Kindern die Süßigkeiten geklaut oder hebt ihr euch diesen Spaß für später auf?", sein Grinsen wurde nur noch breiter, während er schlürfend einen großen Schluck aus seiner Kaffeetasse nahm. Ein lautes Poltern aus der oberen Etage veranlasste mich schließlich hektisch die letzten Stufen runter zu hasten, bevor erst Misu, gefolgt von Yuma die Treppe runter gerast kamen. Beide rannte wie besessen erst durchs Haus und dann schließlich durch die offene Terassentür in den Garten.
Die beiden waren in den letzten Monaten unglaublich gewachsen. Sie reichten mir nun schon bis knapp übers Knie und ihrem Appetit und den Informationen Katharinas nach zu urteilen würden sie erst ausgewachsen sein, wenn sie eine Schulterhöhe von circa eins zwanzig erreicht hatten. Bei ihrem Wachstumstempo dürfte das jedoch nicht einmal mehr ein halbes Jahr dauern.
Die Sache mit dem durch die Gegend tragen hatte sich eindeutig erledigt, auch wenn meine Welpen das anders sahen und mir bei jeder sich bietenden Gelegenheit, auf den Schoß oder in die Arme sprangen, als wären sie nicht schwerer als ein Sack Federn.
"Bereit los zu legen?", Chester war aufgestanden und sah mich fragend an.
"Hab ich denn eine Wahl?", wollte ich mit einem genervten Seufzen wissen, doch er lachte nur und ging mir voran aus dem Haus. Wir liefen eine Weile schweigend nebeneinander her, während wir dem schmalen Trampelpfad, durch Katharinas Garten, in den angrenzenden Wald folgten.
Yuma und Misu waren längst aus meinem Sichtfeld verschwunden und jagten durch das dichte Unterholz. Totes Fleisch reichte ihnen schon lange nicht mehr aus. Sie mussten jagen, um ihre Triebe zu befriedigen und das konnten sie hier auch, da sich glücklicherweise kaum ein Mensch in diese Gefilde verirrte.
Unsere Umgebung war gespenstisch still. Kaum ein Geräusch wagte es den Frieden des Waldes zu durchbrechen. Nur die unzähligen Vögel, die in den Bäumen saßen, sangen unbeirrt ihre Lieder.
"Wie geht´s dir?", Chester musterte mich, mit einem undeutbaren Blick von der Seite.
"Gut", antwortete ich einsilbig und ermahnte mich gleich darauf in Gedanken, dass er es nur gut gemeint und meine unwirsche Reaktion nicht verdient hatte. Er war immer da, wenn ich jemanden zum reden brauchte, verlor nie die Geduld, wenn ich bereits am verzweifeln war und gab mir den Halt, der mir vor drei Monaten genommen wurde. Na ja, er versuchte es zumindest.
"Wie war die letzte Nacht?", er wand den Blick von mir ab und taxierte den Weg, dem wir folgten.
"Katharina musste mich zwei mal wecken. Es wird besser", in Gedanken vertieft bemerkte ich erst gar nicht, dass ich stehen geblieben war und versuchte ein Glühwürmchen, das vor uns in der Luft schwebte, mit den Fingern zu berühren. Auch Chester hielt inne, beobachtete mein tun.
"Willst du darüber reden?"
"Nein", ich vernahm ein leises Knacken, gefolgt von einem leichten Kribbeln, dass sich auf meiner Haut ausbreitete, als er sich mir in den Weg stellte und mir so die Sicht auf das leuchtende Insekt nahm. Seine warmen Handflächen umschlossen meine nackten Oberarme und ich hob meinen Blick.
"Ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mir mir sprichst"
"Selbst wenn, du könntest nichts ändern"
"Das weißt du nicht", sein Griff wurde fester, der Blick eindringlicher.
"Und ob", ich schüttelte seine Hände ab und stapfte an ihm vorbei. Auch wenn ich wusste, dass ich ihm eigentlich alles sagen konnte, manche Dinge sollte man einfach für sich behalten und das, was des Nachts aus den Tiefen meines Unterbewusstseins hervor gekrochen kam gehörten definitiv dazu.
Meine Vergangenheit ging nur mich etwas an und ich war nicht bereit erneut ein Leben zu riskieren, nur weil ich glaubte alleine nicht damit fertig werden zu können.
Wer Abstand hält,
hat sich nicht unbedingt
entfernt.
-Edith Linvers
Das Wetter hatte sich geändert. Der klare, blassblaue Himmel und die hellen Sonnenstrahlen waren einer grauen Wolkendecke gewichen. Die bereits untergehende Sonne war kaum noch zu erahnen. Es schien von Minute zu Minute dunkler zu werden, während er in der Deckung seines Wagens saß und auf das Haus am Ende der Straße starrte. Er versteckte sich, zögerte den Moment hinaus, das war ihm klar, aber er war aus ihm unerfindlichen Gründen nicht in der Lage, daran etwas zu ändern.
„Reiß dich zusammen!“ Er biss die Zähne aufeinander, bis ihm der Kiefer schmerzte und öffnete die Tür. Er war ein Krieger, hatte nie eine Schlacht verloren und galt in seiner Welt als der Stärkste seiner Art. Und doch … Er schüttelte den Kopf, wollte nicht, dass seine Gedanken in diese Richtung gingen, ihm ausmalten was auf ihn zukommen würde, wenn er erst einmal die Schwelle dieses so unschuldig wirkenden Hauses überschritten hatte. Er würde einfach seinen Auftrag erfüllen und dem Eid, den er vor langer Zeit geschworen hatte, Folge leisten. Mehr nicht. Vor den drei knarrenden Stufen, die zur Haustür hinauf führten, hielt er kurz inne und überlegte, ob er klingeln, klopfen oder einfach hinein gehe sollte. Er entschied sich für letzteres, immerhin hatte er seine halbe Kindheit in diesem Haus verbracht. Wenn irgendjemand das Recht hatte aus heiterem Himmel herein zu platzen, dann ja wohl er. Mit geballten Fäusten nahm er die kurze Treppe, öffnete die Tür und trat ins Haus. Ihr Geruch war einfach überall. So intensiv, dass er einen Schritt zurück machte und Halt suchend mit seiner Hand an der Wand entlang tastete. Er rief Erinnerungen in ihm wach, die er die letzten Monate so sorgfältig verdrängt hatte. Gefühle, die er nicht haben durfte. Er versuchte sich auf etwas anderes zu konzentrieren, legte den Kopf leicht schief und schloss die Augen. Da war der leichte Geruch nach Wolf, der ihm in die Nase biss, verschiedene Kräuter, Staub. Es roch nach Chester und Katharina. Doch all diese Gerüche waren kaum wahrnehmbar, wurden von ihrem Duft überlagert.
„Steh nicht so nutzlos in der Tür herum. Komm rein oder verschwinde wieder.“ Katharina stand plötzlich direkt vor ihm, die Augen vorwurfsvoll zusammen gekniffen taxierte sie ihn.
„Hallo Katharina“, begrüßte er sie vollkommen ruhig, auch wenn er im Inneren schrie. Ein letzter Blick auf seine Gestalt, dann drehte sie sich um und schlurfte geschäftig Richtung Küche. Er verstand die unausgesprochene Aufforderung ihr zu folgen.
„Ich hatte frühestens in ein paar Wochen mit dir gerechnet. Sie ist noch nicht so weit.“
„Wie geht es ihr?“, fragte er und in dem Moment, als die Worte seinen Mund verließen bereute er sie auch schon. Sie klangen nicht so, wie er es wollte. Nicht sachlich, ohne tieferes Interesse. Er biss sich auf die Innenseite seiner Wange, bis der bittere Geschmack seines Blutes seine Zunge umhüllte und ließ sich auf die alte, geblümte Sitzbank fallen, die ihm immer noch so vertraut vorkam.
„Ich werde nicht mit dir über die letzten Monate sprechen. Frag sie selber, wenn du wissen willst, wie es ihr geht.“ Eine schwere Stille senkte sich über sie, während Katharina Wasser aufsetzte, Tassen aus dem Schrank holte und mit einem Tuch die saubere Theke wischte. Es schien als versuchte sie krampfhaft alles, um ihn nicht ansehen zu müssen, bis sie schließlich mitten in der Bewegung inne hielt. Den Kopf immer noch gesenkt.
„Du hast einen Fehler gemacht, Zackary. Einfach zu verschwinden, ohne auch nur eine Sekunde über die Konsequenzen nachzudenken. Du hast nicht nur sie im Stich gelassen, sondern auch Chester und mich.“ Stille. Er wusste, dass sie recht hatte, aber nicht, was er darauf antworten sollte. Dass es ihm leid tat? Dass er es einfach nicht mehr in ihrer Nähe ausgehalten hatte? Nein! Er war erwachsen, kein kleines Kind mehr, das sie mit ihrem bösen Blick einschüchtern konnte. Es war nicht mehr nötig seine Entscheidungen vor ihr zu rechtfertigen. Der Wasserkessel pfiff, kurz bevor eine dampfende Tasse Tee vor ihm auf dem Tisch landete. Ihm wäre Kaffee lieber gewesen, doch er sagte nichts, nahm stumm einen Schluck und versuchte unauffällig seine Hände am heißen Keramik zu wärmen. Vergeblich. Ein weiteres Mal senkte sich Stille über sie, schwerer und vorwurfsvoller als zuvor. Sie saßen sich einfach schweigend gegenüber, tranken ihren Tee und hingen den eigenen Gedanken nach.
„Was hast du jetzt vor?“, fragte sie schließlich und ihre leicht raue Stimme schien vollkommen ausdruckslos, frei von Gefühlen, doch er wusste, dass das nicht stimmte. Erkannte ihre unterdrückte Sorge. So lange er Katharina kannte, hatte sie immer dieses spezielle Strahlen in den Augen gehabt, wenn sie ihn ansah. Es hatte ihm Wärme und Geborgenheit vermittelt. Doch nun? Er hob den Kopf und suchte ihren Blick. Das leichte Lächeln auf ihren Lippen erreichte ihre Augen nicht und das sonst immer allgegenwärtige Funkeln an das er sich erinnerte, schien von einem gräulichen Schatten überlagert zu werden. Er wusste, dass sein Verschwinden Folgen haben würde und jetzt konnte er sich Auge in Auge mit diesen befassen. Resigniert heftete er seinen Blick wieder auf die bunte Tasse in seinen Händen. Er ahnte, dass ihm noch viel Schlimmeres bevorstand, sobald sie bemerkte, dass er zurück war.
„Ich muss sehen wie weit sie ist, dann entscheide ich wie es weiter geht.“ Seine Stimme klang fester, als er gedacht hätte. Katharina leerte ihre Tasse in einem Zug und stand auf.
„Ich hoffe du weißt, was du tust, Junge“, murmelte sie und blickte zum Fenster, kurz bevor ein Ruck durch seinen Körper ging. Dann passierte alles ganz schnell. Er hörte wie die Hintertür aufschwang, Pfoten die über den Holzboden kratzten, Gelächter – ihr Lachen – das im Bruchteil einer Sekunde erstarb und dann spürte er sie, mit jeder Faser seines Körper. Die Pfoten stoppten und schwere Schritte bewegten sich durch den Flur, direkt auf die Küche zu. Er meinte ein Winseln zu hören, dann erschien Chester im Türrahmen. Sein gesamter Körper wirkte angespannt, die Arme hingen an seinen Seiten herunter und die Hände hatte er zu Fäusten geballt. Sein Blick war eiskalt, nichts in ihm deutete auf die jahrelange Freundschaft hin, die die beiden Männer einst verband und von der er dachte, sie wäre unzerstörbar. Doch allem Anschein nach, war ihm das Unmögliche gelungen.
„Was zur Hölle willst du?“ Chester spie ihm die Worte praktisch entgegen. Sein ganzer Körper schien vor unterdrückter Wut zu vibrieren und auch Zack konnte es nicht verhindern, dass sich seine Muskeln anspannten, bereit sich zu verteidigen. Doch bevor noch irgendetwas geschehen konnte, dass sowohl er, als auch Chester bereut hätten, legte sich eine zierliche Hand auf seine Schulter.
„Schon gut.“ Allein ihre Stimme zu hören schien ihm schon körperliche Schmerzen zuzufügen, doch es war nichts im Vergleich zu dem was er fühlte, als Chester einen Schritt zur Seite machte, die Arme vor der breiten Brust verschränkt, und Jaime in die kleine Küche trat. Sie sah ihn nicht an, schritt hoch erhobenen Hauptes auf Katharina zu und öffnete den Hängeschrank direkt neben ihrem Kopf. Die beiden Schattenwolfswelpen, die in den letzten Monaten erheblich an Größe und Gewicht zugenommen zu haben schienen, folgten ihr auf dem Fuß, jedoch nicht ohne ihn auch nur eine Sekunde lang aus den Augen zu lassen. Auch wenn sie sich betont gelassen gab, konnte er doch an ihrer Haltung und der der Welpen erkennen, wie angespannt sie war. Es war ihr bei weitem nicht so gleichgültig, wie sie ihnen glauben machen wollte.
„Jaime, es -“ Die Tasse, die sie aus dem Schrank geangelt hatte, landete mit einem lauten Knall auf der Arbeitsplatte und er musste sich zusammen reißen, um nicht wie ein geschlagenes Kind den Kopf einzuziehen.
„Ist noch Kaffee da?“ Ihre Stimme war leise aber fest. Katharina nickte und griff mit einem mütterlichen Lächeln nach der rotgoldenen Thermoskanne, die am anderen Ende der rustikalen Küchenzeile stand. Jaime füllte ihre Tasse, griff dann nach dem Stuhl der ihm gegenüber am Tisch stand und zog diesen quer durch die Küche, in die linke hintere Ecke, direkt neben dem Fenster. Noch deutlicher ging es eigentlich gar nicht mehr und obwohl er wusste, dass er es wahrscheinlich verdient hatte, spürte er einen stechenden Schmerz in der Brust. Yuma und Misu platzierten sich zu beiden Seiten, als sie sich setzte, bevor, nur einen Augenblick später, auch Chester schräg hinter ihrem Stuhl aufragte. Viel zu nah, für seinen Geschmack, aber er zwang sich, sich nichts anmerken zu lassen. Sie sah ihn immer noch nicht an.
„Also, spucks schon aus! Was willst du?“ Chesters Wut schien mit jeder Minute zu wachsen, anstatt langsam, aber sicher abzuflauen.
„Eigentlich hatte ich mit einem etwas herzlicheren Empfang gerechnet.“
„Du kannst froh sein, dass ich dich nicht mit einem Arschtritt wieder dorthin befördere, wo auch immer du dich die letzten Monate verkrochen hast! Und dein selbstgefälliges Grinsen kannst du auch stecken lassen, bevor ich es dir aus dem Gesicht wische! Was zum Henker hast du dir nur dabei gedacht, einfach so das Weite zu suchen? Du hast uns im Stich gelassen, Zack, uns alle!“, schrie er ihn aus vollem Hals an, während sich sein Brustkorb immer heftiger bewegte. Chester hatte eindeutig Probleme dabei, seine Wut im Zaum zu halten.
„Es gab … Dinge die ich erledigen musste. Ich bin hier, um zu sehen wie weit ihr mit dem Training seid.“ Er fühlte sich zunehmend unwohler und veränderte seine Position auf der kleinen Bank.
„Ist das alles? Kannst du dich nicht mal zu einer beschissenen Entschuldigung durchringen?“ Chester wand den Blick ab und starrte stur durchs Fenster.
„Ich hab echt mehr von dir erwartet, Bruder.“
„Eine Entschuldigung würde nichts ändern, ganz einfach. Ich hatte meine Gründe, das muss als Erklärung genügen“, sagte er ruhig und schob den mittlerweile kalten Tee von sich. Chester würde sich wieder beruhigen, da war er sich sicher. Was Katharina anging, konnte er nur hoffen und Jaime würde höchst wahrscheinlich niemals wieder ein Wort mit ihm reden. Immerhin hatte er sie im Stich gelassen, das war ihm klar, und es gab nichts, das sein Handeln vor ihr je rechtfertigen könnte. Aber, vielleicht war es ja besser so, dachte er und erlaubte sich kurz einen Blick auf sie zu werfen. Jaime starrte wie Chester stur aus dem Fenster und kraulte Misu gedankenverloren hinter dem Ohr. Sie hatte sich verändert. Er konnte es sehen und fühlen. Die kleinen silbernen Stecker unter ihrer Lippe waren verschwunden, die roten Haare trug sie nach hinten geflochten und ihr ganzer Körper schien insgesamt stärker, trainierter. Sie war weder der Wildfang den er kennen gelernt, noch die sanfte unschuldige Jaime zu sein, die er hierher geschleift hatte. Sie schien, wie ein anderer Mensch, ein wenig von beidem. Zumindest fühlte es sich für ihn so an. Er erhob sich.
„Vielleicht ist es besser, wenn ich euch ein wenig Zeit gebe.“ Sobald er sich bewegte fingen die Wölfe an zu Knurren. Er ignorierte sie, achtete aber darauf, keinen Schritt in Jaimes Richtung zu machen.
„Diese Nacht werde ich im Motel verbringen und ab morgen hier bleiben, um das Training zu übernehmen“, stellte er klar und wand sich bereits zum gehen, als Chester freudlos auflachte.
„Ich kann dir vielleicht nicht verbieten am Training teil zu nehmen oder Katharinas Haus mit deiner Anwesenheit zu … beehren, aber du kannst nicht erwarten, dass ich es zulasse, dass du nach drei Monaten, ohne ein Lebenszeichen, einfach wieder auftauchst und alles an dich reißt! Das ist nicht drin!“ Er blieb mit dem Rücken zu ihnen gewandt in der Tür stehen und nickte nur stumm, ohne sich umzudrehen.
„Damit hast du vielleicht sogar Recht, aber du scheinst deinen Rang zu vergessen, Chester. Du hast einen Eid geschworen und Pflichten die du erfüllen musst.“ Die Worte fühlten sich bitter auf seiner Zunge an. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, so mit Chester zu reden, ihn daran zu erinnern, dass er nicht frei nach seinem Willen handeln konnte, aber es musste sein.
„Weißt du was? Scheiß drauf! Vielleicht hab ich Linume meine Treue geschworen, aber die Zeiten haben sich geändert.“
„Was soll das heißen?“ Jetzt wurde er hellhörig und wand sich doch um. Chester blickte ihm selbstsicher entgegen.
„Das heißt, dass ich mich nicht mehr von ihr herumschubsen lassen werde.“
„Was?“ Damit hatte er nun wirklich nicht gerechnet. Was war nur passiert während er weg gewesen war?
„Das kannst du nicht tun! Sie wird dich umbringen!“ Wie zur Hölle konnte er nur so dumm sein? Niemand brach seinen Eid und kam mit heiler Haut davon. Niemand!
„Sie kann es ja ruhig versuchen.“ Er stockte. Es war das erste Mal, dass sie etwas zu ihm sagte. Das erste Mal, dass sie ihn direkt ansah, seit er sie vor Monaten zurück gelassen hatte. Ihre Stimme war fest und selbstsicher, ihr Blick undurchdringlich. Chester grinste hochmütig von einem Ohr zum anderen und legte nun seinerseits Jaime eine Hand auf die Schulter. Zack kniff die Augen zusammen, setzte zum Sprechen an und schloss seinen Mund direkt wieder. Dafür hatte er jetzt keinen Nerv. Er hielt es kaum noch aus in einem Raum und doch so weit entfernt von ihr zu sein. Wenn er sich jetzt nicht zwang zu gehen, würde er Chester seine beschissene Hand abreißen, sich Jaime über die Schulter werfen und mit ihr auf nimmer wiedersehen verschwinden. Also nickte er einfach, wand sich um und verließ das Haus.
Die Freundschaft ist eine Kunst der Distanz,
so wie die Liebe eine Kunst der Nähe ist.
-Sigmund Graff
Mein ganzer Körper kribbelte. Vor Anspannung, Aufregung, Verlangen und Wut. Ein derartiges Durcheinander von Gefühlen war ich nicht gewohnt und ich hätte in diesem Moment mein Erstgeborenes gegeben, damit es endlich aufhörte und mich einschlafen lies. Yuma und Misu pressten sich wie jede Nacht in meinem kleinen Bett, von beiden Seiten, an meinen Körper. Eine Art übernatürliches, spezienübergreifendes Sandwich. Sie spürten, dass etwas ganz und gar nicht stimmte und beobachteten mich aus halb geöffneten Augen, während ich verzweifelt versuchte still zu liegen und ins Land der Träume abzugleiten. Ein leises Piepen zog meine Aufmerksamkeit auf den kleinen Holztisch, neben meinem Bett. Mein Handy. Chester hatte es mir mitgebracht, damit ich erreichbar war. Für wen auch immer, da nur er meine Nummer hatte.
Sklaventreiber
2:38 a.m.:
Schläfst du?
Ich verzog ungewollt meinen Mund zu einem kleinen Lächeln, als ich den Namen las, den ich vor Wochen für ihn eingespeichert hatte und überlegte kurz, ob ich ihn einfach ignorieren sollte.
Ich
2:40 a.m.:
Tief und fest
Sklaventreiber
2:41 a.m.:
Dach?
Ich
2:43 a.m.:
Bin gleich da
Umständlich rappelte ich mich auf, kletterte über meine verwirrt wirkenden Welpen und tapste barfuß zum Fenster.
„Ihr bleibt hier, ich bin bald zurück“, flüsterte ich leise und sah zu, wie sie missmutig die Köpfe senkten. Ich öffnete das Fenster, kletterte auf den schmalen Sims davor und zog mich über die Regenrinne aufs Dach. Hier draußen war die Luft angenehm frisch. Die Wolken vom Abend hatten sich verzogen, sodass man einen klaren Blick auf die unzähligen Sterne und den zunehmenden Mond hatte, der die ganze Umgebung in ein faszinierendes silbernes Licht tauchte. Ganz oben auf der Spitze, neben einem schwarzen Dachreiter in Form einer Katze, hockte Chester und starrte gedankenverloren in den Himmel. Ich setzte mich wortlos neben ihn, winkelte ein Bein an und schlang meine Arme darum. Wir schwiegen eine Weile und beobachteten die Sterne und unsere Umgebung.
„Willst du reden?“ Es war kaum mehr als ein Flüstern. Er sah mich immer noch nicht an und ich hatte kurz das Gefühl es mir nur eingebildet zu haben, bis er mich leicht mit seiner Schulter anstubste.
„Nicht wirklich.“ Ich schüttelte zum Nachdruck den Kopf und legte mein Kinn auf mein Knie, bevor ich leise flüsternd „Ich bin nur so wütend“ hinzufügte. Ob es an ihn oder an mich gerichtet war, wusste ich selbst nicht.
„Ich auch“, stimmte er in der selben Lautstärke zu und zog eine schmale, weiße Zigarettenschachtel aus seiner schwarzen Lederjacke. Im Gegensatz zu heute Morgen, wirkte er nun wie ein ganz anderer Mensch. Diesen Eindruck verdankte er nicht zuletzt auch seinen durch und durch schwarzen Klamotten. Nichts an ihm wirkte hell oder freundlich und ich musste zugeben, dass er mir so besser gefiel. Das konnte allerdings auch ganz einfach an meiner momentan eher düsteren Stimmung liegen.
„Was meintest du eigentlich vorhin?“ Er hob den Blick und sah mich fragend an.
„Du hast gesagt, du willst dich nicht länger von Linume herumschubsen lassen. Was hast du damit gemeint?“ Er nickte verstehend und spielte mit der kleinen Schachtel in seinen Händen. Öffnete und schloss sie immer wieder. War es ihm unangenehm darüber zu sprechen? Auch wenn ich nicht wusste was er meinte, als er es Zack gegenüber erwähnte, hatte ich doch den Drang verspürt ihm den Rücken zu stärken. Immerhin war er so etwas wie ein Freund und Freunden stand man in solchen Situationen bei, oder?
„Das ist schwer zu erklären“, meinte er, zog eine Zigarette heraus und lies sie immer wieder von einer Hand in die andere wandern.
„Versuchs“ Er seufzte, steckte sich den Glimmstängel zwischen die Lippen und zündete ihn an.
„Niemand von uns ist wirklich frei. In dieser Hinsicht hinkt unsere Welt der der Menschen sogar noch hinterher.“ Er nahm einen tiefen Zug, bevor er den blauen Rauch langsam wieder aus seinen Lungen entließ.
„Das erstgeborene Kind ist eine Menge wert, Jaime, und die wenigsten von uns werden aus Liebe gezeugt, so wie du – noch etwas, dass dich besonders macht.“ Er lachte freudlos auf und hielt mir, nach einem weiteren Zug, seine Zigarette entgegen. Ich nahm sie ihm ab.
„Sie verkaufen sie“, stellte ich nüchtern fest und biss die Zähne zusammen, da ich ahnte in welche Richtung das ganze gehen würde.
„So in etwa. Man treibt Handel mit seinem eigen Fleisch und Blut, noch bevor das Kind überhaupt auf der Welt ist.“
„War es so bei dir?“ Ich rückte noch ein Stück näher an ihn heran, bis sich unsere Arme berührten. Ich weiß nicht warum. Vielleicht wollte ich ihm Sicherheit oder Unterstützung vermitteln. Keine Ahnung, ich tat es einfach. Er nickte.
„Genauso wie bei Zack. Wir kamen beide zu Katharina, als wir um die drei Jahre alt waren und blieben bis zur Pubertät. Danach wurde es Zeit uns auszubilden.“
„Das grenzt ja an Sklaverei“, warf ich ein und er verzog sein Gesicht.
„Es ist mehr wie ein Job, nur ohne die Möglichkeit zu kündigen. Man kann sich frei bewegen und Entscheidungen treffen, wenn man weit genug im Rang aufgestiegen ist. Hauptsache man erfüllt seine Aufgaben.“ Ich zog ein letztes mal an der Zigarette, bevor ich sie Chester zurück gab. Ich hatte mit meiner Vermutung, was das Rauchen anging, Recht behalten. Ich mochte den Geruch des Qualms und das Gefühl, das in mir aufkam, wenn die Glut sich langsam durchs Papier und den Tabak fraß.
„War es deine Aufgabe, mich zu trainieren?“
„Erst nach deinem Tod. Davor sollten wir dich einfach nur zu ihr bringen.“ Auch er zog noch einmal, bevor er den kleinen Stummel vom Dach, in Richtung Garten schnipste. Ich nickte gedankenverloren und beobachtete die Sterne. Diese andere Welt klang nicht gerade einladend.
„Was hat Linume mit mir vor? Erwartet sie etwa, dass ich ihr ebenfalls meine Treue schwören? Denn glaube mir, wenn ich dir sage, dass das niemals passieren wird.“ Ich gehörte nur mir selbst und niemand anderem und daran würde sich niemals etwas ändern. Chester fing plötzlich an zu lachen. Ich wartete einen Moment, bis er sich wieder beruhigt hatte, bevor ich ihn fragend musterte.
„Da brauchst du dir keine Sorgen machen. Ich habe keine Ahnung was sie genau vor hat, aber eigentlich ist es bei allen das gleiche. Jeder in unserer Welt kennt dich und weiß, dass deine Kräfte noch nicht zu einhundert Prozent aktiv sind, aber vorhanden. Sie will dich benutzen um mehr Macht zu erlangen. Sie versucht es eben auf die nette Tour, andere durch Bedrohung oder Erpressung, wie du vielleicht schon mitbekommen hast, was unter uns gesagt schon ziemlich dumm ist, denn zwingen kann dich, genau genommen, niemand.“Ich sah ihn prüfend an. Er, Katharina, Zack, alle sagte mir immer wieder wie mächtig ich angeblich war, aber spüren konnte ich davon bisher noch kaum etwas. Ich erinnerte mich mittlerweile recht gut an mein vergangenes Leben und wusste dass es damals zum Teil anders war. Die meiste Zeit über konnte ich meine Kräfte recht gut kontrollieren und trotzdem … war ich nicht in der Lage gewesen mich zu schützen. Ich blinzelte die Tränen weg, die mir bei den aufkeimenden Erinnerungen in die Augen schossen und räusperte mich.
„Was passiert, wenn du dich von ihr abwendest? Hat Zack recht?“
„Genau genommen, habe ich mich schon von ihr abgewandt. Ich erstatte ihr seit Wochen keinen Bericht mehr. Wahrscheinlich ist bis jetzt nur noch nichts passiert, weil du bei mir bist und sie nicht will, dass du einen schlechten Eindruck von ihr bekommst, wenn sie ihre Handlanger schickt um mich zu bestrafen.“ Er hob den Blick, seine Lippen zu einem schiefen Grinsen verzogen.
„Also wirst du es Zack überlassen mich zu ihr zu bringen und dann einfach verschwinden?“, ich verlagerte meine Position ein wenig und fing an am Saum meiner Shorts zu nesteln. Die Aussicht, dass auch Chester mich in naher Zukunft verlassen und nie wieder zurück kommen würde, gefiel mir ganz und gar nicht. Auch wenn es selbstsüchtig klang, da ihm der Tod drohte, wenn er uns zu Linume begleitete, aber ich wollte nicht, dass er ging. Ich mochte ihn.
„Nein.“ Ich sah ihn verwundert an.
„Nein?“ Er schüttelte leicht den Kopf. Sein Grinsen wurde breiter.
„So dumm bin ich nicht. Sollte ich untertauchen, bin ich vogelfrei.“
„Aber was-“
„Ich bleibe bei dir, Jaime. Die Idee, mich von Linume abzuwenden, spukt mir erst im Kopf herum, seit unserem ersten gemeinsamen Training und verfestigte sich immer weiter, je mehr Zeit wir zusammen verbracht haben. Ich mag dich, deshalb könnte ich niemals tatenlos dabei zusehen, wie sie dich benutzen. Das wäre falsch“, erklärte er. Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, trieb mir jedoch fast erneut die Tränen in die Augen. Meine Güte, ich war heute aber auch emotional. Er wand den Blick ab, während ich ihn verwundert von der Seite betrachtete. Das Licht des Mondes erhellte seine Züge, sodass ich jede Regung in seinem Gesicht, trotz der Dunkelheit die uns umgab, erkennen konnte. Er wirkte müde. Aber mehr mental, als körperlich.
„Du willst einen neuen Eid ablegen, hab ich recht?“ Es war die einzige Möglichkeit, wie er sich vor ihr schützen konnte. Chester wollte mir die Treue schwören. Er nickte.
„Und dieses Mal aus freien Stücken. Du bist mächtig genug, damit sie mich ziehen lässt, aber total unwissend, was unsere Welt angeht. Ich will dir helfen dich zurecht zu finden und davor schützen von irgendwelchen Idioten ausgenutzt und hintergangen zu werden.“ Er sah mich fragend an und ich konnte die Hoffnung in seinen Augen glitzern sehen. Auch wenn ich stark davon ausging, dass ich ihn, selbst wenn ich jetzt ablehnte, nicht mehr los werden würde, nickte ich.
„Okay, Sklave, was gehört denn alles in deinen Aufgabenbereich? Wäsche waschen, kochen, putzen?“, grinste ich ihn frech an und er auch konnte sein Lachen kaum unterdrücken.
„Ich dachte da eher an eine beratende Position. Auch wenn mir die Stelle als Kronprinz natürlich am besten gefallen würde.“ Er wackelte zweideutig mit den Augenbrauen und ich prustete laut los.
„Sorry, mein Hübscher, aber daraus wird wohl nix.“ Er griff sich mit gespielt schmerzerfülltem Gesichtsausdruck ans Herz und ich verlor kurzzeitig das Gleichgewicht, konnte mich aber im letzten Moment noch fangen, bevor ich rückwärts das Dach runter geschlittert wäre. Sein Gesicht wurde plötzlich wieder ernst.
„Danke.“ Ich nickte nur stumm und stupste ihn mit der Schulter an.
***
Der nächste Morgen kam viel zu schnell. Chester und ich hatte die halbe Nacht auf dem Dach verbracht und über Belangloses geredet, bevor ich schließlich vollkommen übermüdet, kurz vor der Dämmerung, ins Bett gefallen war. Dementsprechend befand sich meine momentane Laune weit unter dem, was gut für meine Mitmenschen gewesen wäre. Ich war übermüdet, hatte vom Rauchen einen absolut widerlichen Geschmack im Mund und mir allem Anschein nach, beim Sitzen auf den Schindeln, meinen Arsch gezerrt – sofern das überhaupt möglich ist. Doch es half alles nichts. Ich musste aufstehen und mich dem heutigen Tag – und Zack – stellen. Also quälte ich mich aus dem Bett, schlurfte zur Tür und blieb, mit der Hand am Knauf, ruckartig stehen. Als hätte mir jemand einen Baseballschläger über den Schädel gezogen. Ich konnte ihn spüren. Nicht irgendwo im Haus, oder in der näheren Umgebung. Nein, so wie sich mir die Nackenhaare aufstellten und mein ganzer Körper kribbelte, konnte er keine zwei Meter von mir entfernt sein. Nein, nein, nein, nein, nein! Scheiße! Okay ganz ruhig, ein und aus atmen. Einfach immer weiter! Du schaffst das, du bist stark – und du musst ganz dringend mal wohin, aber egal – du hast das gestern Abend ganz toll gemacht! Genau so machst du das einfach wieder. Ignoriere den Mistkerl! Ich atmete noch ein, zwei, okay drei Mal tief durch, straffte die Schultern und öffnete die Tür. Der Flur war leer, aber ich konnte ihn immer noch spüren. Direkt gegenüber meiner Tür befand sich Katharinas Schlafzimmer, rechts daneben, das Bad und am Ende des Ganges die Klappe zum Dachboden. Ich überprüfte mit einem kurzen Blick die beiden Räume – leer – und schloss den Dachboden einfach von vorneherein schon mal aus, da ich mir so gut wie sicher war, dass er sich in dieser Etage befand. Auf das leere Zimmer neben meinem, kam ich erst gar nicht, bis Yuma sich grummelnd davor positionierte, während Misu augenscheinlich gar nicht verstand, was hier eigentlich los war und lediglich seinen Bruder nachahmte. Die Tür stand einen Spalt breit offen und ich war für einen Moment versucht sie noch ein Stückchen weiter zu öffnen um einen besseren Blick zu haben, aber ich ließ es. Das breite Kreuz, das, in einer perfekten V-Form, zur Hüfte hin immer schmaler wurde und nur von einem viel zu engen, schwarzen Shirt bedeckt war, reichte bereits aus um meine Hormone zum kochen zu bringen. Mehr wollte ich gar nicht sehen. Das hätte ich an diesem Morgen sicherlich nicht verkraftet. Also drehte ich mich um und stolperte – muss ich wirklich noch was dazu sagen? - ins Bad.
Als ich zwanzig Minuten später, immer noch mies gelaunt, aber dafür frisch geduscht und mit nach Waschmittel duftenden Klamotten die Treppe runter polterte, hatte sich in der kleinen Küche bereits die ganze – mehr oder weniger - fröhliche Truppe versammelt. Katharina unterhielt sich, gut gelaunt, mit dem etwas verkniffen dreinschauenden Zack und schlug dabei Eier in eine Pfanne, während Chester fast so aussah, wie ich mich immer noch fühlte, und grimmig in seine Kaffeetasse starrte. Yuma und Misu, die direkt hinter mir waren, machten sich erst gar nicht die Mühe einen Blick in die Küche zu werfen, sondern hetzten lieber gleich durch die Hintertür in den Garten. Ich vermied es geflissentlich auch nur ansatzweise in Zacks Richtung zu sehen und ließ mich wortlos, direkt unter dem Fenster, neben Chester auf die Sitzbank plumsen. So weit wie möglich von ihm entfernt. Kindisch, ich weiß.
„Guten Morgen, Liebes.“ Ich hätte ihr am liebsten ihr dämliches ist-das-Leben-nicht-schön-Grinsen aus dem Gesicht gewischt, entschied mich aber, weil ich sie ja eigentlich ganz gerne hatte, lediglich für einen meiner heißgeliebten Todesblicke.
„Kaffee!“ Sie ignorierte meinen Blick, öffnete den Hängeschrank und griff nach meiner Tasse.
„Und bevor du auch nur daran denkst … ich bin heute wirklich nicht in der Stimmung, es könnte dich deine Küchenzeile kosten.“ Ihr Grinsen wurde nur noch breiter, aber sie nickte verständnisvoll füllte meinen Becher mit dem tief schwarzen, lebenserhaltenden Saft und stellte ihn vor mir ab. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie Zack mich musterte, doch ich ignorierte ihn weiter, als Chester mich leicht mit der Schulter anstubste.
„Was?“, brummte ich muffig. Er sah mir, mit einem undeutbaren Blick entgegen.
„Lass uns das Training heute ein wenig ruhiger angehen. Ich hab immer noch tierischen Muskelkater von letzter Nacht.“ Ich konnte das schiefen Grinsen, dass sich bei seinem schmerzerfüllten Tonfall, auf meinen Lippen bildete nicht unterdrücken. Immerhin hatte ich ihm seinen Spitznamen nicht umsonst verpasst. Egal ob ich Schmerzen hatte, vom Training am Vortag, oder einfach nur schlecht drauf war, er hatte nie Mitleid mit mir gehabt. Trotzdem nickte ich zustimmend, denn allein das Sitzen auf der gepolsterten Bank fühlte sich schon an, als bestünde das Futter aus Glasscherben.
„Glaub mir, ich weiß was du meinst. Mein Hintern bringt mich um.“ Ich nahm einen tiefen Schluck von meinem Kaffee.
„Wenn du das nächste Mal, mitten in der Nacht, Sehnsucht hast, dreh dich einfach um und schlaf weiter!“ Er erwiderte nichts, grinste nur selbstgefällig vor sich hin. Im ersten Moment hatte ich keine Ahnung, was er damit bezweckte, bis mir plötzlich auffiel, wen er dabei so dämlich anstarrte. Chester schien nicht sonderlich an seinem Leben zu hängen. Zack sah aus, als würde er gleich über den Tisch springen und ihn in Stücke reißen. Und – so dumm wie das jetzt klingt, aber – es gefiel mir irgendwie. Ich weiß nicht, ob es wirklich Eifersucht, oder einfach nur aufgestaute Wut war – ich tendierte ja zu ersterem – aber immerhin zeigte sich ein leichter Anflug von Schmerz in seinem Gesicht und den hatte er, meiner Meinung nach, mehr als verdient. Also entschied ich mich dazu, mitzuspielen. Ich lehnte mich zur Seite, bis mein Mund direkt neben Chesters Ohr schwebte.
„Gut gespielt, Sklaventreiber, so kenne ich dich gar nicht“, flüsterte ich so leise wie möglich und grinste noch ein bisschen breiter. Mit dem Ellbogen auf dem Tisch und den Kopf in seine Hand gestützt, wand er sein Gesicht leicht in meine Richtung, bis sich unsere Blicke trafen. Er zog auffordernd eine Augenbraue in die Höhe.
„Gefällt mir“, zwinkerte ich, leerte meine Tasse und stand auf.
„Na dann wolle wir mal.“
Tag der Veröffentlichung: 08.08.2013
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