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Redaktion, Lektorat, Titelbild und Illustration: Thorsten Grewe
Coverhintergrund und „Horror“–Schriftzug. Anistasius
*
Der Rufer verkündete den Anbruch der zwölften Stunde. Mitternacht im alten London. Die heisere Stimme des Mannes hallte an den düsteren Hausfassaden wider. Die Absätze seiner halbhohen Stiefel knallten über das Kopfsteinpflaster, als er weiterging. Um die nächste Ecke verschwand er. Wieder erscholl sein Ruf, um den Menschen die Stunde anzusagen, die in jener Nacht keine Ruhe finden konnten.
Das Licht des Mondes wetteiferte mit den trüben Gasfunzeln, um die engen Sträßchen und Gassen zu erhellen. Es reichte gerade, um die Nebelschwaden zu erkennen, die wie Gespenster durch die dunklen Häuserschluchten schwebten.
Der Ausrufer erhob wieder einmal seine Stimme, aber die Worte blieben ihm im Hals stecken. Von weiter vorn wirbelte eine dicke Nebelwolke auf ihn zu. Es war gespenstisch anzusehen, da es fast schien, als besäße der Nebel eigenes Leben. Der Ausrufer klappte seinen weit offenstehenden Mund wieder zu und runzelte die Stirn. Das Phänomen faszinierte ihn. Näher und näher kam die Nebelwolke, war schließlich nur noch vielleicht fünfzig Yards von ihm entfernt. Hufgetrappel und das Geräusch von eisenbeschlagenen Rädern, die über Pflaster holperten, drangen plötzlich wie durch Watte an die Ohren des Mannes.
Etwas kroch in ihm empor.
Es war Angst.
Seit vielen Jahren wanderte er des Nachts durch die Straßen des alten London. Er hatte sich an das diffuse Licht der Straßenlaternen gewöhnt, das selten nur ein wenig verstärkt wurde durch den Silberschein des Mondes, und dachte sich nichts mehr dabei. Es war das erste Mal, dass er Furcht verspürte. Da war etwas, was auf ihn zukam und das er nicht recht definieren konnte.
Der Nebel wallte. Unvermittelt schälten sich die Köpfe zweier pechschwarzer Rösser aus dem kalten Dunst. Ihre Augen schienen von innen heraus zu glühen, und sie fixierten den alten Ausrufer, der sich zitternd gegen eine graue Hausfassade drückte. Er spürte in sich den Wunsch zur schnellen Flucht, war aber zu keiner Regung fähig.
Das Geräusch von Hufgetrappel wurde immer deutlicher. Die beiden Rösser schoben sich vollends aus der Nebelwolke. Erst da gewahrte der alte Mann, dass die Tiere angeschirrt waren. Eine Deichsel befand sich zwischen ihren schwarz glänzenden Leibern. Die Nüstern blähten sich, stießen hellen Dunst aus. Ihre mächtigen Muskeln spielten. Die Pferde hatten kein Gramm Fett zuviel. Die Muskeln waren stark ausgeprägt und hatten etwas Bedrohliches.
Die Satansrösser zogen einen dunklen Schatten hinter sich her.
Der alte Mann blinzelte verstört. Er brauchte eine Weile, bis er den schwarzen Wagen erkannte. Die Farbe war so dunkel, dass sie das wenige Licht fast völlig absorbierte. Auf dem Kutschbock kauerte eine bucklige Gestalt, deren Gesicht in der Düsterkeit nicht erkennbar war.
Die Kutsche polterte über das holperige Kopfsteinpflaster. Die Rösser schnaubten. Ihre Hufe stampften kraftvoll über den Boden. Fast hatten sie den Ausrufer erreicht.
Der alte Mann konnte keine Sekunde den Blick davon lösen. Er war wie gelähmt. Die Laterne, die er bei sich trug, war seiner Hand entglitten und erloschen. Er merkte es nicht, starrte auf die schwarze Kutsche. Es war ihm, als müsste der Teufel persönlich darin sitzen.
Da wandte die Gestalt auf dem Kutschbock den Kopf. Sie hatte Augen wie Mottenkugeln - so groß, so rund, so glatt, so weiß. Pupillen fehlten gänzlich. Leises Kichern klang auf. Der große Umhang, in den sich der Bucklige gehüllt hatte, verrutschte, ließ einen Teil der Schultern sichtbar werden. Der Krüppel hatte keinen erkennbaren Hals. Der Kopf wirkte wie eine dicke Ausbuchtung zwischen den Schultern. Der Schädel war kahl bis auf vereinzelte Büschel drahtiger Haare. Graue, runzelige Hautlappen bedeckten ihn. Anstelle der Nase befanden sich zwei Atemlöcher, aus denen es leise pfiff. Der Mund war breit, bis zu den Schweinsohren, und die Lippen waren wulstig. Abermals Kichern, das dem Beobachter der gespenstischen Geschehnisse durch und durch ging.
Das unheimliche Gefährt schob sich vorbei und entzog den Kutscher dem Blickfeld des alten Mannes. Er konnte in das nachtschwarze Innere sehen.
Wie ein Schlag traf ihn der Anblick. Im hinteren Drittel des Wagens schienen zwei rotglühende Augen zu schweben, die ihn dämonisch anstarrten.
Im nächsten Augenblick hatte das Wagengespann den Ausrufer passiert und entfernte sich. Nebel stob hinterher und hüllte es ein. Sekunden später war der Spuk vorbei.
Der Ausrufer erwachte wie aus einem Alptraum. Mit irrem Blick sah er sich um.
Alles war so wie immer.
So wie immer?
Nein, etwas Dämonisches lag in der Luft, und der alte Mann ahnte, dass sich in dieser Nacht noch etwas Entsetzliches ereignen würde.
Er nahm seine Laterne auf und entzündete sie neu. Steifbeinig ging er weiter. Er brauchte fünf Minuten, bis er das Erlebte soweit überwunden hatte, dass er wieder seinen Spruch heruntersagen konnte:
„Hört ihr Leute, lasst euch sagen, dass die Uhr hat zwölf geschlagen!“
Die eigene Stimme beruhigte ihn, und er merkte gar nicht, dass es inzwischen längst weit nach zwölf war.
*
Till Brennan fuhr mit einem leisen Schrei in seinem Bett auf. Verständnislos sah er sich um. Er erwartete dunkle Hausfassaden zu sehen und den nächtlichen Ruf des Stadtwächters zu hören. Stattdessen fiel sein Blick auf die große Reproduktion eines Dali-Gemäldes, das an der Wand hing. Es war das erste Mal, dass bei dem Anblick des surrealistischen Bildes ein kalter Schauer über Till Brennans Rücken rieselte.
Sein Blick glitt weiter. Links von seinem Bett war die Ecke mit dem weißen Schleiflackschreibtisch und dem Bücherbord darüber. Das Blatt, das in die Schreibmaschine eingespannt war, hatte in den letzten vierzehn Tagen eine leicht gelbliche Färbung angenommen. Neben dem Schreibtisch war das hohe, schmale Fenster. Das Rollo war ganz heruntergezogen, aber es wies einige Löcher auf, die genug Tageslicht hereinließen. In der Ecke neben dem Fenster lag ein umgestürzter Polsterstuhl. Kleidungsstücke lagen am Boden verstreut. Die sich anschließende Wand war, abgesehen von dem surrealistischen Bild, leer.
Till Brennan warf die Decke beiseite und setzte sich auf den Bettrand. Er schüttelte sich. Es war kühl, und seine Sachen waren total durchgeschwitzt. Er sah an sich herab. Seine Füße steckten in Wollsocken, und er hatte ein schmutziges, aufgeknöpftes Oberhemd an.
Till Brennan barg den Kopf in den Händen. Nun wusste er, warum es in seinem Schädel summte wie in einem Bienenhaus. Er hatte wahrscheinlich wieder die halbe Nacht gezecht.
Seine Rechte fuhr durch die wirren schwarzen Haare, und er verzog das Gesicht dabei. Die Haarwurzeln schmerzten.
Stöhnend erhob sich Brennan und wankte zur Tür. Sie war nur angelehnt. Er gelangte in einen winzigen Flur. Links war ein Fenster, geradeaus ging es zur Toilette. Daneben war die Tür zur Miniaturküche. Rechts befand sich der Eingang. Auch diese Tür war nur angelehnt.
Till Brennan schüttelte den Kopf über seinen bodenlosen Leichtsinn und drückte die Tür ins Schloss. Dann wankte er in die Küche und drehte den Wasserhahn auf. Das Wasser war eiskalt, aber es tat gut, es über den schmerzenden Schädel laufen zu lassen. Danach schaute er in den Rasierspiegel, der da hing, obwohl er eigentlich in der Küche nichts zu suchen hatte und ins Bad gehörte: Das verzerrte Bild seines Gesichtes glotzte ihn an. Durch die Verzerrung wirkte es monströs. Gott, was ist aus mir geworden?, fragte er sich unwillkürlich, weil er trotz der Zerrbilder – oder gerade deswegen? – die Entgleisung seiner Gesichtszüge überdeutlich erkannte. So alt war er doch noch gar nicht, oder?
Nach und nach kamen die Erinnerungen zurück.
Wieder einmal hatte Till Brennan versucht, seine beschissene Lage und die daraus resultierenden Depressionen in Alkohol zu ertränken. Er war von Beruf Werbefachmann, aber seine ewigen Weibergeschichten hatten ihm vor einem Monat seinen Job gekostet. Er hatte den Fehler gemacht, die alternde Ehefrau seines jetzt ehemaligen Bosses in den zweiten Frühling zu begleiten. Das war ins Auge gegangen. Hinzu kam noch die Tatsache, dass Till Brennans Qualitäten als Werbefachmann eigentlich recht bescheiden waren, was vielleicht in erster Linie an seinem ungeheuer ausgeprägten Hang zum Nichtstun lag. Jedenfalls war es nicht gerade so, dass sich die Werbebüros um seine geschätzte Mitarbeit rissen.
Eigentlich hatte Brennan ja das Unangenehme mit dem Nützlichen verbinden wollen. Wie fast jeder amerikanische Werbefachmann hatte er schon als kleines Kind davon geträumt, eines Tages mal ein Buch zu schreiben. Jetzt, da er jede Menge Zeit hatte, war endlich Gelegenheit dazu. Er hatte sich an die Schreibmaschine gesetzt und begonnen. Einen Computer zum Schreiben konnte er sich derzeit nicht leisten. Nachdem allerdings der Papierkorb mit zerknüllten Blättern übergequollen war, hatte er es vor vierzehn Tagen doch wieder aufgegeben. Ganze neun Worte hatte er produziert. Sie standen auf dem vergilbten Blatt, das noch in der Schreibmaschine steckte, und setzten sich zusammen aus dem Titel „Schattenseite des Lebens“ und dem Untertitel „Von einem, der es wissen muss“.
Die letzten beiden Wochen waren nicht mehr so deutlich in Brennans Bewusstsein. Der tägliche Alkoholkonsum schien sein Gehirn in einen spröden Schwamm verwandelt zu haben, der nicht mehr viel aufnehmen konnte.
Er drehte den Wasserhahn zu und griff nach dem Handtuch. Mit verzerrtem Gesicht rubbelte er seinen Kopf trocken. Dann schaute er wieder in den Spiegel, der über dem Spülbecken hing. Aber diesmal drehte er ihn erst herum. Das war die normale Seite: Die Wangen waren hohl. Dunkle Ringe lagen unter den Augen. Sein vordem gepflegtes glattrasiertes Gesicht war nur noch ein Trümmerfeld.
Till Brennan ballte die Hände zu Fäusten. Wut packte ihn. Er hasste sich, weil es ihm nicht gelang, die eigene Trägheit und Bequemlichkeit zu überwinden.
Müde schlurfte er ins Schlafzimmer zurück und nahm seine Hose vom Boden auf. Seine tastenden Hände fanden die Geldbörse. Ihr Inhalt war deprimierend: Zwei Cent. Brennan warf alles wütend in eine Ecke.
Der gegenwärtige Zustand musste sich ändern. Er durfte keinen Tropfen Alkohol mehr trinken, wollte er nicht in der Gosse enden. Dass er kein Geld mehr hatte, konnte ihm dabei nur behilflich sein.
Er trat zu dem hohen Fenster und ließ das Rollo hochschnellen. Die Sonne über der Skyline New Yorks blendete ihn, obwohl ihr Licht durch die derzeit permanent gegenwärtige Smogglocke stark gedämpft wurde. Na, da kam es ihm nicht mehr so schlimm vor, dass man die Twin-Towers nicht mehr sehen konnte: Bei dem Smog wären sie sowieso unsichtbar geblieben.
Es dauerte Sekunden, bis sich seine Augen an das schmerzende Licht gewöhnt hatten.
Seine kleine Wohnung befand sich im zehnten Stock eines baufällig erscheinenden Gebäudes. Tief unter ihm war ein stinkender Hinterhof, in dem kreischende Kinder spielten. Der Lärm drang nur gedämpft zu Till Brennan herauf. Er schob das Fenster hoch und lehnte sich hinaus. Erst in diesem Moment wurde ihm bewusst, dass die Luft im Innern seines Schlafzimmers zum Schneiden gewesen war. Die staub- und abgasgeschwängerte Atmosphäre New Yorks erschien dagegen frisch wie eine Meeresbrise.
Brennans Blick schweifte über die Nachbargebäude, ohne sie richtig wahrzunehmen. Er hasste diese Stadt, hatte aber nicht den Mumm, sie zu verlassen.
Die Gegend war nicht die feinste von New York. Nicht einmal den Sprung von hier schaffte Till Brennan.
„Du bist eine verkorkste Existenz!“, murmelte er vor sich hin. Es war nicht das erste Mal, dass er sich selbst anklagte. Für gewöhnlich folgte einer solchen Anklage eine Stunde der Selbstbemitleidung, während der er jedem für seinen gegenwärtigen Zustand die Schuld gab, außer sich selbst.
Diesmal war es anders.
Schwer ließ sich Till Brennan auf sein Bett nieder und barg sein Gesicht in den Händen. Der Traum kehrte in sein Bewusstsein zurück. In den letzten Minuten hatte er ihn verdrängt.
War es wirklich nur ein Traum gewesen? Alles war so erschreckend real erschienen. Er sah deutlich vor sich das nächtliche London. Welches Jahr schrieb man? Er hatte keine Ahnung. Da war der Ausrufer. Mitternacht. Die Satansrösser und die pechschwarze Kutsche. Gespenstisch, wie in einem Alptraum. Vergeblich zermarterte sich Till Brennan den Kopf.
Was hatte es mit diesem Traum auf sich?
War es eine Vision gewesen?
Er machte eine wegwerfende Handbewegung. Nein, er glaubte nicht an solchen okkulten Mummenschanz. Wahrscheinlich war ihm nur die alkoholgetrübte Phantasie durchgegangen.
Die Türglocke schlug an. Till Brennan zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Er sah auf die Uhr. Es war kurz vor Mittag.
Besuch?
Stirnrunzelnd erhob er sich. Er zögerte, zur Tür zu gehen, aber die Neugierde in ihm siegte.
Ist es vielleicht die Frau meines ehemaligen Chefs? Nun, das wäre gar nicht mal so schlecht. Sie könnte mir ein wenig unter die Arme greifen.
Nein, sie konnte es nicht sein. Sie wusste nicht, wo er wohnte. Außerdem würde ihr Mann auf der Hut sein.
Aber vielleicht war es eine seiner anderen Liebschaften?
Auch diesen Gedanken verwarf Till wieder. Im Moment hatte er mit keiner Kontakt. Er hatte sich in den letzten vier Wochen ganz in sein Schneckenhaus zurückgezogen.
Till Brennan überquerte den Flur. Seine Hand tastete nach dem Knauf der Eingangstür.
Bestimmt stand der Vermieter draußen, um ihn nach der längst fälligen Miete zu fragen. In diesem Falle wäre es wohl besser, wenn Till sich gar nicht muckste.
Bevor dieser Gedanke sich in seinem Kopf festsetzen konnte, hatte Till Brennan auch schon geöffnet.
Vor ihm stand weder der Vermieter noch eine seiner Liebschaften. Es war ein junger Mann in Uniform.
Till Brennan brauchte eine Weile, bis er in dem Burschen einen Telegrammboten erkannte. Mechanisch nahm er das Telegramm entgegen. Der Uniformierte hielt die Hand auf. Wahrscheinlich, um das Trinkgeld in Empfang zu nehmen, aber Brennan ignorierte es und wollte die Tür schließen.
Aber er hatte sozusagen die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der junge Mann stellte seinen Fuß dazwischen und stieß die Tür wieder auf. Im nächsten Augenblick war Brennan sein Telegramm wieder los.
„Sind Sie auch wirklich Till Brennan?“ erkundigte sich der Junge misstrauisch.
„Wer sonst?“ entgegnete Brennan barsch und fischte nach dem Umschlag.
Der Junge trat einen Schritt zurück. „Sie müssen mein Misstrauen entschuldigen, aber Telegramme dürfen dem Empfänger nur persönlich überreicht werden.“
Es war klar, dass er Brennan schikanieren wollte, weil er wegen des ständig defekten Fahrstuhls zehn Stockwerke zu Fuß hatte zurücklegen müssen und dafür nicht mal ein schäbiges Trinkgeld erhalten sollte.
Till Brennan platzte der Kragen.
„Wenn du dir eine anständige Tracht Prügel einhandeln willst, mein Freund, dann bist du bei mir an der richtigen Adresse!“, zischelte er.
Der Postangestellte betrachtete ihn von oben bis unten. Obwohl Brennans hochgewachsene Gestalt zur Zeit einen etwas geknickten Eindruck machte, war sein selbstbewusstes Auftreten anscheinend überzeugend genug, um dem Boten zu suggerieren, dass er hier den Kürzeren ziehen würde. Er kam schleunigst seiner Aufgabe nach und verließ fluchtartig die Szene.
Till Brennan brummelte etwas in den Stoppelbart und drückte die Tür hinter sich zu. Er setzte sich an den speckigen Küchentisch, brach das Kuvert auf und fragte sich verzweifelt, wer wohl ausgerechnet ihm ein Telegramm schickte: Sowieso eher ungewöhnlich in der heutigen Zeit der beinahe perfekten Kommunikationsmöglichkeiten. Aber wenn man sich wie Till weder Telefon noch Handy - geschweige denn einen ausgewachsenen PC mit Internetanschluss - leisten konnte ...
Als er schließlich den Text gelesen hatte, sprang er ruckartig auf die Beine. Die geklebten Wörter tanzten vor seinen Augen auf und ab. Eine Nachricht aus London. Aus London?
Eigenartiger Zufall, da er ausgerechnet diesmal davon geträumt hatte. Aber das Telegramm war aus dem London der Neuzeit. Wieder überflog er den Text:
ONKEL PLUMB GESTORBEN - STOP - KOMME SOFORT HIERHER - STOP - SÄMTLICHE VERWANDTE MÜSSEN KOMMEN - STOP - TESTAMENTSERÖFFNUNG IN DREI TAGEN - STOP - DA DU KEIN GELD HAST, WIE IMMER, FOLGT FLUGTICKET PER POST.
Das war alles.
Onkel Plumb? Till Brennan zermarterte sich das Gehirn. Er konnte sich nicht recht konzentrieren. Immer wieder musste er daran denken, dass es eine Testamentseröffnung geben und er anwesend sein sollte. Das konnte nur bedeuten, dass er etwas erbte.
„Verdammt!“ entfuhr es Till, und er musste sich wieder setzen. „Alle Verwandten müssen anwesend sein. Wie viel bleibt da eigentlich noch für mich übrig? Nun, kommt ganz darauf an, wie viel Onkel Plumb hinterlassen hat ...“
Da fiel ihm wieder ein, wer jener mysteriöse Onkel gewesen war. Brennans Vorfahren waren vor etwa zweihundert Jahren aus London in die Staaten gekommen. Es wurde gemunkelt, die beiden Vorfahren - ein gewisser Poul Brennan mit seiner Frau Eliza - hätten fluchtartig England verlassen.
Eine seltsame Geschichte rankte sich um die damaligen Geschehnisse. Till Brennan hatte sie nicht mehr im Gedächtnis. Als realistisch denkender Mensch - wie er sich selbst einschätzte - hatte er für Familienmärchen keinen Sinn.
Ihm schwindelte. Er dachte an seinen Traum, an das alte London. Was war vor zweihundert Jahren gewesen?
Plötzlich hatte er Angst, ohne sich diese so recht erklären zu können. Irgendeine innere Stimme warnte ihn davor, nach London zu fliegen. Aber er ignorierte die Warnungen. Immer wieder kehrten seine Gedanken zu der Tatsache zurück, dass er von Onkel Plumb als Erbe bedacht worden war.
Till Brennan erinnerte sich wieder an den Vornamen des Verstorbenen. Sein Vater war zu Lebzeiten einmal in England gewesen - geschäftlich - und hatte Kontakt mit den Verwandten gesucht. Irgendwie war dies sehr enttäuschend für ihn verlaufen. Auf jeden Fall hatte er oft davon erzählt und auch einige Namen genannt. Natürlich war Ron Plumb nicht wirklich ein direkter Onkel von Till Brennan, aber er war innerhalb von Brennans Familie immer so genannt worden.
Es tauchte die Frage auf, wer wohl das Telegramm abgeschickt hatte.
Till Brennan überlegte. Seine Eltern waren vor fast zehn Jahren durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Kurze Zeit war er bei seiner Tante gewesen. Constance Backing, eine Schwester seines Vaters, war eine düstere Frau gewesen. Till Brennan hatte sich bei ihr nicht wohlgefühlt.
Richtig, plötzlich wusste er, von wem nur das Telegramm stammen konnte: von seiner Kusine.
Er erinnerte sich deutlich an Kathryn Backing. Sie musste etwa in Tills Alter sein. Zumindest war der Unterschied nicht so groß. Till Brennan hatte einige derbe Späße mit ihr angestellt. Das etwas mitleidige Lächeln in dem blassen Gesicht, mit dem Kathryn seine Untaten immer quittierte, hatte ihn stets zur Weißglut gebracht. Eines Tages war Besuch aus London gekommen. Es waren mehrere Personen gewesen. Till hatte sie aber nie kennen gelernt. Aus unerklärlichen Gründen hatte ihn seine Tante eingeschlossen. Der Besuch war nur etwa zwei Stunden geblieben. Eine Woche später war Constance Backing gestorben - unter mysteriösen Umständen, wie es inoffiziell hieß. In den letzten Tagen ihres Lebens war sie zusehends verfallen.
Zur Beerdigung waren wieder Besucher aus London eingetroffen. Diesmal hatte sie niemand Till Brennan vorenthalten. Nebulös konnte er sich an die Gesichter erinnern. Die Namen waren ihm irgendwie entfallen. Aber er machte sich weiter keine Gedanken mehr über sie. Auf jeden Fall hatten sie Kathryn Backing mit sich nach England genommen und ihn allein zurückgelassen.
Er hatte noch studiert. Unverblümt hatten ihm die lieben Verwandten aus London gesagt, dass er nicht mit ihrer Hilfe rechnen konnte. Jeder Cent für ihn wäre wohl ohnehin reinste Verschwendung, da er gar nicht das Zeug hätte, sein Studium der Anglistik abzuschließen. Aber immerhin habe er ja seinen Hochschulabschluss, mit dem er sich jederzeit einen Job suchen könnte. Damit hatte man sich verabschiedet.
Noch immer wallte in Till Brennan heißer Zorn auf, wenn er daran dachte. Er hasste die ganze Verwandtschaft. Hier, in New York, hatte er niemanden mehr. Es war das erste Mal gewesen, dass er versackt war. Nur mühsam hatte er sich aus dem Sumpf befreit. Sein ehemaliger Chef, der großes Mitleid mit ihm gehabt hatte, war ihm dabei behilflich gewesen. Till Brennan war nichts anderes übriggeblieben, als die Hilfe anzunehmen, zumal er rechtlich an seine Verwandten überhaupt keine Ansprüche stellen konnte.
Ausgerechnet jetzt, wo Brennan wieder bis zum Hals in der Tinte saß, weil er seinen Mäzen hintergangen hatte, der ihn daraufhin wie eine heiße Kartoffel fallen gelassen hatte, musste dieser ominöse Onkel Plumb sterben und ihn als Erben benennen.
Till Brennan wusste nicht, ob das Glück oder Unglück war. Aber er war ein Mensch, der stets den leichteren Weg ging, wenn es eine Alternative gab. Deshalb ignorierte er auch weiterhin fleißig die innere Stimme, die ihn warnte, nach London zu fliegen.
Das Warten wurde fast unerträglich für ihn, und er saß wie auf glühenden Kohlen. Aber an diesem Tag brachte ihm die Post noch nicht das begehrte Ticket für den Englandflug.
Diese Tatsache war nicht der einzige Grund, weshalb die kommende Nacht für Till Brennan besonders unruhig wurde.
*
Der Zweispänner fuhr nicht mehr weit. Minuten später hatte er sein Ziel erreicht. Der einzige Insasse starrte mit brennenden Augen zu dem herrschaftlichen Gebäude hinüber. Das Straßenbild hatte sich etwas gewandelt. Die vormals enge Fahrbahn hatte sich erweitert. Das eine Gebäude stand etwas zurückgesetzt und schloss nicht an die Nachbarhäuser an. Rechts und links gab es breite Einfahrten, die mit glasierten Steinen gepflastert waren. Unzählige Pferdehufe und eisenbeschlagene Räder hatten die Glasur im Laufe der Jahre zerkratzt. Das Haus bestand aus roten Ziegelsteinen, eine Seltenheit zu jener Zeit. Die schmalen, hohen Fenster lagen hinter schmiedeeisernen, kunstvoll verzierten Gittern. Die beiden Eisentore, die rechts und links die Einfahrten vor dem Zutritt Unbefugter schützten, fügten sich harmonisch in das Gesamtbild.
Der Fremde in der Kutsche betrachtete alles gleichgültig. Ihm imponierte das Anwesen nicht.
Noch zögerte er mit dem Aussteigen. Irgendein unbestimmbares Gefühl hinderte ihn daran.
Der Bucklige kletterte vom Kutschbock, wagte aber nicht, die Tür zu öffnen. „Wollt Ihr aussteigen, Herr?“, fragte er unterwürfig.
„Ins Dunkel mit dir!“, herrschte ihn der Fremde an. „Soll dein Anblick die Leute erschrecken?“
„Nein, Sir, ich krieche unter die Kutsche.“
Die Rappen schnaubten und scharrten mit den Vorderhufen. Die Tiere waren aus irgendeinem Grund nervös. Der Fremde horchte auf.
Spürten die dämonischen Rösser dasselbe wie er?
„Warte, Sanus!“, rief er gedämpft.
„Herr?“, kam es von draußen.
„Irgendetwas stimmt hier nicht. Sieh nach dem Rechten!“
„Jawohl, Sir, obwohl ...“
„Obwohl was?“
„Herr, mit Verlaub, aber niemand weiß von Ihrem Kommen außer ...“
„Schweig! Nenne keine Namen!“
Die Nervosität des Fremden wuchs. Er war sich seiner ungeheuren Macht bewusst, wollte aber kein unnötiges Risiko eingehen.
Seine glühenden Augen richteten sich auf das Haus. Alles war dort ruhig.
Erweckte das etwa sein Misstrauen?
Nein, da bewegte sich etwas. Ein dichter Vorhang, der es verhinderte, dass Licht auf die Straße fiel, war von einer kleinen bleichen Hand für eine Sekunde beiseite geschoben worden.
Zufall? Erwarteten sie ihn wirklich nicht?
„Komm herein, Sanus!“, befahl der Fremde.
Der Bucklige öffnete die halbhohe Tür. Er kam förmlich hereingekrochen. Man sah ihm an, welch große Furcht er vor seinem Herrn hatte. Er zitterte wie im kältesten Winter. Wenn sein Herr nervös war, musste er mit allem rechnen.
Der Fremde stieß den Buckligen mit dem Fuß an. Es war ein derber Tritt, der den gedrungenen Körper gegen die Sitzbank schleuderte. Unterdrücktes Stöhnen.
„Setz dich auf, Sanus, damit ich dich sehen kann, wenn ich mit dir rede!“
Sanus, der Krüppel, gehorchte. Keuchend zog er sich an der gepolsterten Sitzbank hoch und kauerte sich in eine Ecke. Seine pupillenlosen Augen rollten.
Der Fremde verzog angewidert das scharfgeschnittene Gesicht. In seinen dämonischen Augen loderte es. Die Lippen glichen schmalen, blutleeren Strichen. Die Haut wirkte wie straffgespanntes weißes Papier. Augenbrauen besaß er nicht. Ein Zoll über den tief in ihren Höhlen liegenden Augen begannen die Haare in einer Spitze, die auf die Nasenwurzel zeigte. Die dünnen, schwarz glänzenden, glatt zurückgekämmten Haare umschlossen den runden, wie ein mit der Spitze nach unten gekehrter Tropfen erscheinenden Schädel wie eine enge Kappe. Die kleinen Ohrläppchen, die an die flachen Muscheln von Austern erinnerten, waren vollkommen angewachsen. Der Hals des Mannes lag hinter dem hohen Kragen des oben zugeknöpften schwarzen Umhangs verborgen. Auch der unter dem Umhang erkennbare Anzug war ganz in Schwarz gehalten. Die feingliedrigen, langen Hände, die aus den engen Ärmeln lugten, hatten ein wächsernes Aussehen.
Die schmalen Nasenflügel des unheimlichen Mannes blähten sich, als er abfällig sagte:
„Du bist ein Brechmittel, Sanus. Vielleicht hätte ich dich doch besser töten und den Schlangen zum Fraß vorwerfen sollen.“
Der Bucklige richtete sich steil auf. Die Augen, die an weiße Mottenkugeln erinnerten, hörten auf zu rollen.
Der Mann ließ ein verächtliches Lachen hören.
„Nur keine falsche Freude, Sanus, ich werde dich am Leben lassen. Stets sollst du an meiner Seite bleiben. Meine Gegenwart und dein Zustand sollen dich stets daran erinnern, wie unterlegen du mir bist.“
Der Unheimliche warf wieder einen Blick zu dem Anwesen hinüber. Die schwarzen Rösser stampften wild mit den Hufen.
„Still!“, zischelte der Unheimliche leise. Die Pferde schienen es gehört zu haben. Sie erstarrten augenblicklich wie zur Salzsäule. Das ganze Wagengespann verschmolz mit den Schatten der Nacht, zumal eine nahe Laterne erlosch, als wäre sie von einem unsichtbaren Geist ausgeblasen worden.
„Ich konnte mich bisher immer auf meine Sinne verlassen“, sagte der unheimliche Fremde. „Das warnende Gefühl ist nur ganz schwach vorhanden, aber es reicht, mein Misstrauen zu wecken. Sanus, erzähle mir alles noch einmal!“
Der Bucklige wand sich unter dem stechenden Blick seines Herrn. „Sie - Sie haben seit Wochen Kontakt zu Antal Plumb“, begann er stockend. „Mehrmals suchten Sie ihn auf und ...“
„Das weiß ich selbst!“ fuhr der Fremde dazwischen. „Das will ich nicht von dir hören.“
Ein eigenartiges Quaken kam aus dem breiten Mund des Verunstalteten. Es zeugte von ungeheurer Furcht.
„Da Antal Plumb nicht mehr wie verabredet zu Ihnen kam, suchte ich ihn in Ihrem Auftrag auf. Es war soweit. Er lag schwerkrank im Bett und wünschte Sie zu sprechen. Das war letzte Nacht. Wie er sagte, hatte er nur noch einen Tag zu leben. Ich - ich glaube, wir müssen uns beeilen, wollen wir nicht zu spät kommen.“
„Überlass das ruhig mir! Weiter! Hat dich einer aus der Familie gesehen?“
„N-nein“, kam die zögernde Antwort. „Mein Besuch verlief unbemerkt. Niemand kann außer Plumb wissen, dass Sie heute nacht kommen.“
„Das mag stimmen“, sagte der Unheimliche grübelnd. „Ich bin trotzdem nicht ganz sicher. Nun, auch wenn man von meinem Kommen weiß - was kann man gegen mich unternehmen?“
Seine Augen fixierten den Buckligen, der in sich zusammenkroch.
„Sanus, jetzt weiß ich, von wem mir Gefahr droht.“ Er lachte schaurig. „Sanus, du treibst ein falsches Spiel.“ Wieder lachte er. Das Gelächter drang in jeden Winkel der Kutsche und erfüllte den Buckligen mit Grauen. „Also gut, ich nehme die Herausforderung an. Erst aber werde ich dich bestrafen.“
„N-nein, Herr!“, ächzte der Verunstaltete. „Nein, Sie irren sich, es droht keine Gefahr!“
„Ich irre mich nie!“
Aus den glühenden Augen des Unheimlichen löste sich ein bleiches Licht, das sich zeitlupenhaft ausbreitete und auf den Buckligen zustrebte. Der Krüppel versuchte, durch die Tür zu entfliehen, aber eine unsichtbare Macht hielt ihn auf. Dann erfüllte das geisterhafte Leuchten die Kutsche. Es schien sich förmlich in den verunstalteten Körper des Buckligen hineinzufressen. Er gab schreckliche Laute von sich - Laute, die nicht bis nach draußen drangen, weil das eine unsichtbare, magische Mauer verhinderte.
Wispernde Stimmen klangen auf. Das Innere der Kutsche schien sich zu blähen, immer größer zu werden. Die vier Wände verschwanden in unerreichbarer Ferne. Das Geisterlicht reichte nur wenige Yards weit. Jenseits der Lichtgrenze bewegten sich düstere Schatten, machten seltsame Verrenkungen.
Wieder schrie der Bucklige. Blindlings rannte er los, erreichte die Lichtschwelle, überschritt sie. Die schauerlichen Schreie des Unglücklichen hatten nichts Menschliches mehr. Die diffusen Schatten stürzten sich wie Habichte auf ihn.
„Bleib bis zu meiner Rückkehr!“, erscholl es furchterregend aus dem schmallippigen, blutleeren Mund des Magiers. „Hier kannst du mir nicht schaden. Erleide die Qualen der Hölle, bis ich dich wieder brauche!“
Plötzlich waren die Kutschenwände
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 21.08.2023
ISBN: 978-3-7554-5056-6
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Wilfried A. Hary, der bekannte Phantastik–Autor und Erfinder der Kultfigur „Teufelsjäger Mark Tate“, präsentiert mit dem grauenhaften Schicksal Till Brennans einen spannenden Grusel–Thriller in der Tradition klassischer Geister–Krimis.