Das Ende der Welt
Erno Fischer:
»Die Erde lebt – aber nicht mehr lange!«
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Kunstfabrik-2013
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Der Vorsitzende der illustren Versammlung war als Weltpräsident nicht nur der mächtigste Mann der Erde, sondern auch der mächtigste Mann im irdischen Imperium, das mehr als tausend bewohnte Welten in der Galaxis umfasste. Dabei war diese Sitzung so geheim, dass die einzelnen Mitglieder es nicht einmal wagten, sich gegenseitig anzusehen, geschweige denn mit Namen anzureden.
Die typische Verschwörergemeinschaft, hätte ein unbeteiligter Beobachter gedacht – und er hätte damit völlig richtig gelegen. Aber es handelte sich nicht um eine Verschwörung etwa zur Revolution, sondern ganz im Gegenteil: Hier versammelt waren neben dem Weltpräsidenten die Mächtigsten der Mächtigen, die Reichsten der Reichen, die Elitärsten der Elite und die Vordenker unter allen anerkannten Wissenschaftlern.
Dass Letztere überhaupt geladen waren, konnte man zusätzlich als absolut ungewöhnlich erachten, denn wann wurde jemals in der Geschichte der Menschheit die Wissenschaft zugelassen, wenn es darum ging, die weiteren Geschicke der Menschheit zu bestimmen?
Und darum ging es hier und heute – um nicht weniger und auch um nicht mehr. Als wäre das nicht schon genug...!
Nein, nicht um die Zukunft der Menschheit, sondern eben im wahrsten Sinne des Wortes um die Geschicke – zumal den ihrer Meinung nach absolut unabänderlichen, wenngleich alles andere als rosigen, denn sie hatten sich versammelt, um alle Zukunft und alle Hoffnung für die Menschheit endgültig und für immer zu begraben...
Obwohl sie für die Menschheit allesamt, wie sie sich hier versammelt hatten, die höchsten Würdenträger und somit gleichzeitig auch die höchsten Hoffnungsträger darstellten.
Ein fataler Irrtum der Massen, denn auch die höchste Würde, die man einem Menschen zuteil werden ließ, änderte nichts an der Tatsache, dass er eben nur... ein Mensch war! Und als solcher dachte er in erster Linie an sich selber und erst in zweiter Linie an diejenigen, die ihm nahe standen. An alle anderen... Wer dachte schon an diese?
Gedanken, die flüchtig den Geist des Weltpräsidenten und Vorsitzenden der geheimen Versammlung berührten, gepaart mit der Erkenntnis, dass es noch niemals zuvor in der Geschichte der Menschheit überhaupt eine Versammlung gegeben hatte, deren Bedeutung auch nur annähernd so groß gewesen wäre wie ausgerechnet diese hier, über die seine Blicke schweiften.
Die Anwesenden erschienen zumindest nach außen hin erstaunlich gefasst. Das mochte daran liegen, dass sie sich alle als besonders Privilegierte fühlen durften. Soviel jedenfalls hatte bereits festgestanden, bevor sie überhaupt hier eingetroffen waren.
Hier, das war tief unter der Erde von Neu-Genf, in einer Bunkeranlage, von der aus die Welt regiert wurde. In diesem Bereich hier war elektronische Abhörung genauso sicher ausgeschlossen wie jegliche Überwachung überhaupt. Der Regierungsbereich war darüber hinaus der sicherste im gesamten bekannten Universum. Noch! Um festzustellen, dass überhaupt nichts mehr sicher war, was die Erde und somit die Wiege der Menschheit betraf, dafür hatten sie sich schließlich hier getroffen.
Zumindest jedoch war die Bunkeranlage sicher gegenübe allem, was Menschen hätten bewirken können. Dagegen wirkte das berühmte Ford Knox der USA im einundzwanzigsten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung sozusagen wie „durchgehend Tag der offenen Tür“. Noch nicht einmal eine Mikrobe durfte hier unangemeldet herein, wie immer wieder beteuert wurde.
„Trotz allem, meine Damen, meine Herren“, begann der Weltpräsident mit unheilschwangerer Stimme, unmittelbar an seinen eigenen Gedankengängen anknüpfend, aber dennoch sicher, dass jeder verstehen würde, was er damit meinte. Zumal er fortfuhr mit den Worten: „Das Ende der Welt steht unmittelbar bevor! Der berüchtigte Tag X, das Jüngste Gericht... Wie auch immer man es nennen mag. Und der tödliche Feind ist nicht wie früher stets befürchtet der Mensch selber, auch keine außerirdische Macht, sondern... die Natur!“
Er schaute sich als einziger in der Runde um. Alle anderen hielten ihre Blicke weiterhin stur vor sich zu Boden gerichtet, als sei dieser viel interessanter. Sie taten gerade so, als könnten sie es dadurch vermeiden, dass sich andere jemals an ihre persönliche Teilnahme auf dieser denkwürdigsten aller Versammlungen erinnern konnten.
Nur einer wagte es nun, den Blick zu heben. Er galt als das größte Genie dieser Zeit. Zumindest offiziell, denn er war der am höchsten dekorierte Wissenschaftler des Jahrhunderts. Aber nun wirkte er eher kläglich, als er ohne Aufforderung den Worten seines Präsidenten hinzu fügte:
„Schuld sind wir dennoch... höchstselbst! Daran, an dieser Tatsache, führt kein Weg vorbei, auch wenn es leider zu spät ist, so etwas wie Reue zu verspüren. Denn es war schließlich ein Mensch, der den nach ihm benannten Gaarson-Effekt vor rund vierhundert Jahren entdeckt und sozusagen serienreif gemacht hat: Tipor Gaarson. Die Menschen zu seiner Zeit haben ihre Chance erkannt: Energie in praktisch beliebiger Menge! Es schien der lang gesuchte Weg ins Paradies zu sein, der sich ihnen eröffnete. Nach anfänglichen Schwierigkeiten war der Siegeszug des Gaarson-Effektes durch nichts und niemand mehr aufzuhalten. Ihm verdanken wir nicht nur unbeschreiblichen Reichtum und unbeschreiblichen Fortschritt, einschließlich der Besiedlung von über tausend Welten in unserer Galaxis... Eigentlich verdanken wir dem Gaarson-Effekt einfach alles. Leider aber auch das Ende der Welt, das wir mit seiner Anwendung damals eingeläutet haben.“
Unwillkürlich tauchte vor ihrem geistigen Auge jener geniale Tipor Gaarson auf, ein Anblick, der seit vierhundert Jahren in den Köpfen aller Menschen unauslöschlich verankert geblieben ist, galt er doch als der wichtigste und bedeutendste Mensch aller Zeiten. Ein dunkelblondes Wunderkind mit braunen Augen. Seine Lieblingsfarbe war natürlich Rot gewesen, wie es seitdem als Hinweis auf das Besondere in einem Menschen galt. Ob Aberglaube oder nicht: Die meisten Menschen waren seit Tipor Gaarson jedenfalls fest überzeugt davon und behaupteten, auch ihre Lieblingsfarbe sei das – auch wenn es gar nicht stimmte. Überhaupt gab es viele Menschen, die ihr Äußeres chrirurgisch veärndern ließen, nur um ihrem absoluten Idol ähnlich zu sehen. Und jetzt behauptete der Chefwissenschaftler, er sei nicht nur der wichtigste Mensch aller Zeiten, sondern hätte der Menschheit sozsuagen ein Kuckucksei der gefährlichsten Art ins Nest gelegt mit seinem Gaarson-Effekt?
„Und es gibt nicht den geringsten Zweifel daran?“, erkundigte sich der Weltpräsident folgerichtig. Eine rein rhetorische Frage trotzdem, weil jeder der Anwesenden längst die Antwort schon kannte. Sonst hätten sie sich ja auch nicht hier zu versammeln brauchen.
„Ja, keinerlei Zweifel! Es hat vor Kurzem begonnen, mit zunächst unbedeutenden Energieausfällen. Eine Unmöglichkeit übrigens seit immerhin vierhundert Jahren. Die belebte Natur begann, ein wenig verrückt zu spielen, um es mal gelinde auszudrücken. Ganze Waldstriche – von den wenigen, die es überhaupt noch auf der Erde gibt – starben über Nacht. Tiere wurden unruhig und aggressiv, auch wenn es absolut nicht zu ihrer Art passte. Eher seltene Naturkastrophen wie Springfluten und Erdbeben häuften sich schlagartig und wurden schlimmer als alles, was man bis dato gekannt hat. Das Wetter war plötzlich überhaupt nicht mehr dasselbe wie jemals registriert. Nicht nur regional, sondern weltweit. Dies alles jedoch bahnte sich an, ohne größeren Schaden anrichten zu können, da die meisten Menschen in sicheren Städten leben und somit noch nicht einmal etwas davon mitbekamen. Es passte jedenfalls so gut in das Konzept der ewigen Warner vor dem Gaarson-Effekt, dass es opportun erschien, erst mal alles zu leugnen und unmittelbar Betroffene mit Lügen vom Wesentlichen abzulenken. Um ganz genau zu sein: Wir haben diese Situation numehr seit gut zwei Wochen! Und wir wissen inzwischen auf Grund unserer Forschung definitiv: Die Warner, die vor den unabsehbaren Folgen des rigorosen Einsatzes des Gaarson-Effektes zur Energiegewinnung warnten... haben Recht! Sie wurden für ihre Warnungen verboten und beschimpft, verfolgt und getötet, seit immerhin vierhundert Jahren. Und nun haben wir die Katastrophe, an die außer ihnen niemals jemand glauben wollte. Sie hat begonnen, sie ist da und... sie ist unabwendbar!“
„Wie lange haben wir denn noch bis zum endgültigen Ende der Welt?“, fragte der Weltpräsident stellvertretend für alle anderen.
Der Chefwissenschaftler antwortete: „Noch höchstens vier Wochen, eher weniger.“
„Wieviel weniger?“, bohrte der Weltpräsident, während alle anderen mit angehaltenem Atem lauschten.
„Niemand kann das verlässlich sagen“, zierte sich der Wissenschaftler anfänglich, um danach jedoch umso deutlicher zu werden: „Aber vielleicht... ist nächste Woche schon alles vorbei? Dann wird es keine Erde mehr geben, keine Menscheheit auf ihr, ja, überhaupt kein Sonnensystem mehr...“
„Nächste Woche?“, echote der Weltpräsident alarmiert, denn diese Prognose war selbst für ihn neu.
„Die letzte Erkenntnis?“, vergewisserte er sich schnell.
„Ja, das kann man so bezeichnen!“, antwortete der Wissenschaftler fest.
Kurz brach Tumult aus. Die Anwesenden vergaßen, dass sie so tun wollten, als wären sie gar nicht persönlich da. Sie wagten es sogar, sich gegenseitig anzuschauen und zueinander zu reden.
Allerdings war das kein Reden im Sinne des Wortes, sondern viel mehr ein verzweifeltes Herumschreien.
Der Weltpräsident erkannte, dass die Versammlung innerhalb von Sekunden zum Hexenkessel entarten konnte und verschaffte sich mit lauter Stimme Gehör: „Es ist vorbei mit der Menscheit, mit unserer Welt, aber doch nicht unbedingt... mit uns!“
Damit verstummten alle schlagartig und richteten ihre Blicke auf ihn.
Der Weltpräsident wandte sich wieder an den Wissenschaftler.
„Welche Chancen gibt es also noch?“
„Überhaupt keine, außer der Evakuierung der Erde und sogar des gesamten Sonnensystems. Das sind schätzungsweise dreißig Milliarden Menschen, ungefähr sechsmal soviel wie im zwanzigsten Jahrhundert auf der ganzen Welt lebten. Allein Nordamerika hat heutzutage mehr Einwohner als damals die ganze Welt. Niemand könnte eine solche Masse evakuieren, nicht in hundert Jahren und vor allem nicht... in wenigen Tagen.“
„Selbst wenn wir also sofort gehandelt hätten, als es vor zwei Wochen begonnen hat und wir es selber noch gar nicht wahrhaben wollten...“, betonte der Weltpräsident, an die Versammlung gewendet. „Selbst dann wäre es längst zu spät gewesen. Man hätte schon vor vierhundert Jahren handeln müssen. Man hätte den Einsatz des Gaarson-Effektes begrenzen müssen, wie es immer wieder von den selbsternannten Astro-Ökologen verbotenerweise gefordert wurde. Allein eine solche Begrenzung hätte die Katastrophe letztlich verhindert.“
„Immerhin hat es vierhundert Jahre gedauert, bis sich ihre Prognosen überhaupt bewahrheiteten“, wandte der Wissenschaftler ein, um seine eigene Zunft, die anerkannte Wissenschaft, in Schutz zu nehmen. „Wie hätte da also jemand auch nur im Entferntesten für möglich halten können, dass die sogar Recht haben?“
„Richtig!“, sagte jemand in seiner Nähe und andere pflichteten ihm ebenfalls bei. Damit war dieser Themenbereich abgegolten. Niemand hatte das Gefühl, ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, weil die Warner vierhundert Jahre lang für ihre gut gemeinten und letztlich auch weisen Warnungen verfolgt, gequält und getötet worden waren. Es war halt so, wie es war, also im Nachhinein nicht mehr zu ändern, und jetzt mussten sie überlegen, was für sie zu tun noch übrig blieb.
Eigentlich waren sie ja für die Menschheit verantwortlich. Nur deshalb hatte die Menschheit ihnen ihre Macht und ihre Würde und ihren Reichtum überlassen, aber keiner von ihnen dachte auch nur im Entferntesten daran, sondern ausschießlich... an sich selber.
„Wenn eine Evakuierung unmöglich ist, was also sollten wir nach Meinung der Wissenschaftler tun?“, erkundigte sich der Weltpräsident unterdessen.
„Ich habe nicht gesagt, eine Evakuierung sei unmöglich – mit Verlaub, Herr Präsident. Ich sagte nur, dass es unmöglich sei, die ganze Menschheit zu evakuieren und dadurch rechtzeitig vor der Katastrophe in Sicherheit zu bringen. Aber einige zehntausend Menschen hätten diese Möglichkeit durchaus. Wir müssten halt sämtliche derzeit verfügbaren Raumschiffe dafür einsetzen. Allerdings würde das nicht unbeobachtet bleiben. Es wäre also kaum möglich, das geheim zu halten.“
„Und ob dies möglich wäre!“, widersprach ihm der Präsident ganz offen. Schließlich war das ein Bereich, in dem er sich bestens auskannte – besser jedenfalls als der Wissenschaftler. Den Massen etwas vormachen war sozusagen sein hauptsächliches Fachgebiet. Sonst wäre er niemals Weltpräsident geworden.
„Aber wie?“, wunderte sich der Wissenschaftler prompt.
„Das lassen Sie nur mal unsere Sorge sein“, antwortete der Präsident ausweichend und konnte sich dabei ein flüchtiges Grinsen nicht verkneifen. „Ich nehme an, dass es angeraten erscheint, die Entfernung zur Erde möglichst groß werden zu lassen, wenn wir dann weg fliegen? Um es einmal so zu umschreiben...“
„Ja und nein“, antwortete der Wissenschaftler vorsichtig. „Ja, weil sich die Katastrophe mit Lichtgeschwindigkkeit ausbreiten wird. Somit wäre das nächste Sonnensystem bereits in rund viereinhalb Jahren betroffen. Dorthin zu fliegen, wäre also unsinnig. Nein deshalb, weil die zuerst besiedelten Welten mit gewisser Verzögerung ebenfalls eine Katastrophe erleben werden. Wir können nicht genau absehen, in welchem zeitlichen Abstand dies unweigerlich erfolgen wird, denn dies ist offensichtlich abhängig davon, in welchem Ausmaß dort der Gaarson-Effekt bislang angewendet wurde und das ist je nach Dichte der Besiedelung durchaus unterschiedlich..."
„Bitte, fassen Sie sich kurz!“, unterbrach ihn der Weltpräsident ein wenig ungeduldig.
„Ich bitte um Verzeihung, Herr Präsident, verehrte Anwesende. Niemand weiß besser, wie sehr die Zeit drängt, als ich. Aber es ist dennoch wichtig, auf diese Dinge ausdrücklich hinzuweisen, wie ich meine.“
„Gut, akzeptiert. Aber mal was anderes: Wie wird denn diese Katastrophe denn letztlich ablaufen?“
„Einmal abgesehen von den Vorläufern, eben der Häufung katastrophaler Phänomene, um es mal so auszudrücken, ist nur eines sicher: Es wird am Ende ziemlich plötzlich erfolgen. Sie müssen verstehen, durch die rigorose Anwendung des Gaarson-Effektes ist auf Dauer ein erhebliches Energie-Ungleichgewicht entstanden. Ich will es so ausdrücken, dass es auch ein Laie verstehen kann: Mit der Katastrophe wird sich das Universum alles dies zurückholen, was wir von ihm vierhundert Jahre lang rücksichtlos abgezapft haben!“
„Und das heißt konkret?“
„So eine Art schwarzes Loch wird sich auftun und alles verschlingen, wie der sprichwörtliche Moloch. Erst die Erde und dann das gesamte Sonnensystem. Die Sonne ist nur wenige Lichtminuten entfernt. Sie wird erst betroffen, wenn es die Erde schon gar nicht mehr gibt.“
„Und dieser schwarze Moloch wird das Universum verschlingen, wie wir es kennen, also das ganze insgesamt?“, vergewisserte sich der Präsident.
„Ja – und wir sind überzeugt davon, dass es keinerlei Begrenzung dabei geben wird. Mit Lichtgeschwindigkeit breitet er sich aus. Das bedeutet, in ein paar Millionen Jahren gibt es diese ganze Galaxis nicht mehr und die alles verschlingende Leere erreicht die umliegenden Galaxien.“
„Dann wird es letzten Endes also bis zu fünfzehn Milliarden Jahre dauern, bis es auch das Universum nicht mehr gibt, wie wir es kennen?“
„Richtig, Herr Präsident. Der Moloch wird wirklich alles vernichten, alles verschlingen, die gesamte Unendlichkeit, um es einmal so auszudrücken.“
„Na, das werden wir allerdings dann doch nicht mehr so ganz erleben, nicht wahr, meine Damen und meine Herren?“
Verhaltenes Gelächter, aber sofort wurde die Versammlung wieder ernst.
„Nun denn!“ Der Päsident nickte dem Wissenschaftler dankend zu. „Wir werden zeitlich gesehen auf jeden Fall an unseren Zufluchtsstätten weit draußen im Weltall noch weit über das Ende unserer natürlichen Lebensspanne hinaus völlig sicher sein dürfen, ja!“
Er schöpfte tief Atem und hub dann zu der entscheidenden Ansprache an:
„Wir haben die Fakten erläutert und außerdem brennt uns im wahrsten Sinne des Wortes die Zeit unter den Nägeln – zumindest was das Ende der Erde betrifft. Auch wenn es nur um einige zehntausend Menschen geht, die wir von insgesamt rund dreißig Milliarden in Sicherheit bringen können und wollen, nimmt das mehrere Tage in Anspruch – und für die Letzten könnte es dann schon zu spät sein. Also hört meinen Vorschlag. Ich habe diese Versammlung einberufen, um letztlich genau darüber abzustimmen.“
Er legte eine Kunstpause ein, damit sich jeder auf das Folgende einstimmen konnte.
„Hier versammelt sind die führenden Köpfe der Menschheit. Alle wichtigen Bereiche sind betroffen. Ein Jeder von Ihnen weiß, wem er vertrauen kann und wem nicht. Ein Jeder von Ihnen weiß, wer auch in Zukunft für ihn wichtig ist und wer nicht. Die von Ihnen nach diesen Gesichtspunkten sorgfältig Auserwählten wiederum kennen ihre eigenen Auserwählten. Es dürfen nur nicht zu viele sein - insgesamt. Die Kapazität über alles wird zwangsläufig begrenzt auf wenige Zehntausend. Die oberen Zehntausend, im wahrsten Sinne des Wortes! Überlegt auch genau, dass es möglicherweise noch vier Wochen bis zum Ende der Welt dauert. In diesen Wochen darf niemand auf der Erde auch nur ahnen, was ihm bevorsteht. Das würde unsere eigene Sicherheit dort draußen, jenseits der Hauptgefahrenzone, nachhaltig gefährden. Immerhin werden wir eine Erde verlassen, die zum Tode verurteilt ist, obwohl ausgerechnet wir diejenigen sind, die man als zuständig dafür sieht, die Menschheit nicht nur zu führen, sondern auch für ihr Wohl zu sorgen. Aber wir wissen auch gleichzeitig, dass es keinerlei Hilfe mehr geben kann für sie. Das Ende ist nah und... BASTA!“
Er hieb mit beiden Fäusten auf das Rednerpult vor sich, um seine Worte damit zu untermauern. Niemand sollte mehr auch nur den geringsten Zweifel daran hegen, dass sie keinerlei andere Möglichkeit hatten, als rechtzeitig sich selber in Sicherheit zu bringen.
Es war auch keiner da, der auch nur den Anschein erwecken wollte, ihm zu widersprechen.
Der Weltpräsident registrierte das mit großer Genugtuung. Er ahnte schon das Ergebnis der heutigen Debatte – so es überhaupt zu einer Debatte kommen würde: Einstimmigkeit!
Somit würde diese Versammlung nicht nur als die bedeutungsvollste gelten dürfen, die es jemals gegeben hatte, sondern auch als die ungewöhnlichste, was das einstimmige Ergebnis betraf!
Er konnte stolz darauf sein – und war es auch schon im Vorfeld, obwohl noch gar nichts sicher entschieden war.
Mit lauter Stimme, weil es ja aus Furcht vor Abhörung keinerlei Elektronik gab und selbstverständlich auch keine Lautsprecheranlage mit Mikrofonen, fuhr er fort, wobei ihn jeder ganz genau verstehen konnte, weil er sich nach wie vor der Einheitssprache Esperanto bediente:
„Die wichtigsten Vertreter der Menscheit, also wir, die wir uns hier versammelt haben, gehen als Erste. Nicht nach dem Seemannsgarn, dass der Kapitän als Letzter sein Schiff verlässt. Das ergäbe keinen Sinn, denn es ist eben niemand wichtiger als wir und somit sind wir in erster Linie - und das meine ich wirklich wörtlich - allesamt UNVERZICHTBAR!“
Wer hätte denn da überhaupt von den Genannten widersprechen sollen?
Er sagte weiter: „Jeder von Ihnen hat nicht nur auf der Erde seinen unmittelbaren Herrschaftsbereich, um es einmal so zu umschreiben, sondern auch außerhalb der Erde. Es gibt ja sogar einige Planeten, die Eigentum von euren Konzernen sind, wie wir alle wissen. Wir müssen uns stets vor Augen führen, was mit dem Ende der Welt auch dem Imperium widerfahren wird: Die Erde ist der Kopf und wenn sie untergeht, hat das Imperium keinen Kopf mehr! Es wird auseinander brechen, unweigerlich. Außerdem wissen wir aus dem Munde der Wissenschaft, dass sich die Katastrophe weiter ausbreiten wird. Mit ungeheurer Geschwindigkeit, aber dennoch langsam genug, um uns dort draußen die Chance einzuräumen, die Scherben wieder zu kitten und das Imperium erneut zu einen. Wenn nicht wir: Wer sonst? Leider bleibt uns hier auf Erden keine Zeit mehr, um die Vormachtstellung der Erde erst einmal Zug um Zug nach draußen zu verlagern. Deshalb können wir diesen Teil der Katastrophe absolut nicht verhindern. Aber wie gesagt, es obliegt einzig und allein uns als den geistigen Führern der irdischen Menschheit und des Imperiums, nach dem Weltuntergang die entstehenden Scherben des Imperiums dort draußen wieder zu kitten.
Dass ich dabei auf absolute Geheimhaltung bis zum Ende der Welt bestehen muss, dient dabei unserer Sicherheit in Zukunft... und nicht nur dieser! Sicherheit deshalb, weil es ja immerhin möglich sein könnte, dass nach unserer Abreise ein Raumschiff zur Erde kommt und anschließend noch rechtzeitig wieder startet, mit der Hiobsbotschaft, dass wir die Menschheit im Stich gelassen haben, um dies dann schließlich im Imperium in schändlichster Absicht zu verbreiten und damit all unsere Bemühungen zur Begrenzung des Unheils für das Imperium zu vereiteln. Jeder von Ihnen kann sich ja selber leicht ausmalen, was eine solche Nachricht für unsere Wiederaufbauarbeit nach der Katastrophe bedeuten könnte! Ein Machtvakuum ohnegleichen würde entstehen und somit eine ganz andere Art von Katastrophe einleiten, die das Imperium zerstören würde, bevor der schwarze Moloch des Untergangs es überhaupt erreichen könnte.
Und es gibt außer unserer eigenen Sicherheit ganz zum Wohle des Imperiums noch einen weiteren Grund zur rigorosen und lückenlosen Geheimhaltung: Humanität, also Menschlichkeit!“
Diese beiden Worte passten so wenig in diesen Raum und zu dieser Versammlung, dass ein jeder ganz besondes aufhorchte, als sie erklangen.
Der Weltpräsident ließ es geschickt wirken, ehe er erläuternd hinzu fügte:
„Ist es denn nicht ein Akt der absoluten Humanität, der praktisch angewandten Menschlichkeit, den Menschen nicht zu sagen, dass sie alle sterben müssen? Was wäre denn gewonnen, würde auch nur einer von ihnen es vorzeitig erfahren? Richtig: Wir würden Leid über ihn bringen. Er würde schrecklich leiden bis zu seinem unausweichlichen Ende. Panik würde allerorten ausbrechen. Die Menschen würden übereinander her fallen in ihrer Verzweiflung und sich gegenseitig zerfleischen. Wollen wir denn das?
Nein, denn wir haben schließlich alle Verantwortung für die Menschheit, die wir keine Sekunde lang aus den Augen lassen wollen. Wir können sie zwar nicht retten und müssen sie leider ihrem unabwendbaren Schicksal überlassen, aber gleichzeitig sorgen wir mit all unserer Macht dafür, dass sie ihr Leben bis zum letzten Atemzug genießen können! Das ist das Größte an Humanität, das der Menschheit jemals widerfahren durfte und wir selber sind diejenigen, die dafür verantwortlich handeln. Sind wir dadurch nicht auch die größten Wohltäter der Menschheit? Ja, wir werden hinaus ins All eilen, aber nicht aus Feigheit, sondern weil wir Schlimmeres verhindern wollen dort draußen! Nur wir können das Imperium vor den Schrecken bewahren, die ihm ansonsten drohen würden. Aber auch nur wir schaffen es, die Menschheit derweil absolut im Ungewissen zu lassen, damit sie in Würde untergehen darf, völlig ohne Furcht, ganz ohne Panik. Ein wahrlich großartiges Ende der Welt, Dank uns, ist es nicht so?“
Geraune kam auf.
Er rief ihnen zu: „Ist es nicht so?“
Das Geraune brandete hoch und formierte sich zu einem allgemeinen Aufschrei: „Ja, so ist es!“
Und er wiederholte so laut er konnte: „Ist es nicht so?“
Diesmal antwortete die Versammlung mit wahrhaftigem Donnergetöse, dass förmlich die Wände erzitterten: „Ja, so ist es!“
Danach war die Abstimmung und allgemeine Zustimmung zu allem, was er vorgeschlagen hatte, nur noch eine reine Formsache.
Niemand würde je wieder diese Minuten in den Regierungsbunkern unter Neu-Genf vergessen – niemand, der die nächsten Tage und Wochen nach ihrem Willen überhaupt überleben durfte.
Und ein jeder von ihnen würde sie garantiert überleben. Sowieso. Dafür hatten sie soeben selber gesorgt.
Noch am gleichen Tag schon verließen die ersten Raumschiffe mit unbekanntem Ziel die Erde – fluchtartig, wie den Bediensteten in den Towersatelliten durchaus auffiel. Den Towersatelliten wurde allerdings als geschicktes Ablenkungsmanöver über angeblich streng geheime Kanäle ein Stichwort suggeriert, das man wegen der angeblichen Geheimhaltung nur unter vorgehaltener Hand zu benutzen wagte: „Konzil der Sterne!“ Als würden diese Raumschiffe sich auf den Weg machen, um eine besonders wichtige und äußerst geheime Versammlung irgendwo im Weltraum zu besuchen, an einem Ort gar, der noch geheimer war als das „Konzil der Sterne“ selber.
Nein, die eigentliche Versammlung hatte es bereits gegeben und sie blieb geheim für jedermann, außer für die Betroffenen und das waren sowieso nur verhältnismäßig Wenige. Und es war auch kein „Konzil der Sterne“ gewesen, sondern eher ein „Konzil der Fahnenflüchtigen“, egal, wie sehr sie sich auch bemühten, nach den Vorgaben ihres hochverehrten Weltpräsidenten ihr Vorgehen zu beschönigen.
Außer den Wenigen, die an der Versammlung unterhalb von Neu-Genf teilgenommen hatten, wusste zu diesem Zeitpunkt auch keiner von denen, die sich nach ihren Befehlen und ihrem Wohlwollen ebenfalls rechtzeitig in Sicherheit bringen durften, um was es dabei überhaupt ging – bei dieser Flucht.
Darum auch dieses vorgetäuschte „Konzil der Sterne“. Die Fliehenden, die nicht Bescheid wussten, brauchten ja etwas, woran sie glauben wollten. Bis das Ende der Welt vorbei war und ihre obersten Führer zumindest sie vielleicht über die wahren Zusammenhänge aufklärten.
Aber das konnte ja noch ein wenig dauern. Nicht allzu lange, vielleicht ja nur ein paar Tage, aber zumindest sollte dann jeder Auserwählte weit genug weg sein vom Ende der Welt...
Tipor Gaarson, der im Jahr 2052 den einerseits segensreichen und andererseits letztlich tödlichen Gaarson-Effekt erfunden hatte, besaß vierhundert Jahre später, nämlich im Jahr 2452, einen direkten Nachfahren. Dieser führte sogar den selben Namen und ähnelte vom Aussehen her dem damaligen genialen Tipor Gaarson in geradezu verblüffender Weise. Und das völlig ohne jemals chirurgisch nachgeholfen zu haben, denn daran hatte ausgerechnet er nämlich nicht das geringste Interesse. Ja, er hätte sich noch nicht einmal dafür die Haare färben lassen. Doch das war auch überhaupt nicht nötig: Nicht nur, dass er seinem berühmten Vorfahr eben bis aufs Haar ähnelte und sogar dieselbe Lieblingsfarbe mit ihm teilte, ohne dafür lügen zu müssen, er bewegte sich auch genauso, wirkte gleichsam wie ein eineiiger Zwilling seines Vorfahrs. Kein Wunder, dass ihn manch einer für den wiedergeborenen Tipor Gaarson des einundzwanzigsten Jahrhunderts hielt... Allerdings hatte der Tipor Gaarson von heute, im Jahr 2452, also vierhundert Jahre nach der Entdeckung und Einführung des Gaarson-Effektes, völlig andere Interessen. Er war noch nicht einmal Wissenschaftler, sondern „nur“ ein hoher Regierungsbeamter. Allerdings nicht hoch genug, um zu den Privilegierten zu gehören, die rechtzeitig die Erde verlassen hatten. Mit anderen Worten: Er hatte nicht die geringste Ahnung, was wirklich vor sich ging, genauso, wie von den Geflohenen beabsichtigt. Ob er deshalb jedoch wirklich glücklicher sein durfte...?
An diesem Morgen streichelte der Nichtsahnende jedenfalls stirnrunzelnd ein welkes Blatt seines Ghreekho, das er liebevoll Amiko zu nennen pflegte. Es löste sich vom Stängel und fiel zu Boden. Das Geräusch des Aufpralls war leise und doch ließ es den noch halbwegs verschlafenen Tipor Gaarson zusammenzucken.
Er fühlte sich schlagartig hellwach und hob leicht alarmiert den Kopf. Das Ghreekho beherrschte seine Wohnung. Es war überall. Es kroch aus Wandschlitzen, über die Wände, über den Boden, klebte an der Decke und war teilweise sogar in seinem Bett.
Und jetzt sah es so aus, als wollte es... sterben!
Das Ghreekho war sein Hausfreund, sein Talisman, sein Lebenspartner, sein... Tipor Gaarson schüttelte den Kopf. Als ihm zum ersten Mal aufgefallen war, dass es seinem Ghreekho aus unerklärlichen Gründen nicht mehr so gut ging wie vordem, hatte es ihn lediglich irritiert. Man wusste schließlich, wie robust die Ghreekhoj waren, seit man sie irgendwo in den Tiefen des Weltraums entdeckt und auf der Erde kultiviert hatte. Seit über dreihundert Jahren passten sich die Ghreekhoj perfekt an die irdischen Bedingungen an - zumindest innerhalb wohnlicher Wände, in unmittelbarer Wohngemeinschaft mit Menschen. Denn allein schienen die Ghreekhoj auf der Erde nicht überlebensfähig zu sein.
„Bist du allein, Amiko, fehlen Dir die menschlichen Gedanken und du wirst einsam. Du stirbst.“ Tipor Gaarson sagte es und begann halblaut zu fluchen. „Verdammt, aber du bist überhaupt nicht allein. Teile ich nicht sogar mein Bett mit dir? Was willst du mehr, Amiko? Mehr Konversation? Mehr Streicheleinheiten?“
Jetzt lachte er heiser. Es war eine altbekannte Tatsache, dass ein Ghreekho mit seinem Besitzer starb. Zumindest kurz nach ihm. Und wenn ein Ghreekho einer ganzen Familie gehörte, starb es mit der Familie. Es dauerte zu lange, bis ein ausgewachsenes Ghreekho sich an einen neuen Besitzer gewöhnte.
Tipor Gaarson winkte ab. Eine lässig anmutende Geste, wie um sich Mut zu machen.
„So ein Quatsch. Ach, Amiko, wir wissen es doch beide: Es genügt dir schon, dass es mich gibt. Auch wenn ich Wochen von dir getrennt bin, spürst du selbst über große Entfernungen hinweg meine Gedanken. Sie nähren dich. Sie müssen sich nicht speziell mit dir beschäftigen. Sie genügen als eine Art Erkennungsmuster. Das lernt schon jedes Kind in der Schule. Schließlich bist du kein intelligentes Wesen, auch wenn du in der Lage bist, ein Haus zu hüten und bis zu einem gewissen Grad sogar gegen Eindringlinge zu verteidigen.“
Diese Aussage war übertrieben, aber fast jeder Mensch im fünfundzwanzigsten Jahrhundert schien diese Auffassung zu teilen. Man schien dabei zu vergessen, dass die Ghreekhoj eine Symbiose eingingen mit Biocards, den unendlich weit fortgeschrittenen Nachfolgern einstiger Computer, und diese waren es letztlich, die eine Wohnung beschützten, hüteten, pflegten und versorgten.
Tipor Gaarson erging es wie den meisten seiner Zeitgenossen: Er wusste eigentlich sehr wenig über diese Zusammenhänge. Man lernte es irgendwann in frühen Kindheitstagen und ersetzte dieses Wissen danach allmählich mit Alltagsklischees. Und bei denen spielten Biocards keine große Rolle mehr, wenigstens nicht unabhängig von den Ghreekhoj, mit denen sie zumindest in der Vorstellungswelt der Menschen sozusagen zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen. Einzig hochspezialisierte Leute wie zum Beispiel Card-Kreative (wie sich die Programmierer heutzutage nannten) oder zumindest Schiffsleute, die an Bord eines Raumschiffes auf Biocards auf Gedeih und Verderb angewiesen waren, machten sich über diese Tatsache noch Gedanken.
Die Biocards waren die „intelligente Seite“ der Ghreekhoj. Und die Ghreekhoj gingen mit den Menschen auch keine Arbeitssymbiose ein, sondern lediglich eine Gedankensymbiose - gewissermaßen. Obwohl der Mensch als Besitzer eines oder mehrerer Ghreekhoj eigentlich außer seinen Gedanken nichts zu dieser Gemeinschaft beitrug.
„Amiko, was ist los mit dir?“, fragte Tipor Gaarson.
Es klang eine Spur verzweifelt. Wenn man bedachte, dass ein Ghreekho niemals vor seinem Besitzer starb, dann konnte es einen schon bis in die tiefste Seele erschüttern, wenn man plötzlich von welken Blättern umgeben war.
„Ehrlich, Amiko: Wie sieht es mit deinen – äh – gesundheitlichen Funktionen aus?“
Jetzt endlich reagierte das Ghreekho (obwohl in Wirklichkeit eigentlich nur die betreffende Biocard, aber für Tipor Gaarson machte das ja keinen Unterschied): „Meine Funktionen, wie du es nennst, sind prima, Tipor, mein Freund, oder hast du was auszusetzen?“
Tipor Gaarson lächelte flüchtig. Es war seine Idee gewesen, das Sprachprogramm mit lässigen Formulierungen füttern zu lassen. Das machte ihm alles freundlicher, denn er konnte mit seiner Wohnung und seinem Ghreekho nach Herzenslust über alles und jeden herziehen, wenn ihm danach war. Für Tipor Gaarson ein Idealrezept gegen Frust und Langeweile.
Aber das Lächeln verschwand angesichts der welken Blätter.
Das eine, das zu seinen Füßen auf den Boden gefallen war, wurde von einer beweglichen Luftwurzel aus dem Verkehr gezogen und verschwand im noch relativ satten Grün in der Ecke. Tipor Gaarsons Wissen reichte nicht aus, um sich vorzustellen, was mit dem abgestorbenen Blatt dort geschah.
Dasselbe wie mit jeglichem anderen Schmutz, den mein Ghreekho Amiko für mich beiseite räumt - so ich es mir wünsche!, dachte er zerknirscht. Und dann schaute er wieder in die andere Richtung, dorthin, wo es auffällig viele welke Blätter gab, die sich anscheinend nur noch mit Mühe an ihren Stängeln hielten.
„Ich verlange eine Erklärung!“, schrie er plötzlich und erschrak vor seiner eigenen viel zu lauten und viel zu schrillen Stimme. Er ballte die Hände zu Fäusten.
„Ich verstehe nicht ganz, Tipor, alter Freund...“, sagte die Biocard - und Tipor Gaarson hielt sie für das Ghreekho persönlich.
„Ja, ich meine dich, Amiko, speziell dich: Du stirbst!“
„Aber nicht doch, Tipor, seit wann so theatralisch? Nein, nein, keine Sorge: Das müsste ich schließlich wissen.“
„Aber siehst du es denn nicht selber? Amiko, schau dich doch mal an: Deine Blätter sterben ab!“
Scheinbar unauslöschlich war es da, das zeitgenössische Vorurteil, das alle Biotechnik mit den Ghreekhoj in einen Topf warf. Und im Grunde genommen war es ja auch nicht das Ghreekho gewesen, das dieses welke Blatt „aus eigenem Antrieb“ vom Boden entfernt hatte, sondern es war unter Steuerung einer anderen Biocard geschehen. Diese hatte auch dafür gesorgt, dass das Blatt durch eine kleine Klappe in den zentralen Müllschlucker der Wohnung und von dort in den Müllverwertungskreislauf gelangte.
„Ich finde, du bist heute ein wenig hysterisch. Ärger gehabt? Mit wem? Wieder mit deinem Chef? Es wird Zeit, dass du ihm deine Meinung sagst. Wenn du schon neuerdings sogar sechs Stunden die Woche in die Maloche musst, dann solltest du dir nicht soviel gefallen lassen. Vorher die fünf Stunden waren ja schon schlimm genug gewesen, aber diese Überstunde... Wie hat man das noch begründet? Mit erhöhtem Arbeitsanfall? So etwas Fadenscheiniges. Dabei ist man absichtlich die Antwort auf deine Frage schuldig geblieben: Erhöhter Arbeitsanfall - welcher Art und wodurch?“
Tipor Gaarson begann zu zittern. Ihm brach der kalte Schweiß aus. Er griff sich an die Stirn.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 15.12.2023
ISBN: 978-3-7554-6397-9
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