Cover

STAR GATE – das Original:

 

Die 17.

Kompilation

 

Wilfried A. Hary (Hrsg.)

 

Impressum:


Urheberrechte am Grundkonzept zu Beginn der Serie STAR GATE - das Original: Uwe Anton, Werner K. Giesa, Wilfried A. Hary, Frank Rehfeld.

Copyright Realisierung und Folgekonzept aller Erscheinungsformen (einschließlich eBook, Print und Hörbuch) by www.hary-production.de.

ISSN 1860-1855


Diese Fassung basiert auf den Romanen

der laufenden Serie!


© 2019 by HARY-PRODUCTION

Canadastr. 30 * D-66482 Zweibrücken

Telefon: 06332-481150

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eMail: wah@HaryPro.de

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck und

Vervielfältigung jedweder Art nur mit schriftlicher Genehmigung von Hary-Production.


Lektorat: Werner Schubert


Logo: Gerhard Börnsen

Coverhintergrund: Anistasius


Achtung: „STAR GATE - das Original“ ist eine eigenständige Serie, die nachweislich Jahre vor Serien ähnlichen Namens begann, wie sie im Fernsehen laufen oder liefen oder im Kino zu sehen sind oder waren! Daher der Zusatz „das Original“!


Vorwort


Die Serie STAR GATE – das Original existiert nun schon seit 1986(!). Einige Autoren sind daran beteiligt. Viele Leser schätzten das frühere Heftformat und genießen das Taschenbuchformat, in dem die Serie inzwischen erscheint, aber es gibt nicht wenige Leser, die immer wieder auch nach einem umfangreichen Buchformat verlangen, vergleichbar etwa mit den Silberbänden der Perry-Rhodan-Serie.

Für diese haben wir nun die nächste Kompilation geschaffen, basierend auf den folgenden Bänden der laufenden Serie:


161/162 »Rotnems Alleingang« Wilfried A. Hary/W. K. Giesa

163/164 »Zeitsprung« Miguel de Torres/W. K. Giesa

165/166 »Verschollen im Nichts« W. K. Giesa/W. A. Hary

167/168 »Die neue Macht« W. K. Giesa/W. A. Travers

169/170 »Jenseits der Welten« W. K. Giesa/W. A. Hary


Viel Freude beim Lesen dieser immerhin wieder ganze 10(!) Bände umfassenden Kompilation!


Euer Wilfried A. Hary (Hrsg.)


STAR GATE – das Original 161-162:

 

Rotnems Alleingang

Wilfried A. Hary und Werner K. Giesa:

Seine gefährlichste Mission – und Randall zwei!“

 

Siehe Band 137 (Spur im Nichts – von Wilfried A. Hary): Als die CHAMÄLEON das Sonnensystem nach getaner Arbeit verlassen will, erscheint die Große Urmutter von San-dir-um dem Randall-Team und eröffnet ihnen, dass sie seit ihrer Anwesenheit in diesem Paralleluniversum eine deutliche Spur hinterlassen - im Raum-Zeit-Kontinuum, das sich von dieser Spur ausgehend mit Lichtgeschwindigkeit verändert. Zwar nur um einen winzigen Betrag, doch immerhin mit der Konsequenz, dass in diesen Bereichen jetzt auch hier, in diesem Paralleluniversum, STAR GATEs möglich werden!

Es ist ihre Aufgabe, die Welten der galaktischen Föderation zu bereisen, um die Verteilung von STAR GATES möglich zu machen. Dabei läuft allerdings nicht alles so glatt wie erhofft…

 

DIE HAUPTPERSONEN:

Das Randall-Team - Ken Randall, Tanya Genada, Janni van Velt, Mario Servantes, Juan de Costa, Dr. Yörg Maister, Dr. Dimitrij Wassilow, Mario Servantes, Rotnem, Max Nergaard.

Cha – das intelligente Biogehirn des Raumschiffs CHAMÄLEON.

Mirafar – zentrale Verwaltungswelt der galaktischen Föderation.

 

1

 

Auf der Zentralwelt der galaktischen Föderation Mirafar lief alles nicht ganz so glatt ab, wie es sich Ken Randall gewünscht hätte. Zwar hatte die Mehrheit der Mitgliedswelten ganz klar für sie und ihre Mission der Befriedung abgestimmt, doch gab es auch mehr oder weniger deutliche Gegenstimmen. Eine hatten sie zum Glück zum Verstummen bringen können, nämlich die lauteste: Die der Grizzae nämlich. Damit war schon sehr viel gewonnnen, aber Ken hatte den Ehrgeiz, auch noch andere Welten, die ihnen gegenüber sich ablehnend verhielten, für sich zu gewinnen. Nicht jeder in seinem Team teilte da seine Meinung zwar, aber die Gegenargumente wogen nicht schwer genug, um ihn vom Gegenteil überzeugen zu können.

Deshalb waren sie wieder hier.

Inzwischen waren weitere Monate vergangen nach ihrer erfolgreichen Mission bei den Grizzae. Sie hatten viele Mitgliedswelten innerhalb der galaktischen Föderation besucht, und jedes Mal hatten sie dabei allein schon mit ihrer Anwesenheit gesorgt, dass dort von diesem Zeitpunkt an STAR GATES möglich wurden. Inzwischen gab es längst ein funktionierendes Netzwerk von STAR GATES, die Mitgliedswelten miteinander und natürlich mit Mirafar verbanden. Aber wieso sperrte sich ausgerechnet eine Welt wie SER-FEN dagegen?

Intern bezeichnete das Team Ser-fen gern als „Planet der Elektroniker“. Nicht ganz zufällig natürlich, denn mindestens neunundneunzig Prozent aller Elektronik bis hin zur künstlichen Intelligenz innerhalb der Föderation stammte von Ser-fen. Zwar waren auf einigen Welten, wie beispielsweise der Gründungswelt Pranumpal, die gelieferten Elektroniken entsprechend für die eigenen Bedürfnisse modifiziert worden, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass eigentlich innerhalb der Föderation schon ziemlich lange nichts mehr ohne Ser-fen lief. Im wahrsten Sinne des Wortes. Und das bezog sich nicht nur auf die Mitgliedswelten selbst, sondern natürlich auch auf deren Raumschiffe.

Ken hatte da so einen vagen Verdacht:

„Kann es sein, dass sie gegen uns sind und somit gegen die Einführung von STAR GATES, weil sie um den Fortbestand der umfangreichen Raumschiffflotten fürchten, wobei sie natürlich an Einfluss verlieren würden?“

Ein Argument, das nicht so einfach zu widerlegen war.

Im Fall von Grizzae hatte Ken Randall den radikalen Vorstoß gewagt, indem er gegen den ausdrücklichen Wunsch dieser Mitgliedsrasse einfach trotzdem dorthin geflogen war. Im Fall von Ser-fen erschien ihm diese Vorgehensweise als zu riskant. Seine Teamkollegen waren ihm dankbar für diese Einsicht. Trotzdem versuchten sie, ihn davon abzubringen, einen erneuten Vorstoß auf Mirafar zu wagen.

Vergeblich: Jetzt war er hier und wollte endlich Nägel mit Köpfen machen, wie er sich ausdrückte. Als Basis für seinen Vorstoß wählte er die Kuppelstadt der Gro-paner, die versprochen hatten, ihn tatkräftig zu unterstützen. Aber auch die Grizzae und Pranumpaler hatten ihre volle Unterstützung zugesagt. Andere Mitgliedwelten hatten zumindest signalisiert, dass sie nicht gegen seinen Vorstoß waren.

Und dann erfolgte die ganz klare Absage von Seiten Ser-fens:

„Wir sind zu der Auffassung gelangt, dass die neue STAR GATE-Technologie weit mehr Risiken als Vorzüge bietet. Leider ist es uns nicht gelungen, die Föderation von dieser Gefahr zu überzeugen. Wir behalten uns jedoch vor, sofort und ohne Warnung, also mit allen Mitteln, alles zu tun, um unsere Souveränität und Neutralität nicht zu verlieren. Das heißt: Jegliche Annäherung an den uns zugewiesenen Raumsektor von Seiten der Besucher aus einem parallelen Universum führt zwangsläufig zu deren vollständigen Vernichtung. Niemand kann uns streitig machen, dass wir uns zur Wehr setzen. Obwohl wir selbstverständlich und nach wie vor neutral bleiben, was jegliche gegenteilige Meinung betrifft. Wir respektieren voll und ganz die Entscheidungen der Mehrheit innerhalb der galaktischen Föderation, ohne diese jedoch für unseren eigenen Raumsektor zuzulassen.“

Ken Randall war ziemlich frustriert, als er danach an Bord der Chamäleon zurückkehrte.

 

*

 

„Ich habe da vielleicht einen Vorschlag!“, meldete sich Rotnem gleich bei seiner Ankunft zu Wort.

Wenig interessiert begegnete Ken seinem Blick.

Rotnem sah dies trotzdem als Aufforderung an, seinen Vorschlag zu unterbreiten. Das gesamte Team war mit anwesend, in der Zentrale der Chamäleon.

„Ich habe mit noch niemandem darüber gesprochen, sondern wollte natürlich erst abwarten, was dein dipolomatischer Vorstoß auf Mirafar bringen wird.“

Ken blinzelte nervös, aber er blieb geduldiger Zuhörer.

„Wie du weißt, bin ich ein Kyborg, und handelt es sich bei Ser-fen nicht um den Planeten der Elektroniker? Ich finde, es wäre für diese ganz besonders interessant, einmal so etwas wie mich sozusagen in Natura zu erleben. Wobei ich überzeugt bin, dass sie gar nicht in der Lage wären, so etwas wie mich selbst zu konstruieren.“

„Worauf willst du eigentlich hinaus?“, erkundigte sich Ken misstrauisch.

„Nun, ich will mich persönlich bemühen, im Alleingang. Nicht im Auftrag von dir oder sonstwem. Auch ohne Ankündigung. Ich will einfach zu denen hin und mich zur Verfügung stellen.“

„Zur Verfügung stellen?“, echote Ken. „Wofür?“

„Sie sollen mich testen. Sie sollen mich beurteilen. Sie sollen selbst erleben, wie überlegen die bei mir verwendete Technik ist. Ich bin überzeugt davon, dass sie alles in den Schatten stellt, was die selbsternannten Überspezialisten von Ser-fen überhaupt jemals für möglich gehalten hätten.“

„Nein!“, sagte Ken Randall lapidar.

„Aber wieso nicht?“, protestierte Rotnem.

Cha, das Bordgehirn, mischte sich ein:

„Ich bitte um Vergebung, wenn ich mich hier einmische, aber es wäre in der Tat zu riskant, Rotnem. Ich habe deine Technik mit der Technik der Uralten verbessert. Diese sollte unser Geheimnis bleiben. Es wäre viel zu gefährlich, sie in die Hände derer von Ser-fen zu geben.“

Rotnem lachte. Es wirkte sehr menschlich.

„Ihr habt mich offensichtlich nicht verstanden. Ich habe keineswegs vor, die Technik, die zum Ergebnis Rotnem geführt hat, in die Hände der Elektroniker zu geben. Ich habe lediglich die Absicht, ihnen vor Augen zu führen, wie überlegen sie ist.“

„Wie soll das denn klappen?“, blieb Ken skeptisch.

Da mischte sich Dr. Yörg Maister ein. Er reckte seinen deutlich gewölbten Bauch noch weiter vor und wippte auf den Zehenspitzen auf und ab, während er die Lippen schürzte und vor sich hin nuschelte, als wären die Worte ausschließlich für ihn selbst bestimmt:

„Wie sollen die Rotnems Technik erforschen können, ohne ihn dabei zu zerstören? Und wenn sie ihn dabei zerstören, werden sie erst recht nichts erfahren.“

„Aber das Risiko!“, rief jetzt Tanya Genada aus. „Rotnem, wir müssen wirklich mit allem rechnen. Ser-fen hat unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass sie mit Gewalt gegen uns vorgehen, wenn wir ihre Souveränität nicht respektieren. Der diplomatische Weg ist gescheitert, und was du vor hast, ist ein klarer Affront.“

Abermals lachte Rotnem.

„Das kann man man auch anders sehen: Es kommt ganz darauf an, wie ich vorzugehen beabsichtige.“

Seine Teamkameraden schauten sich an. Sie versuchten zu ergründen, worauf er eigentlich wirklich hinaus wollte.

Nur Cha durchschaute ihn:

„Ich verstehe – mit Verlaub gesagt. Du machst denen nur etwas vor. Beispielsweise, indem du vorgibst, ein Abtrünniger zu sein?“

Rotnem seufzte ergeben.

„Endlich hat es jemand begriffen. Danke, Cha! Also, um es zu präzisieren: Ich begebe mich freiwillig in die Obhut von Ser-fen. Ich als eine Art Flüchtling. Ich beantrage sozusagen Asyl!“

Er ließ seine Worte erst genügend einwirken, ehe er fortfuhr.

„Natürlich nur ein Trick, aber wie sollten die das durchschauen? Denkt an die alte Geschichte vom trojanischen Pferd. Ja, ich habe mich sehr für die irdische Geschichte interessiert, die gar nicht mal so verschieden ist von der meines Volkes, in das ich hineingeboren war, ehe man mich zum Kyborg gemacht hatte. Ich mache mich denen selbst zum Geschenk.“

„Und dann?“, erkundigte sich Janni van Velt bang. Dabei kaute sie auf ihrem grünen Kaugummi herum, als gelte es, damit eine Meisterschaft zu gewinnen.

„Das wird sich zeigen.“

„Und falls es schief geht?“, meldete sich jetzt Dimitrij Wassilow zu Wort.

„Gibt es immer auch noch mich!“, mischte sich prompt Max Nergaard ein. „Ich kann unsichtbar in der Nähe bleiben, halte dabei telepathisch die Verbindung mit dem Schiff und greife ein, falls es erforderlich werden sollte.“

„Damit wäre dann meine Mission natürlich gescheitert!“, gab jetzt Rotnem zu bedenken.

„Ich greife nur dann ein, wenn sie sowieso als gescheitert angesehen werden kann!“, beruhigte Max ihn. „Und indessen bleibt die Chamäleon auf Sicherheitsabstand. Sie muss ja nicht hier, im Orbit von Mirafar, bleiben, sondern kann durchaus bis fast zum Rand des Raumsektors vorstoßen, den Ser-fen als seine Hoheitszone betrachtet. Die Begründung hierfür wäre dann, dass die Chamäleon selbstverständlich ihren Kyborg wieder zurück haben möchte. So etwas ist immer überzeugend. Cha muss einfach nur eine entsprechende Eingabe bei der diplomatischen Vertretung von Ser-fen hier auf Mirafar machen. Das würde Rotnems Mission zusätzlich unterstützen helfen, weil sie dadurch noch glaubwürdiger wird.“

„Ihr tut ja gerade so, als sei alles bereits beschlossene Sache!“, beschwerte sich Mario Servantes. „Wie wäre es denn damit, alles einfach von vornherein zu unterlassen? Ich sehe keinerlei Grund dafür, solch unnötige Risiken einzugehen. Wir haben immer noch nicht alle wohlwollenden Welten der Föderation abgeklappert. Ganz im Gegenteil: Viel zu viele warten sehnsüchtig auf unser Erscheinen. Und da kümmern wir uns ausgerechent um ein einzelnes verlorenes Schaf aus der Herde?“

„Es ist wie in der Bibel“, sagte Janni. „Der Hirte lässt die komplette Herde im Stich, nur um ein einziges verlorenes Schaf zu finden. Dieses biblische Gleichnis fand ich schon als Kleinkind bescheuert. Und jetzt wollt ihr das Gleiche tun?“

„Nicht wir, sondern in erster Linie nur… ich!“, belehrte Rotnem sie ungerührt.

„Und ich!“, fügte Max hinzu.

Janni ließ sich nicht überzeugen:

„Immerhin zwei wichtige Mitglieder unseres Teams!“

Ken schüttelte heftig den Kopf, als wollte er damit seine Gedanken neu ordnen.

„Tatsache bleibt für mich, dass Ser-fen nicht nur irgendein verlorenes Schaf ist, sondern eine besonders wichtige Mitgliedswelt innerhalb der Föderation. Zumindest die Zentralwelt des Sternenreiches der Ser-fen, wie sich die Bewohner der Zentralwelt selber nennen. Wenn ich richtig informiert bin, sind es mehrere hundert Welten. Es gibt zwischen diesen und den Mitgliedern der Föderation praktisch keine direkten Beziehungen. Alles wird zentral gesteuert über Ser-fen selbst. Von außen erscheint das eher wie eine Diktatur anstelle eines lockeren Planetenbundes.“

„Du willst doch damit nicht etwa andeuten, dass auch Ser-fen vielleicht ein Geheimnis birgt, das sie unter allen Umständen vor uns verbergen möchten?“, wunderte sich Tanya.

Ken zuckte nur die Achseln.

„Wer weiß?“, antwortete er geheimnisvoll. Und dann machte er keinen Hehl mehr daraus, dass er dem Vorschlag Rotnems eher zugetan war:

„Ich hätte das niemals von dir verlangt, Rotnem, aber da du selbst auf diese Idee gekommen bist…“ Er wandte sich auch an Max. „Und du bist dir wirklich sicher, dass du weißt, was du da zu tun gedenkst?“

Max Nergaard grinste breit.

„Nun, bislang habe ich mich nicht verschätzt, kein einziges Mal, sonst würde ich nicht mehr leben.“

Das war zwar kein schlagendes Argument für einige der Teammitglieder, aber es gab jetzt auch wirklich keine nennenswerte Ablehnung mehr gegen den Beschluss:

Rotnem würde in den Einsatz gehen. Selbstständig. Und Max war dabei sicherlich eine Rückversicherung für ihn, falls er versagen sollte. Wobei allerdings Versagen für Rotnem sowieso von vornherein nicht im Geringsten ins Kalkül gezogen wurde.

 

2

 

Von Cha hatte Rotnem das gelernt, was man den „Chamäleon-
Effekt“ nennen konnte. Das hieß, er konnte seine Erscheinung im gewissen vorgegebenen Rahmen beinahe beliebig verändern. Natürlich nur visuell, nicht in der Struktur. Aber letzteres war sowieso nicht nötig. Ganz im Gegenteil: Es musste ja klar ersichtlich bleiben, dass er ein echter Kyborg war, wobei der organische Anteil sich auf den entscheidenden Rest des ursprünglichen Gehirns beschränkte, also eigentlich verschwindend gering war.

Vor den Augen des Teams verwandelte sich Rotnem vom grauhäutigen Prupper zum Ser-fen, mit einer Haut, die wie weißer Marmor wirkte. Die Ser-fen wirkten zwar äußerlich wie Humanoide, doch sie hatten völlig abweichend funktionierende Organe. Vor allem eines unterschied sie recht extrem beispielswiese von Menschen der Erde: Sie atmeten keine sauerstoffhaltige Atmosphäre, sondern… eine Atmosphäre mit hohem Methananteil! In einer solchen Atmosphäre hätte ein Mensch sehr schnell den sicheren Tod gefunden ohne entsprechende Schutzkleidung und Atemgeräte. Rotnem als Kyborg hatte solche Probleme natürlich nicht. Er konnte sich sogar frei im Vakuum des Weltraums bewegen, ohne dabei den geringsten Schaden zu nehmen.

Zusätzlich überspielte ihm Cha alles, was über Ser-fen bekannt war, also alles Offizielle. Es war nicht gerade umfangreich, wie Rotnem dabei feststellen konnte. Am wichtigsten jedoch dabei war das Erlernen der ganz besonderen Sprache der Ser-fen, die aus Lautfolgen bestand, die eine menschliche Zunge niemals hätte formen können.

Das Ganze nahm nur Minuten in Anspruch. Danach ließ sich Rotnem ohne jegliche Abschiedsworte ausschleusen.

Max blieb zurück in der Zentrale. Er benötigte keine Schleuse, um nach draußen zu gelangen, denn er war ein begabter Teleporter. Allerdings blieb er telepathisch in Kontakt mit Rotnem. Darin sah niemand eine Gefahr für Rotnems Mission, denn die Ser-fen waren weit entfernt davon, mit so etwas wie PSI umgehen zu können. Sie galten zwar als technisch-elektronische Genies, aber für so etwas wie PSI waren gewissermaßen andere Völker innerhalb der Föderation zuständig. Laut bestehendem Wissen über die Ser-fen gab es noch nicht einmal elektronische Geräte bei ihnen, die in der Lage gewesen wären, beispielsweise Gedanken zu verstärken. Obwohl solche Geräte innerhalb der Föderation keine Seltenheit waren. Aber sie stammten allesamt eben nicht von Ser-fen und wurden von Ser-fen auch nicht benutzt.

Ganz fundamentale Dinge, deren Richtigkeit zwar nicht hundertprozentig sicher war, aber Rotnem würde bemüht sein, etwaige Abweichungen rechtzeitig zu erkennen. Er konnte ja den telepathischen Kontakt mit Max jederzeit abbrechen, falls es erforderlich werden würde.

Kaum hatte Rotnem das Schiff verlassen und war auf Abstand gegangen, immer noch im Orbit um Mirafar, wurde er angefunkt. Natürlich, die planetare Überwachung hatte ihn als Fremdkörper identifiziert. Mirafar gehörte als Zentralwelt der Föderation mit zu den am besten bewachten Welten des Universums.

Rotnem antwortete sofort in der Sprache der Ser-fen! Und in dieser Sprache bat er dabei um Asyl in der Kuppelstadt der Ser-fen.

Natürlich wurde von der planetaren Überwachung dort nachgefragt.

Die Ser-fen-Vertretung zeigte sich ziemlich überrascht. Anscheinend war es in der Geschichte von Ser-fen noch nie zuvor geschehen, dass jemand bei ihnen Asyl beantragt hatte.

Rotnem wurde nach seiner Herkunft befragt – und er verweigerte die genauen Angaben, um sich selbst damit nicht in Gefahr zu bringen, wie er es begründete.

Die Analyse lief, und die planetaren Überwachungssysteme benötigten nicht lange, um herauszufinden, dass er ein Kyborg war, mit einem verschwindend geringen organischen Anteil. Und dass er aussah wie ein Ser-fen.

Also ein kybernetisches Objekt, das sich selbständig im Weltraum bewegen konnte und nichts über seine Herkunft verriet? Immerhin legten Struktur und Aussehen nah, dieses Objekt mit Ser-fen in Zusammenhang zu bringen. Und genau dies war wohl der Grund, wieso die Vertreter von Ser-fen auf Mirafar dem Asylantrag Rotnems voräufig stattgaben.

Unter der ständigen Beobachtung durch das planetare Überwachungssystem, wobei man natürlich die Vertreter von Ser-fen ständig daran teilhaben ließ, um zu gewährleisten, dass sie mit Rotnem keine böse Überraschung erlebten, verließ Rotnem schließlich den Orbit und senkte sich auf den Planeten hinab. Er kannte den Weg zur Kuppelstadt der Ser-fen und steuerte diese auf direktem Weg an.

Die Steinwüste rund um die Kuppelstadt war tot. Es gab nur eine äußerst dünne Atmosphäre, vergleichbar etwa mit der Atmosphäre des Mars. Überhaupt hatte Mirafar eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Mars, wie Rotnem fand, obwohl er dort noch niemals selbst gewesen war. Er kannte den Mars nur aus den Beschreibungen der anderen Besatzungsmitglieder der Chamäleon.

Vor ihm war die Hauptschleuse, nur wenige Schritte entfernt. Jetzt öffnete sich für ihn das Außenschott, groß genug, um auch einen größeren Gleiter hindurch zu lassen.

Zu Fuß ging er darauf zu. Dabei spürte er, dass ihn Max begleitete, zumindest telepathisch. Er ließ ihn an dem teilhaben, was er sah – und Max wiederum beteiligte die übrige Besatzung über das Bordgehirn Cha. So bangten alle jetzt mit Rotnem, dass es wirklich gelang, ungeschoren in das Innere der Kuppelstadt zu gelangen.

Und was dann?

 

3


Nachdem das Außenschott sich hinter Rotnem geschlossen hatte, erfolgte zunächst der Atmosphärenausgleich. Seine Sensoren analysierten automatisch die Zusammensetzung und verglichen sie mit den Aufzeichnungen: Übereinstimmend.

Erst als der Druckausgleich erfolgt war, öffnete sich auch das Innenschott.

Seine Sensoren sagten ihm, dass er ununterbrochen und lückenlos überwacht wurde. Nicht nur mit optischen Systemen, sonder auch mit technischen Systemen, die genauestens seine Bestandteile analysierten und herauszufinden versuchten, wie sein kypbernetischer Körper funktionierte. Allerdings war er sehr sicher, dass dies nur unzulänglich gelingen würde. Um wirklich herauszufinden, wie sein Körper funktionierte, würden die Ser-fen ihn im wahrsten Sinne des Wortes auseinandernehmen müssen. Dabei jedoch würden sie ihn zerstören. Ob es ihnen dadurch gelingen würde, herauszufinden, wie man so etwas wie ihn nachbauen sollte, war sehr zu bezweifeln. Denn zerstört blieb zerstört. Es wäre gerade so, als wollte jemand einen modernen Monitor analysieren, indem er ihn von einem hohen Turm aus zu Boden fallen ließ, damit er in seine einzelnen Bestandteile zersprang.

Rotnem dachte an den uralten Spruch:

„Die Dinge sind stets mehr als die Summe ihrer Einzelelemente!“

…und musste schmunzeln. Dank seines organischen Gehirns war es nicht nötig, so etwas wie Gefühle bei ihm zu programmieren. Er war mit dieser Fähigkeit einst geboren worden – als Prupper zwar, aber jetzt würde er genauso perfekt auch die Rolle eines echten Ser-fen spielen können. Obwohl er seiner Meinung nach über die Ser-fen eigentlich viel zu wenig wusste. Überhaupt erstaunte es ihn, dass man innerhalb der Föderation so wenig übereinander wusste. Obwohl es dennoch in der Geschichte der galaktischen Föderation noch niemals zu einem echten Ausreißer gekommen war. Das hieß, jedes Mitglied hatte offensichtlich eingesehen, dass es besser war, mit der Gemeinschaft mitzuschwimmen als sich gegen sie zu stellen.

Das war bei den Grizzae so gewesen und ist jetzt auch bei den Ser-fen so!, dachte er, und Max nahm an diesen Gedanken teil, ohne sie jedoch zu kommentieren. Er blieb stummer und vor allem unsichtbarer Beobachter.

Rotnem fragte sich noch, wo sich Max überhaupt inzwischen aufhielt. War er denn noch an Bord der Chamäleon oder hatte er diese bereits verlassen?

Letztlich machte das keinen Unterschied für ihn.

Rotnem blieb kurz in dem langen Gang stehen, der sich vor ihm aufgetan hatte, und schaute sich um, als müsste er sich orientieren. Natürlich war das gar nicht nötig. Seine Ortungssensoren arbeiten auf Hochtouren und hatten längst herausgefunden, dass der Gang perfekt abgeschirmt war. Das hieß, er konnte nur das entdecken, was die Ser-fen zuließen, und das war so herzlich wenig wie überhaupt über die Ser-fen innerhalb der Föderation offiziell bekannt war. Man wusste zwar, dass es sich bei den Ser-fen um perfekte Elektronik-Genies handelte, und hatte allen Grund, den Ser-fen zu vertrauen, weil es noch niemals so etwas wie eine Unregelmäßigkeit gegeben hatte in der Vergangenheit, aber dass sie ein Geheimnis hatten, das es unter allen Umständen vor allen anderen zu verbergen galt, das war nicht nur Rotnem völlig klar. Sicherlich war es auch den anderen Mitgliedern der Föderation längst klar, aber sie kümmerten sich nicht darum, so lange das Verhältnis mit den Ser-fen so perfekt erschien.

Rotnem schritt weiter. Er nahm sich Zeit. Übertriebene Eile hätte sowieso nichts genutzt. Und er hatte nichts dagegen, dass er ständig analysiert wurde. Das Wesentliche blieb dabei ganz automatisch im Verborgenen. Das, was die Ser-fen herausfinden konnten bei ihren Scans, musste sie zu der Überzeugung bringen, dass sein kybernetischer Körper eigentlich gar nicht funktionieren dürfte. Spätestens dann würde ihn aufgehen, dass er eben das Wichtigste zu tarnen verstand. Egal, wie sehr sie sich auch bemühen sollten.

Der Gang war seiner Schätzung nach mindestens hundert Meter lang. Er hätte das auch auf den Millimeter genau ausmessen können, aber dazu hatte er keine Lust. Er hielt stattdessen lieber die Umgebung unter Beobachtung, genauso wie die Umgebung ihn beobachtete. Die Ser-fen selbst hatten sich bis jetzt nicht bei ihm gemeldet, geschweige denn persönlich gezeigt.

Seltsam war, dass keinerlei Tür von diesem langen Gang abführte. Er schien nur dem einen Zweck zu dienen, nämlich Ankömmlinge genaustens unter die Lupe zu nehmen. Wohl war er deshalb so lang, damit man genügend Zeit hatte, um die Analysen als abgeschlossen betrachten zu können, wenn der Neuankömmling das Ende des Ganges erreicht hatte. Und dort erwartete Rotnem ein Hallentor, das groß genug war, um einen ausgewachsenen Lastengleiter hindurch zu lassen, genauso wie die Schleuse, durch die er die Kuppelstadt betreten hatte.

Inzwischen hatte er sich an die immer wieder auftretenden Dunstschleier gewöhnt, die sporadisch auftraten und genauso sporadisch wieder verschwanden. Ein Phänomen, verursacht von der besonderen Zusammensetzung dieser Atmosphäre. Nun, er hatte ja schon vorher gewusst, dass sie für einen normalen Menschen absolut tödlich gewesen wäre. Gewissermaßen das perfekte Giftgas. Es grenzte an ein Wunder, dass es menschenähnliche Wesen gab, die so etwas atmen konnten, ja, für die eine solche Atmosphäre sogar überlebenswichtig war.

Auch das Tor war geschützt. Seine Sensoren konnten es nicht durchdringen.

Rotnem hielt an. Und wartete erst einmal ab, was weiter geschehen würde. Es wunderte ihn schon sehr, dass sich noch niemand bei ihm gemeldet hatte. Als wäre die Kuppelstadt in Wahrheit völlig unbewohnt. Aber das war schlecht möglich, denn wenn es eine der zahlreichen Sitzungen im Zentralrat gab, nahmen immer auch Vertreter der Ser-fen teil. Persönlich wohlgemerkt. Es war kaum anzunehmen, dass sie extra für jede Sitzung direkt von ihrem Heimatplaneten anreisten.

Endlich begann das große Tor, sich zu heben. Ganz traditionell, ohne jeglichen technischen Schickschnack. Dahinter befand sich eine Art Hangar. Allerdings stand er leer. Falls es Gleiter gab, die hier normalerweise geparkt wurden, hatte man sie rechtzeitig beiseite geräumt. Extra seinetwegen?

Ein ziemlicher Aufwand für einen einzigen, armen Asylanten!, dachte er in einem Anflug von Galgenhumor.

Er schritt weiter. Mehrere Türen führten von diesem Hangar ab. Es gab auch große Tore, die anscheinend in weitere Hangars führten. Oder gar auf irgendwelche Straßen innerhalb der Kuppelstadt? Es war leider nicht bekannt, wie die Kuppelstadt der Ser-fen eigentlich im Innern aussah. Es war jedem Volk der galaktischen Föderation selber überlassen, wie es seine jeweils eigene Kuppelstadt gestaltete. Den Zentralrat interessierte das nicht. Genauso wenig, wie man sich anscheinend für Details interessierte, die jeweiligen Völker und Rassen betreffend.

Nun, Rotnem war her gekommen, um zumindest betreffend Ser-fen das zu ändern. Doch hier stand er nun, ohne dass sich jemand um ihn zu kümmern schien. Einmal abgesehen von den ständigen Scanversuchen, mit denen man ihm all seine technischen Geheimnisse entreißen wollte. Verhielt man sich eben deshalb so abwartend, weil man erst einmal mit dem Ergebnis zufrieden sein wollte?

Dann wird es wohl bis in alle Ewigkeit so dauern, ehe sich jemand um mich kümmert!, dachte er leicht skeptisch und überlegte schon, ob er nicht von sich aus aktiv werden sollte. Aber was sollte er denn tun? Wenn er seine abwartende Haltung verließ, konnte ihm das durchaus als Provokation angerechnet werden. Ein Risiko, das er nicht eingehen wollte. Daher wartete er lieber weiter ab, inmitten des leeren Hangars.


*


Rotnems Geduld wurde wahrlich auf die Probe gestellt. Endlich hörte er, dass sich einer der Zugänge öffnete. Er fuhr erwartungsvoll herum.

Ein Ser-fen!

Allein!

Er ging ein paar Schritte auf Rotnem zu und blieb wieder stehen. Jetzt zeigten sich drei weitere Ser-fen in der Türöffnung. Eher zögerlich betraten sie den Hangar. Erst als sie insgesamt zu fünft waren, setzten sie sich als Gruppe in Bewegung und steuerten auf Rotnem zu.

Rotnem blieb einfach stehen und wartete ab. Doch seine Ruhe war nur scheinbar. In Wirklichkeit versuchte er, die fünf Ser-fen zu scannen. Erstaunt bemerkte er, dass dies gar nicht möglich war. Sie hatten sich perfekt abgeschirmt, so perfekt sogar, dass selbst die überempfindlichen Sensoren, die ihm zur Verfügung standen, versagen mussten.

Die Erkenntnis ließ ihn zusammenzucken:

„Wenn sich Wesen dermaßen perfekt abschirmen können, ohne erkennbar technische Einrichtungen mit sich herumzutragen, dann… sind sie selber diese technische Einrichtung!“

Im Nachhinein wusste er nicht mehr, ob er dies sogar laut gesagt hatte. Die fünf Ser-fener jedenfalls reagierten nicht darauf. Sie blieben im Abstand von fünf Schritten vor ihm stehen. Der als erster aufgetaucht war, machte sich zum Sprecher der Gruppe.

„Du bist ein Kyborg!“, stellte er anstelle einer Begrüßung fest.

„Ihr auch!“, antwortete Rotnem ungerührt.

„Nicht so wie du!“, widersprach der Ser-fener.

„Worin liegt deiner Meinung nach der Unterschied?“, erkundigte sich Rotnem ruhig.

„Du bist nicht nur technisch weit überlegen, was uns doch sehr erstaunt, sondern dein organischer Anteil ist sozusagen verschwindend gering.“

„Und das ist bei euch anders?“

„Also kannst du unsere Tarnung nicht umgehen. Das beruhigt uns zu wissen.“

„Ja, bei aller Überlegenheit“, gab Rotnem zu.

„Was willst du hier?“, war die nächste Frage, als sei das Thema Kyborg bereits abgehakt.

Rotnem ging gar nicht darauf ein.

„Euer biologischer Anteil ist größer?“

„Ja!“, antwortete der Ser-fen leichthin. „Wir haben unsere Körper behalten. Diese wurden nur entsprechend verbessert. Ein Kyborg, wie du einer bist, ist bei uns praktisch völlig unüblich. Wie kam es dazu?“

„Ihr habt herausgefunden, dass ich einst ein lebendes Wesen war?“ Noch ehe der Ser-fen antworteten konnte, fuhr Rotnem fort: „Das konntet ihr nur, weil ich meine eigene Tarnung aufgehoben habe. Sie ist mindestens genauso perfekt wie die eure – wenn ich das wirklich will.“

Max meldete sich, telepathisch:

„Telepathie kennen die nicht. Sie wissen zwar, dass sie existiert, doch sie spielt für sie keine Rolle.“

„Du kannst ihre Gedanken lesen?“

„Ja!“, antwortete Max. „Und es stimmt: Die Ser-fen sind überwiegend organisch. Sie haben ihre Körper nur technisch modifiziert. Das scheint bei ihnen so üblich zu sein.“

Rotnem lächelte in der Art eines Ser-fen.

Da der Ser-fen vor ihm nicht auf seine Rede reagiert hatte, sagte er jetzt:

„Gerade ist es mir gelungen, eure Tarnung zu umgehen. Ja, es ist die Wahrheit: Ihr habt eure Körper behalten und sie lediglich technisch verbessert. Allerdings ist die kybernetische Ergänzung ziemlich weitreichend, wie ich meine.“

„Bei weitem nicht so weitreichend wie bei dir!“

„Nennt mich Rotnem.“

„Rotnem?“ Die Überraschung war echt. „Aber das ist doch der Kyborg vom Raumschiff Chamäleon!“

„Ja, genau der bin ich. Deshalb konnte ich auch der planetaren Überwachung nicht sagen, woher ich komme. Ich habe unbemerkt das Schiff verlassen, als Flüchtling, um mich in eure Obhut zu begeben. Deshalb habe ich meine Tarnung aufgehoben. Ich möchte keine Geheimnisse vor euch haben.“

„Aber wieso?“

„Die Besatzung ist menschlich. Eine Rasse, die es in diesem Universum gar nicht gibt. Ich stamme zwar ebenfalls aus jenem Universum, doch ich war einst ein Prupper. Das ist mehrere tausend Jahre her. Ich war ein Elitesoldat, der bei einem Einsatz ums Leben kam. Das hieß, es konnte der wesentliche Teil meines Gehirns gerettet werden. Man hielt die Gehirnzellen am Leben und baute quasi einen technisch basierten Körper darum herum. Im Verlauf der Jahrtausende wurde dieser kybernetische Körper immer weiter verbessert. Bis auf den heutigen Tag. Diese Mühe hat man sich damals nur deshalb gemacht, weil man glaubte, ich sei es wert. Aber die Situation von damals spielt inzwischen schon sehr lange keinerlei Rolle mehr. Meine einstigen Aufgaben sind gelöst. Auch die Aufgaben im Zusammenhang mit der Chamäleon können als gelöst betrachtet werden. Deshalb habe ich beschlossen, das Schiff zu verlassen.“

„Das reicht uns nicht als Begründung!“, gab der Ser-fen unumwunden zu.

„Dann wisst ihr gar nicht, dass die Chamäleon ein autarkes Schiff ist? Die Besatzung an Bord… Das sind eigentlich nur lebende Gäste. Das Schiff hat ein eigenes Bewusstsein, einen eigenen Willen. Seine Intelligenz ist nicht natürlich entstanden, sondern künstlich. Es handelt sich um ein Biogehirn. Das heißt, dieses Gehirn ist eine Mischung aus Kybernetik und einem biologischen Denksystem. Eigentlich ist die Besatzung völlig unnötig, und ich konnte nicht länger an Bord bleiben, weil es mich nach Aufgaben drängt.“

„Aber du hast Asyl beantragt. Wirst du denn verfolgt?“

„Indirekt, ja, denn die Besatzung wird befürchten, dass ich ihr Geheimnis ausplaudere. Eben das Geheimnis, dass sie nur Gäste sind an Bord ohne wirkliche Aufgaben. Wenn sich Ken Randall zuum Sprecher macht, dann handelt er im Auftrag des autarken Schiffes. Er ist nicht mehr als nur eine organische Marionette. Und wie könnte ich nach Jahrtausenden meiner Existenz als Kyborg weiterhin mit meiner Rolle als bloße Marionette zufrieden sein?“

„Was hast du uns zu bieten außer dem, was du uns hier berichtest?“

Die Ser-fen waren wahrlich keine Meister der Diplomatie. Noch deutlicher hätte es nicht mehr werden können. Aber Rotnem kümmerte das nicht. Ganz im Gegenteil, denn es machte seine Mission um vieles leichter, wie er fand.

„Ich biete… mich! Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Seid ihr nicht die genialen Elektroniker und Kybernetiker? Und ihr wisst, wie überlegen ich allem bin, was euer Genie jemals auch nur für möglich gehalten hat. Ich bin vollkommen autark, gewissermaßen selber ein Raumschiff. Sonst könnte ich nicht hier sein. Und so lange ich von euch geschützt werde, muss ich nicht zurück an Bord der Chamäleon.“

„Was hat die Chamäleon wirklich vor?“, war jetzt die direkte Fage.

„Nichts anderes als das, was sie die ganze Zeit über schon tut: Sie ist auf einer Friedensmission – und schenkt den Völkern der Föderation die Möglichkeit der STAR GATES. Das ist durchaus nur positiv gedacht. Über kurz oder lang wird die Chamäleon jedoch wieder zurückkehren in ihr Heimatuniversum. Niemand an Bord hat die Absicht, den Völkern der Föderation etwas Böses zu tun, weder aus eigenem Antrieb noch im Auftrag des Schiffes.“

„Aber wenn das alles dermaßen positiv ist, wieso bist du dann von Bord geflohen?“

„Es ist so, wie ich es bereits erklärt habe.“

„Sonst nichts?“

„Sonst nichts!“, bekräftigte Rotnem. Und er fügte hinzu: „Falls euch das zu wenig erscheint, denkt an mein Angebot, mehr über meine Möglichkeiten zu erfahren, um eure eigenen technischen Erkenntnisse zu ergänzen. Also, wenn das nicht Angebot genug ist…“

„Aber wenn wir herausgefunden haben, was wir erfahren wollen… Welche Garantie hast du denn, dass wir dich dann überhaupt noch benötigen?“

Das war dermaßen unverhohlen, dass Rotnem erst recht keine Steigerung mehr für möglich hielt.

Er lachte abermals das typische Lachen der Ser-fen.

„Es gibt keine Garantie. Aber ich werde es euch auch nicht gerade leicht machen.“

„Was meinst du damit?“

„Ach, ganz einfach: Ihr werdet vorerst natürlich… nichts erfahren. Ich möchte euch erst genauer kennenlernen. Ihr werdet erst dann meine Geheimnisse ergründen – ich meine meine Geheimnisse technischer Art -, wenn ich die Zeit dafür gekommen sehe. Und immer nur häppchenweise. Oder glaubt ihr, ich bin so naiv, auch nur das geringste Risiko einzugehen?“

„Wir könnten uns gewaltsamer Mittel bedienen!“, trumpfte der Ser-fen auf.

„Das würde euch nicht gelingen. Ich kann jederzeit wieder von hier verschwinden. Ich muss es nur wollen.“

„Wir werden das zu verhindern wissen. Es liegt an dir, ob du unser Gefangener sein willst oder unser willkommener Gast.“

„Ich habe mich bereits entschieden: Euer willkommener Gast. Aber wenn ich den Eindruck habe, mich zu irren, bin ich wieder weg. Es gibt keinerlei Möglichkeit, das zu verhindern.“

„Beweise uns das!“

„Nein!“, erklärte Rotnem lapidar. „Wenn ihr mir so wenig zutraut, hat die Fortführung dieses Gesprächs für mich jeglichen Sinn verloren. Wenn ich euch wirklich demonstriere, welche Möglichkeiten ich habe, bin ich weg – und bleibe das auch. Entweder, ihr geht auf mein Angebot ein oder lasst es bleiben. Nun, entscheidet euch – falls ihr dafür überhaupt kompetent seid.“

Max meldete sich wieder:

„Es gibt Kontakt mit einer unbekannten Quelle außerhalb der Halle. Ah, ich sehe schon: Der Verhandlungsführer holt neue Order ein.“

Kaum hatte Max geendet, als der Ser-fen auch schon sagte:

„Einverstanden, Rotnem. Wir nehmen dein Angebot an und gewähren dir Asyl. Sei unser willkommener Gast. Wir werden dich in deine Quartiere begleiten. Es kommt nicht oft vor, dass wir einen Gast empfangen, hier, in unserer Kuppelstadt. Um genauer zu sein: Du bist seit mindestens hundert Jahren der einzige. Deine Unterbringung erfolgt im Zentralbereich der Kuppelstadt.“

Seine vier Begleiter umringten Rotnem, und der Sprecher der Fünf setzte sich an die Spitze. Dann marschierten sie los.

„Keine Gefahr!“, beruhigte Max seinen Kumpel Rotnem telepathisch.


4


Außerhalb der Halle befand sich eine Art Straße. Sie war breit und vollkommen schwarz, mit matter Oberfläche.

Kaum standen die fünf Ser-fen mit ihrem Gast darauf, als sie selbstständig transportiert wurden. Es handelte sich nicht etwa um Laufbänder, sondern die Oberfläche selbst schien bei Bedarf die Eigenschaft von fließender Flüssigkeit zu haben, ohne jedoch die darauf stehenden Passanten einsinken zu lasssen.

Rotnem wusste allerdings, dass dieses Verfahren nicht ungewöhnlich war, sondern auch auf anderen Welten benutzt wurde. Deshalb interessierte er sich mehr für die unmittelbare Umgebung.

Es gab eine Anordnung von Hallen, als würden sie sich in einem Gewerbegebiet befinden. Doch es war niemand zu sehen. Als wäre die Kuppelstadt in Wirklichkeit längst ausgestorben. Oder wurden etwaige Bewohner und Passanten aktiv zurückgehalten?

Aus den Hallen wurden geduckt da stehende, völlig schmucklose Gebäude. Immer wieder zweigten Nebenstraßen ab, die genauso beschaffen waren wie die Hauptstraße - und genauso leer. Es gab auch so etwas wie Grünstreifen, doch die waren eher dürftig und dienten offenbar nicht der Zierde, da ihre schmucklose Anordnung eher willkürlich erschien. Vielleicht sollten sie lediglich zum Erhalt der Atmosphäre beitragen? Wobei für Rotnem natürlich interessant war, herauszufinden, wie solche Pflanzen beschaffen sein mussten, um in einer solch giftigen Atmosphäre überlebensfähig zu sein. Vom botanischen Standpunkt aus gesehen sicherlich etwas, das förmlich nach Erforschung schrie.

Max lenkte ihn von seinen Beobachtungen ab:

„Ich lese in ihren Gedanken einerseits wie in einem offenen Buch. Andererseits…“

Er brach ab.

„Andererseits?“, echote Rotnem verwundert.

„Ich bin noch nicht lange genug Telepath, um wohl alles begreifen zu können, wie es scheint, obwohl wir nun schon so lange hier sind, in diesem Universum. Wir haben die unterschiedlichsten Geschöpfe kennengelernt. Die Wenigsten sind PSI-fähig. Aber alle wirken zumindest… lebendig.“

„Was willst du mir damit sagen, Max?“

„Die Gedanken der Ser-fen sind zwar klar strukturiert, doch in ihrer Summe absolut fremdartig, um nicht zu sagen höchst verwirrend. So etwas wie Gefühle spielt eine untergeordnete Rolle. Bekanntlich sind aber gerade Gefühle wichtig für so etwas wie Kreativität. Der reine Verstand, losgelöst von einer Gefühlswelt, ist zu rational, um kreativ sein zu können.“

„Aber du hast doch gesagt, dass sie überwiegend ihren Körper behalten haben, der lediglich verbessert wurde mit kybernetischen Ersatzteilen.“

„Ja, so ist das auch. Das Gehirn beispielsweise ist vollständig vorhanden. Sie haben auch ein Rückenmark, das für die Feinmotorik verantwortlich ist, sofern diese nicht kybernetisch gesteuert wird. Ihre kybernetisch ergänzten und unterstützten Körper sind einem normalen lebenden Wesen haushoch überlegen. Mühelos könnte ein Ser-fen ein komplettes Gebäude überspringen. Der organische Anteil ist so geschützt, dass er es gefahrlos überstehen würde.“

„Es ist erstaunlich, wieviel du herausfindest, während ich mit meinen Scanversuchen kläglich versage“, beklagte Rotnem.

„Das ist nur logisch, weil sie eben PSI nicht mit ins Kalkül ziehen.“

„Aber wenn sie ein organisches Gehirn besitzen, das von einer Art Extragehirn auf kybernetischer Basis ergänzt wird, muss es doch so etwas wie einen Austausch zwischen beiden Teilen geben. Über Gedankenbasis.“

„Es ist ähnlich wie bei dir, Rotnem. Anscheinend das einzig gängige Prinzip, wenn man so will. Doch diese Schnittstellen zwischen Kybernetik und biologischem Anteil sind nicht vergleichbar mit echtem PSI. Es handelt sich also nicht etwa um so etwas wie Gedankenverstärker. Davon sind die Ser-fen noch lichtjahreweit entfernt. Falls sie so etwas überhaupt jemals angestrebt haben. Ich erkenne mittels PSI ihre Strukturen. Sie sind im Grunde genommen biologische Lebewesen geblieben, trotz aller Verbesserungen technischer Art. Sicherlich wurden sie irgendwann einmal geboren, als normale Wesen, bevor man sie später zu Kyborgs gemacht hat. Eigenartig nur bleibt dieses Denkmuster. Ich habe echt Mühe, es zu verstehen, geschweige denn nachzuvollziehen. So ist es mir nicht möglich, ihre eigentlichen Absichten zu ergründen.“

„Das verstehe ich nicht!“, bekannte Rotnem.

„Mein Vorschlag, mein Freund: Ich übermittele dir beispielhaft das Denkmuster des Sprechers in der Gruppe, der direkt vor dir steht. Du wirst wie ein Telepath heimlich in seinem Kopf herumspuken können. Und vielleicht verstehst du es besser als ich, da du ja selber ein Kyborg bist? Obwohl ich zugeben muss, dass deine Gedankenmuster vertraut geblieben sind, also typisch für organische intelligente Lebewesen.“

„Du willst doch damit nicht etwa sagen, die Ser-fen denken wie Androiden?“

„Finde es selber heraus, Rotnem!“

Und schon hatte Max eine Art telepathische Brücke zwischen Rotnem und dem Ser-fen geschaffen.

Für Rotnem begann das Grauen: Diese Gedanken waren derart fremdartig, dass sie ihn in einen regelrechten Alptraum stürzten. Dem konnte er sich nur entziehen, indem er die Analyse des Gedankenmusters quasi in sein kybernetisches Extragehirn verschob, das so etwas wie Gefühle nicht kannte. Es war genau diese beinahe perfekte Gefühlsleere, die jenes Grauen in Rotnem hervorrief. Vielleicht hatte er sich als Kyborg gegenüber seiner ehemals rein organischen Existenz verändert. Das mochte sein. Aber er war immer noch zumindest halbwegs der Prupper geblieben, als der er einst geboren worden war. Nur bei dem Ser-fen vor ihm war von einem normal denkenden und fühlenden Lebewesen nicht mehr viel übrig geblieben. Aber er war auch nicht zu einer Art intelligenter Maschine geworden. Irgendwo dazwischen mochte man ihn einordnen, doch Rotnem konnte jetzt nachvollziehen, was Max so sehr verwirrt hatte. Er war ja selber höchst verwirrt.


*


Die nüchterne Analyse seines Extragehirns ergab kein eindeutiges Ergebnis. Tatsache blieb, dass die Ser-fen völlig fremdartig waren, obwohl sie äußerlich Menschen von der Erde ähnlich sahen, die lediglich eine seltene Hautkrankheit zu haben schienen.

„Ich frage mich“, signalisierte Rotnem an Max, „wie eine solche Kultur überhaupt existieren kann. Immerhin soll das Reich der Ser-fen hunderte von Welten umfassen.“

„Die jedoch noch niemals ein Außenstehender zu Gesicht bekommen hat!“, erinnerte ihn Max. „Zumindest offiziell nicht. Für die Föderation spielt nur eine dieser Welten eine Rolle, nämlich die Zentralwelt Ser-fen.“

„Meinst du denn, dass diese Fremdartigkeit vielleicht nur auf meine fünf Begleiter zutrifft?“

„Nein, ich glaube vielmehr, dass dies für Ser-fen normal ist. Es deutet jedenfalls nichts darauf hin, dass die Denkvorgänge im biologischen Gehirn in irgendeiner Weise von außen gesteuert werden.“

„Falls die Ser-fen konditioniert wurden, wie auch immer… Könntest du das feststellen?“

„Nein“, antwortete Max nach kurzem Zögern. „Dafür sind sie wahrlich zu fremdartig – auch für mich. Wenn sogar du so reagiert hast darauf…“

„Mal was anderes, Max: Wie kannst du eigentlich dies alles dermaßen genau scannen, wenn du dich nicht schon längst hier befindest?“

Eine Pause. Dann:

„Du hast nicht unrecht, Rotnem. Ich bin längst vor Ort, aber unsichtbar für die technischen Scans der Ser-fen. Falls sie misstrauisch werden sollten, teleportiere ich mich rechtzeitig in Sicherheit.“

„Das meine ich nicht. Ich meine nicht, dass es eine Gefahr für dich bedeutet, aber könnte es nicht meine Mission gefährden?“

„Nein, denn wir handeln sozusagen unabhängig voneinander. Deshalb werde ich dir auch nicht sagen, wo ich jetzt bin. Was auch immer geschieht: Du wirst mich nicht verraten können, auch nicht ungewollt. Mehr noch: Falls man mich wirklich bemerkt, wird man eher annehmen, die Chamäleon habe mich geschickt, um dich zurückzuholen, und sie werden es als persönlichen Erfolg ansehen, falls es ihnen gelingt, mich zu vertreiben. Also ist deine Mission nicht wirklich gefährdet durch meine Anwesenheit.“

„Nun, was auch immer, Max: Ich bin trotzdem froh, dich in der Nähe zu wissen. Wie und wo auch immer. Und hältst du den Kontakt mit der Chamäleon?“

„Ja, aber eher vorsichtig. Ich will das Risiko so klein wie möglich halten.“

„Da kriege ich glatt eine Idee!“, meinte Rotnem auf einmal. „Wenn es dir doch so relativ leicht fällt, den Körper der Ser-fen zu scannen… Vielleicht könnte ich auf diesem Umweg meine eigenen Scans so weit anpassen, dass ich ihre Tarnung ebenfalls umgehen kann?“

„Das käme auf den Versuch an. Also gut, Rotnem. Ich übermittele dir jetzt meinen PSI-Scan. Und ich bin gespannt, ob du daraus etwas machen kannst.“

„Du weißt ja, Cha hat mich entscheidend verbessert und mir damit Möglichkeiten an die Hand gegeben, die beachtlich sind. Zwar wurde ich dadurch nicht PSI-fähig, aber es gibt eine gewisse Annäherung, wie du weißt. Immerhin ist Cha selber eine biologisch-kybernetische Einheit mit starker PSI-Affinität.“

Es dauerte keine Minute, da hatte Rotnem sozusagen den Knoten entwirrt, denn mit Hilfe von Max hatte er herausfinden können, mit welcher Methode die Tarnung erfolgte. Von dieser Erkenntnis ausgehend war es beinahe eine Kleinigkeit für ihn, diese Tarnung vollständig zu umgehen.

Allerdings brachte ihm das keinerlei weitergehende Erkenntnisse. Zumindest nicht, was die Ser-fen direkt betraf. Als er jedoch seine Scanversuche wieder ausweitete und sich damit den umliegenden Gebäuden zuwandte, deren Inneres sich ihm bislang entzogen hatte, stellte er fest, dass die Tarneinrichtungen dort recht ähnlich funktionierten.

Es dauerte eine weitere Minute, da erschienen ihm die Gebäude am Rand der leeren Straße, über die sie zu sechst dahin glitten, wie aus Glas. Und seine Vermutung, dass die Straße nur seinetwegen frei gehalten wurde, wurde zur Gewissheit: Normalerweise war diese Kuppelstadt hier voller Leben. Allerdings war es ein Leben, wie es vergleichbar nirgendwo sonst ablief, denn die fünf Ser-fen in seiner Begleitung waren in der Tat keineswegs Ausnahmen, was ihre Rasse betraf.

Irgendwie waren alle gleich. Nicht nur äußerlich, sondern auch in ihrem Denken und Handeln. So etwas wie Individualität beschränkte sich auf eher winzige Nuancen.

Prompt kam sich Rotnem in dieser Kuppelstadt so vor wie der Besucher eines Ameisenhaufens, in dem jeder Bewohner nur ein winziges Rädchen im Gesamtgetriebe war. Was zählte, war ausschließlich die Gemeinschaft, nicht das Einzelwesen.

Ein äußerst unangenehmes Gefühl beschlich dabei den prupperischen Kyborg.


*


Das Erstaunlichste an alledem war eigentlich die Tatsache, dass die Ser-fen so sehr menschenähnlich waren. Zumindest eben äußerlich. Es war auch kein einziges Individuum dabei, das nicht augmentiert war, wie man solche kybernetischen Verbesserungen auch nannte.

Rotnem fragte sich erneut, ob dies auf alle Ser-fen auf allen angeschlossenen Welten zutraf. Aber es waren in den Aufzeichnungen über Ser-fen noch nicht einmal die Augmentierungen an sich erwähnt. Überhaupt kümmerte sich die Föderation nicht im Geringsten um sogenannte innere Angelegenheiten eines ihrer Mitglieder. Es hatte bislang immer funktioniert, weshalb wohl niemand auf die Idee kam, das ausgerechnet betreffend Ser-fen ändern zu wollen, aber Rotnem zweifelte inzwischen daran, ob das wirklich auf Dauer der richtige Weg war, um sich gegenseitig Respekt zu zollen.

Endlich erreichte er mit seinen Begleitern, die er im Stillen eher als Bewacher ansah, ähnlich einer militärischen Eskorde, das Ziel, das sich seiner Schätzung nach im Zentrum der Kuppelstadt befand. Die schiere Größe allein schon des Gebäudes, auf das sie zusteuerten, ließ vermuten, dass es sich um das wichtigste Gebäude der Stadt handelte. Es war allerdings genauso schmucklos wie der Rest. Absolut zweckgerichtet, völlig ohne jegliche Schnörkel. Damit strahlte die gesamte Kuppelstadt eine unbeschreibliche Kälte aus, die Rotnem hätte schaudern lassen, hätte er noch einen organischen Körper besessen.

Auch Max war höchst beeindruckt von der allgemeinen Schlichtheit, wie er die Schmucklosigkeit nannte. Noch steriler konnte wahrlich keine Stadt sein. Dazu passten natürlich die Bewohner, die genauso steril wirkten. Als wären die überwiegend organischen Anteile ihrer Körper nur eine Last, wie jegliche Natürlichkeit.

„Ein mehr als seltsames Volk!“, kommentierte Max telepathisch.

Rotnem konnte ihm nicht widersprechen.

Bevor er das Hauptgebäude erreichte, schaute er daran empor.

„Das also soll die Unterkünfte für Gäste beherbergen?“, fragte er laut in der Sprache der Ser-fen. „Es sieht mir eher nach dem Regierungsgebäude aus.“

„Ist es auch“, bestätigte der Ser-fen ungerührt. „Gleichzeitig werden hier die überaus seltenen Gäste untergebracht.“

„Als Gäste oder als Gefangene?“

„Ich will es einmal so ausdrücken: Das liegt im Auge des Betrachters.“

Für Rotnem war diese Antwort eine eindeutige Bestätigung dafür, dass er in der Tat gefangengenommen war. Zwar hätte er jeder Zeit fliehen können, weil er dafür als Kyborg die entsprechenden Möglichkeiten hatte, aber er fügte sich freiwillig in dieses Schicksal, um seine selbst auferlegte Mission nicht zu gefährden. Zumal wohl keine Gefahr drohte, so lange er sich fügte. Ansonsten bemühte er sich nach wie vor, seinen kybernetischen Körper wirklich nur die grundlegenden Dinge ausführen zu lassen, um nur ja nicht zu verraten, wozu er überhaupt fähig war. Zumal er nach wie vor auf jegliche zusätzliche Tarnung verzichtete.

Die Ser-fen wussten nicht, dass er umgekehrt ihre Tarnung inzwischen komplett umgehen konnte. Er hatte auch nicht vor, sie darauf aufmerksam zu machen. Den kleinen Hinweis zu Beginn schienen sie sowieso nicht ernst genommen zu haben.

Vor ihnen öffnete sich ein Portal, das ebenfalls groß genug gewesen wäre, einen Lastengleiter aufzunehmen. Solche gab es sicherlich in der Kuppelstadt, genauso wie Personengleiter. Allerdings hatte man es vorgezogen, ihn sozusagen zu Fuß hierher zu bringen. Wahrscheinlich nur deshalb, um genügend Zeit heraus zu schinden, um weitere Scans und Recherchen anzustellen.

Eigentlich war es Rotnem egal, ob sie zu einem Ergebnis geführt hatten und wie dieses Ergebnis aussah. Er warf einen letzten Blick zum Himmel, ehe er das Portal durchschritt.

Über der Kuppelstadt wölbte sich eine Kuppel, die zum größten Teil Materie war, jedoch energetisch unterstützt wurde, sonst hätte sie sich ohne entsprechende Stützen nicht auf Dauer halten können. Sie war durchsichtig, aber je nach Sonneneinstrahlung schimmerte sie golden. So wie jetzt direkt über dem Hauptgebäude.

Im Innern war das Licht gedämpft. Rotnem regulierte seine Sichtweise automatisch höher. Überhaupt überließ er die Steuerung des kybernetischen Körpers in erster Linie seinem Extragehirn. Es gab keinen Grund, bewusst einzugreifen. Solch einfache Funktionen konnten die Ser-fen ruhig ergründen. Die waren nichts Besonderes und verrieten schon gar nichts über seine sonstigen Möglichkeiten.

Eine Halle tat sich vor Rotnem auf. Schmucklos wie alles. Immerhin war die Halle groß genug, um wie ein freier Platz zu wirken, über den eine Kuppel gespannt war, ähnlich wie über der Stadt. Mit dem Unterschied, dass diese Kuppel nicht durchsichtig war, sondern aus sich heraus zu glühen schien. Daraus resultierte das eher dürfte Licht, das auch nicht heller wurde, als er mit seinen Bewachern näher trat.

Sie führten ihn exakt in die Mitte der Halle.

„Das riecht nach einer… Falle!“, bemerkte Max.

„Kannst du was feststellen?“

„Leider nein!“

„Ich auch nicht!“, bekannte Rotnem, obwohl er höchst aufmerksam die Umgebung scannte. Er sah verborgene Zugänge unterschiedlicher Größe. Es gab auch einige Schächte, wie Aufzugsschächte, jedoch ohne Kabine. Anscheinend wurden die Ser-fen dort mittels Antigravfelder zu den höheren Stockwerken befördert.

Eindeutig sollte Rotnem nicht einen dieser Fahrstühle benutzen. Was erwartete ihn in der Hallenmitte? Was sollte das eigentlich?

Mit im wahrsten Sinne des Wortes angespannten Sinnen erreichte er das Ziel.

Sogleich zogen sich die Ser-fen von ihm zurück.

Er überlegte noch, ob er dem Sprecher der Ser-fen folgen sollte, doch entschied sich dagegen. Die nächste Überlegung galt seinem Schutzschirm. War es angebracht, ihn einzuschalten? Wenn ja, war seine Mission hier und jetzt bereits beendet. Davon war auszugehen.

Rotnem tat etwas anderes, eigentlich ohne Überlegung, ganz unbewusst: Er kapselte seinen Geist ab, sogar gegen Max, der ihn in diesem Zustand nicht mehr erreichen konnte, und überließ den Körper zu hundert Prozent dem Extragehirn. Das hieß, er kapselte sich sogar gegen dieses ab.

Jetzt hatte er zwar keinerlei Einfluss mehr auf den eigenen Körper, aber er nahm noch teil an dem, was die kybernetischen Sinne aufnahmen:

Plötzlich fiel ein Lichtstrahl senkrecht auf ihn herab, wie ein Spotlight. Gleichzeitig erfolgte der Angriff.

Ja, man konnte es so nennen: Es war eindeutig ein Angriff! Denn er erfolgte mit solcher Gewalt, dass es einem normalen Menschen für immer den Verstand geraubt hätte. Er wäre dem unheilbaren Wahnsinn verfallen.

Rotnem war kein normaler Mensch. Schon seit Jahrtausenden nicht mehr. Wobei man wissen musste, dass die Prupper den Menschen sehr ähnlich waren, außer in der Hautfarbe. Der Angriff prallte an seinem Geist wirkungslos ab. Aber nicht am Extragehirn. Gewissermaßen im Handstreich wurde dieses überrannt und vereinnahmt.

Der kybernetische Körper gehörte plötzlich nicht mehr Rotnem, sondern einer fremden Macht!


5


Max konnte gar nicht anders: Er teleportierte sich in die Halle hinein, nur wenige Schritte von Rotnem entfernt. Es geschah reflexartig.

Schon spürte er die unvorstellbare Macht, die auf den Kyborg einwirkte und diesen komplett übernahm, um Rotnem in seinem eigenen Körper zum Gefangenen zu machen.

Aber da spürte Max, dass sich Rotnems Geist wieder regte. Er öffnete den Panzer, der jetzt nicht mehr nötig war, weil sich die fremde Macht gar nicht darum kümmerte. Denn sie war überzeugt davon, bereits gesiegt zu haben.

Max nahm Kontakt auf mit Rotnem. Sofort wusste er, was im Einzelnen passiert war. Und er wunderte sich darüber, wieso er keinerlei PSI spürte.

„Es war kein PSI-Angriff, falls du das meinst!“, belehrte ihn Rotnem. „Und jetzt hilf mir, meinen Körper zurück zu erobern!“

„Aber wie?“

„Indem du mich mittels PSI unterstützt. Dagegen ist die fremde Macht nicht gefeit.“

Max hatte leise Bedenken, aber er gehorchte dennoch, indem er sich mit dem Geist von Rotnem verband zu einer PSI-Einheit. Sein eigener Körper spielte dabei keine Rolle mehr, genauso wenig wie der Körper Rotnems. Obwohl es letztlich um diesen gehen würde, sobald die Vereinigung perfekt war. Für die fremde Macht blieb Max unsichtbar. Mehr noch: Unwägbar. Und sie mussten schnell handeln, ehe die fremde Macht die Erinnerungsspeicher des Extragehirns durchforstete und heraus fand, dass Max zumindest in der Nähe war.

Rotnem umging die fremde Blockade und erreichte den Tarnmodus, der sogleich wirksam wurde und ihn komplett abschirmte. Das nutzte zwar nur wenig gegen die fremde Macht, aber es war ja auch nur der erste Schritt. Der zweite Schritt bestand darin, dass er eine Phasenverschiebung vornahm. Das war ein Risiko, denn er wusste ja nicht, ob die Ser-fen das Phänomen der Phasenverschiebung nicht schon kannten. Wenn ja, musste er seine Mission jetzt tatsächlich als gescheitert ansehen. Aber er hatte keine andere Wahl, als so vorzugehen.

Rotnem flüchtete in eine Phase, die eine Minute vor dem Überfall durch die fremde Macht lag. Dabei erweiterte er das Phasenfeld so weit es ging, um Max mit einzubeziehen. Und er hatte sich nicht verkalkuliert: Max befand sich nahe genug, um die Phasenverschiebung mitmachen zu können. Dadurch blieben sie verbunden.

Schlagartig war der Einfluss der fremden Macht erloschen.

Blitzschnell durchforstete Rotnem jetzt selber die Erinnerungsspeicher, um zu überprüfen, ob die fremde Macht etwas herausgefunden hatte, was zu seinem Nachteil werden konnte.

Er konnte nichts dergleichen finden.

„Danke, Max, für deine Hilfe!“, sagte er telepathisch, während er die Vereinigung von sich aus wieder löste. Es blieb nur noch so etwas wie eine telepathische Kommunikationsverbindung, wie die ganze Zeit zuvor.

„Willst du jetzt in die ursprüngliche Phase zurückkehren?“, erkundigte sich Max.

„Ja, aber nicht an gleicher Stelle, weil dann prompt der nächste Angriff erfolgt. Ich bin zwar jetzt darauf gefasst und schütze mich mit dem Tarnmodus, aber ich will kein unnötiges Risiko eingehen.“

„Der Angriff war übrigens tatsächlich nicht auf PSI-Basis erfolgt, wie du schon sagtest!“, betonte Max.

„Aber wie sonst? Wie konnte das überhaupt passieren?“

„Keine Ahnung, tut mir leid. Offensichtlich haben die Ser-fen Möglichkeiten, die für uns neu sind. Allerdings rein technischer Art, wie es scheint. Ich vergleiche das mit der Schnittstelle zwischen deinem Gehirn und dem Extragehirn. Das hat ja auch nichts mit PSI zu tun. Jene fremde Macht ist immerhin stark genug, um eine solche Schnittstelle quasi unnötig zu machen, also auch über eine gewisse Distanz hinweg zu wirken. Ich hatte eigentlich angenommen, dies sei völlig unmöglich…“

„Ich auch!“, bekannte Rotnem und verließ die Mitte der Halle. „Welche Richtung? Nicht dass du aus dem Phasenfeld gerätst.“

„Halte dich weiter rechts. Dann passt es. Ich bin fast unmittelbar bei dir.“

„Erstaunlich, dass noch nicht einnmal ich dich wahrnehmen kann, obwohl ich jetzt weiß, wo du dich befindest.“

„Mach dir darüber keinen Kopf, sondern sei vielmehr froh, dass es so ist. Dann können die verdammten Ser-fen mich auch nicht orten.“

„Bist du bereit?“

„Ja, zu allem, Rotnem!“

Der Kyborg kehrte in die Grundphase zurück.

Sogleich spürte er die Anwesenheit der fremden Macht, die jedoch ziemlich irritiert wirkte. Immerhin war er von einer Sekunde zur anderen für sie spurlos verschwunden und tauchte jetzt mehrere Meter seitlich versetzt wie aus dem Nichts wieder auf.

„Die kennen keine Phasenverschiebung!“, konstatierte Rotnem erleichtert.

Auch Max zeigte sich erleichtert.

Dann erhob Rotnem anklagend die Stimme:

„Geht man so mit einem Asylanten um? Ich suchte hier Schutz, aber die Ser-fen sind nicht meine Freunde, sondern meine ärgsten Feinde. Es war ein fataler Fehler, hierher zu kommen. Eigentlich wollte ich wieder ganz von hier verschwinden, aber ich gebe euch eine letzte Gelegenheit, euch zu erklären!“

„Da gibt es nichts zu erklären!“, grollte eine Stimme von der Kuppeldecke herab, als würde Gottvater persönlich vom Himmel zu ihm sprechen.

Rotnem ließ sich in keiner Weise einschüchtern.

„Noch so einen Versuch und ich bin tatsächlich für immer weg von hier. Allerdings werde ich alles tun, um herauszufinden, was mit euch nicht stimmt. Ihr habt ein Geheimnis vor der Föderation. Nur deshalb wolltet ihr mit der Chamäleon nichts zu tun haben.“

„Bist du deshalb her gekommen, Rotnem, um unser Geheimnis zu ergründen?“

„Nein, weil ich gar kein Geheimnis vermutete. Es ist schon so, wie ich es sagte. Ich wollte zu euch, weil ich mich mit euch mehr verbunden fühlte als mit der Besatzung der Chamäleon. Und weil das Schiff sowieso niemanden anerkennt. Es ist autark und bestimmend. Es macht jedes Mitglied der Besatzung zur Marionette. Habe ich die Jahrtausende als Kyborg überstanden, um am Ende als willenlose Marionette zu enden?“

„Du kannst jederzeit gehen. Das wissen wir jetzt. Wir können dich nicht aufhalten, aber wollen wir das überhaupt?“

„Obwohl ich euch so viel bieten kann? Seid ihr denn nicht neugierig auf meine Mögichkeiten?“

„Nein, denn wir kennen keine Neugierde. Wir kennen nur Logik und ihre Konsequenzen. Dein Handeln ist nicht logisch. Deshalb misstrauen wir dir. Und wir sind bislang auch ohne deine Mögichkeiten ausgekommen. Warum also sollten wir das ändern wollen? Zumal du trotz all deiner Möglichkeiten offensichtlich dem Gehirn des Schiffes nicht gewachsen bist. Mit anderen Worten: Es ist dir überlegen, sonst würdest du dich nicht als seine Marionette bezeichnen.“

„Das ist richtig. Ich bin als Kyborg allem überlegen, was ihr kennt, aber die Chamäleon ist sogar mir noch überlegen. Andererseits: Was soll das alles jetzt noch überhaupt? Ihr habt mich angegriffen. Ihr wolltet mich überwältigen. Ihr habt euch bemüht, mir meine Geheimnisse gewaltsam zu entreißen, indem ihr meinen Körper übernehmen wolltet. Ich kann euch versichern, dass es euch überhaupt nichts genutzt hätte, selbst wenn es gelungen wäre. Ihr hättet mich zwar testen können, aber ohne die Möglichkeit, so etwas wie mich auch nur zu begreifen, geschweige denn nachzubauen.“

Keine Entgegnung, was Rotnem bewies, dass er goldrichtig lag mit seiner Vorgehensweise.

Und dann beschloss er, noch eins drauf zu setzen:

„Ich habe es vorher noch nicht einmal geahnt, doch durch euer Vorgehen wurde es jetzt zur schmerzlichen Gewissheit: Nicht nur die Besatzungsmitglieder der Chamäleon sind Marionetten, sondern… alle Ser-fen! Was also bist du? Ein autarkes Gehirn wie das des Schiffes?“

Keine Antwort.

„Also doch! Ein Computer regiert die Ser-fen. Zumindest hier, in der Kuppelstadt. Alle Ser-fen sind gleichgeschaltet und funktionieren wie Automaten. Ihre Individualität ist unterdrückt. Deshalb die Augmentierungen, die sich nicht nur körperlich auswirken, sondern vor allem geistig. Es macht die Ser-fen sicherlich überlegen - einerseits. Andererseits versklavt es sie auch. Und ich vermute mal, sie fühlen sich dabei auch noch glücklich und zufrieden.“

„Es ist meine oberste Aufgabe, sie glücklich und zufrieden zu sehen!“, sagte in diesem Moment die fremde Macht.

Jetzt war es an Rotnem, vorübergehend die Sprache zu verlieren. Der Schock saß ziemlich tief, und er hätte wirlich nicht gedacht, dass er das eigentliche Geheimnis der Ser-fen so schnell hätte lösen können.

Max munterte ihn auf.

„Eine reife Leistung von dir, wahrlich. Ich wäre niemals darauf gekommen. Es gibt nur ein Wesen in diesem Universum, das dazu in der Lage war – eben du!“

„Und was nutzt es mir jetzt?“, gab Rotnem telepathisch zurück.


*


Die fremde Macht, wie er die Stimme immer noch nannte, meldete sich wieder zu Wort:

„Ich bin hier nur ein Ableger. Auf jeder Welt unseres Reiches gibt es einen Ableger. Das Zentralgehirn möchte persönlich mit dir sprechen, Rotnem. Keine Sorge, es handelt sich diesmal nicht um eine Falle. Du hast uns durchschaut, unser Geheimnis ergründet, und wir haben begriffen, dass wir dich nicht aufhalten können. Das wollen wir auch gar nicht. Wenn du bei uns bleibst, dann freiwillig.“

„Was wollt ihr tun?“

„Ein Raumschiff steht bereit für dich. Wir werden dich mit einem Gleiter dorthin bringen. Wärst du dazu bereit?“

„Um mich nach Ser-fen zu bringen?“

„Ja.“

„Damit ich dort für immer verschwinde?“

„Wie gesagt: Es handelt sich diesmal nicht um eine Falle.“

„Ich traue euch nicht mehr. Ich kam freiwillig zu euch. Ihr hättet mich abweisen können, aber ihr habt mich lieber in eine Falle gelockt, die für jeden anderen tödlich verlaufen wäre. Damit habt ihr bewiesen, wozu ihr fähig seid. Sogar das Argument, dass ich euch technische Erkenntnisse beibringen kann, von denen ihr bislang nicht einmal zu träumen wagtet… Selbst das hat nichts genutzt. Ihr hättet meine Zerstörung billigend in Kauf genommen, zumindest die Zerstörung meines Geistes.“

„Das ist richtig.“

„Und jetzt soll ich einfach an Bord eines Raumschiffes gehen, das mich nach Ser-fen bringt? Zum Zentralgehirn? Zum obersten Führer einer gnadenlosen Diktatur, die hunderte von Welten umfasst und seinesgleichen sucht – sowohl in diesem Universum als auch in dem, aus dem ich stamme?“

„Auch das ist richtig.“

„Wie naiv schätzt ihr mich eigentlich ein, dass ich darauf eingehe?“

„Du wirst darauf eingehen, denn sonst wärst du schon jetzt nicht mehr da.“

Rotnem ärgerte sich darüber, dass das Gehirn der Kuppelstadt ihn so leicht durchschaute.

Max, der ja alles mit bekam, zeigte sich in großer Sorge.

„Tu es nicht!“, bat er.

„Werde ich auch nicht, wenn du nicht mit von der Partie bist!“

„Wie soll das gehen?“

„Nun, an Bord des Schiffes, mit dem man mich transportiert. Und ich gehe davon aus, dass die Chamäleon folgen wird. Unsichtbar, also unbemerkt.“

„Das ist nicht ganz so einfach, wie du dir das vorstellst, Rotnem. Ich weiß nicht, wieviel Platz an Bord sein wird. Ob der Platz für mich ausreicht, um unbemerkt bleiben zu können.“

„Ich bleibe mit dir in Verbindung und lasse dich durch meine Augen blicken. Dann wirst du dich an Bord teleportieren. Der Rest wird sich zeigen.“

„Der Rest wird sich zeigen!“, echote Max skeptisch, aber er hatte keine weiteren Einwände mehr. Obwohl ihn solche Einwände ständig von Bord der Chamäleon erreichten. Da gab es niemanden, der es gutheißen konnte, dass Rotnem dieses Wagnis einging. Aber Max behielt es für sich, weil er wusste, dass Rotnem nicht darauf hören würde. Der prupperische Freund hatte nun einmal beschlossen, der Einladung zu folgen, und er würde sich von nichts und niemand mehr davon abhalten lassen.

Max auch nicht davon, ihn dabei zu begleiten. Das musste die übrige Besatzung an Bord der Chamäleon, einschließlich Ken Randall, erst einmal begreifen.


6


Rotnem wurde vor dem Zentralgebäude von einem führerlosen Personengleiter erwartet. Er musste ihn nur besteigen. Dann flog der Gleiter los. Er verließ die Kuppelstadt der Ser-fen durch die Schleuse und steuerte auf den zentralen Raumhafen des Planeten Mirafar zu.

Hätten die Ser-fen ein STAR GATE besessen, wäre es natürlich leichter gewesen, aber Rotnem hielt sich mit seiner diesbezüglichen Kritik natürlich zurück. Er wartete ganz einfach ab.

Der Personengleiter öffnete sich erst wieder, als er sich im Hangar eines Raumschiffes befand. Dort wurde Rotnem nur von einer Stimme empfangen, die behauptete, der Bordcomputer zu sein. Die Stimme dirigierte ihn aus dem Hangar und über einen verwinkelten Gang zu der ihm zugewiesenen Kabine.

Sie war ziemlich geräumig und bot somit bequem auch Platz für Max, der sich sogleich hierher teleportierte. Aber er blieb nicht lange bei Rotnem, weil er neugierig war, wie es im übrigen Schiff aussah. Er teleportierte in den Gang hinaus und machte sich als blinder Passagier unsichtbar an die Erkundung, während Rotnem allein zurückblieb und auf den Start wartete.

Bereits Minuten später erfolgte dieser.

Rotnem bekam nicht mit, dass Max ständig in telepathischer Verbinung mit der Chamäleon blieb. Diese blieb nur noch so lange im Orbit um Mirafar, wie das Raumschiff der Ser-fen in Reichweite war. Dann verließ sie die Zentralwelt der Föderation und machte sich an die Verfolgung. Der Abstand blieb maximal groß, also so groß, wie die telepathische Verbindung noch störungsfrei gewährleistet werden konnte.

Eigentlich hatte Ken beschlossen, nicht unangekündigt Ser-fen anzufliegen. Die Umstände hatten sich geändert und zwangen ihn regelrecht dazu, dieses Vorhaben aufzugeben. Es ging immerhin um zwei der wichtigsten Besatzungsmitglieder, nämlich um Max Nergaard und Rotnem, die er unter keinen Umständen im Stich lassen durfte.

Nach wie vor hatten alle an Bord die größten Bedenken ob der Vorgehensweise Rotnems, aber andererseits mussten sie zugeben, höchst neugieirg zu sein auf das, was Rotnem auf Ser-fen erwartete.


*


Rotnem erreichte an Bord des Schiffes endlich das Ziel. Das Schiff hatte keinerlei Umwege in Kauf genommen, dennoch war Rotnem die Reise vorgekommen, als hätte sie eine Ewigkeit gedauert.

Max hatte inzwischen das ganze Schiff durchsucht und festgestellt, dass sie die einzigen Passagiere waren. Mit anderen Worten: Es gab auch keinerlei Besatzung. Das Schiff war völlig autark. Ähnlich wie die Chamäleon, obwohl Cha natürlich dem Schiffsgehirn hier entsprechend überlegen war.

Max meldete Rotnem eher beiläufig, dass soeben auch die Chamäleon im Sonnensystem von Ser-fen eingetroffen war, natürlich perfekt getarnt und Distanz wahrend, um nur ja kein Risiko einzugehen. Auf diese Distanz jedoch wäre es riskant gewesen, den Teleportersprung zurück an Bord zu wagen, wie Max gegenüber Rotnem versicherte.

Damit konnte Max Rotnem nicht beunruhigen, den Rotnem war auch so schon höchst beunruhigt. Unterwegs hatte er sich selbst oft genug gefragt, ob er wirklich das Richtige tat. Immerhin musste er damit rechnen, dass ein weiterer Angriff erfolgte. Dabei war anzunehmen, dass hier die entsprechenden Möglichkeiten der Ser-fen bedeutend größer waren als in der Kuppelstadt auf Mirafar.

Aber er hatte nun einmal beschlossen, dieses Risiko einzugehen, und würde sich auch von nichts davon abhalten lassen. Noch nicht einmal von den eigenen Bedenken.

Das Raumschiff blieb nicht im Orbit, sondern landete auf Mirafar. Per Fernscan konnte die Chamäleon Genaueres in Erfahrung bringen und teilte die Ergebnisse Max mit, der sie wiederum mit Rotnem telepathisch teilte:

Das Schiff befand sich nun auf dem einzigen Raumhafen, der sich in unmittelbarer Nähe einer Millionenstadt befand. Diese Millionenstadt wurde bestimmt von einer ineinander verschachtelten Gebäudeanordnung, die offensichtlich das Zentralgehirn von Ser-fen barg.

Weitere Scans von Ser-fen zeigten, dass die Oberfläche des Planeten klar strukturiert war. Es gab eine ungezählte Anzahl unterschiedlich großer Ansiedlungen. Aus der Entfernung war nicht eindeutig feststellbar, wie dicht diese bevölkert waren. Ganz zu schweigen von der Frage, ob hier alle Ser-fen augmentiert waren oder ob sich die Augmentierungen nur auf eine gewisse Kaste von Ser-fen bezog. Gab es überhaupt so etwas wie ein Kastensystem?

Alles Dinge, die man erst noch herausfinden musste. Wobei die Frage blieb, wie interessant es überhaupt war, nachdem feststand, dass sowieso alles zentral gesteuert und verwaltet wurde von einer alles beherrschenden Kybernetik.

Die Stimme des Bordgehirns dirigierte Rotnem zurück in den Hangar, wo der Personengleiter tatsächlich noch auf ihn wartete. Sonst befand sich nichts in dem Hangar.

Rotnem bestieg ihn wortlos und schaute von innen zu, wie sich das Ding in Bewegung setzte, um das Schiff durch die Schleuse zu verlassen.

Da erreichte ihn ein Gedankenimpuls von Max:

„Cha hat ausgerechnet, wie lange es dauert, bis sich die winzige Veränderung der Naturgesetze bis nach Ser-fen ausgebreitet hat, von der Chamäleon ausgehend. Er geht davon aus, dass dieses Zentralgehirn durchaus in der Lage ist, diese Veränderung zu bemerken, um daraus zu schließen, dass sich die Chamäleon im Sonnensystem befindet.“

„Wieviel Zeit bleibt uns bis zu dieser Feststellung?“, erkundigte sich Rotnem ungerührt.

„Weniger als eine Stunde!“, antwortete Max vorsichtig.

„Das muss sowieso voll und ganz reichen, Max. Bis dahin muss eine Entscheidung gefallen sein.“

„Welche Entscheidung?“

„Wir werden sehen“, wich Rotnem aus.

„Moment mal, Rotnem, um das einmal klar und deutlich zu sagen: Eigentlich wissen wir schon das, worauf es ankommt. Das heißt, wir wissen, dass dieses Zentralgehirn diktatorisch ein ganzes Sternenreich beherrscht, dass sich auf jedem Planeten ein Ableger von ihm befindet, der vor Ort entscheidet – und zwar über Leben und Tod. Was willst du denn eigentlich noch mehr erreichen?“

„Du machst es dir zu einfach, Max“, tadelte Rotnem ihn. „Wie wohl auch alle anderen an Bord der Chamäleon. Klar, es handelt sich um eine Computerdiktatur, aber andererseits…“

„Andererseits?“, echote Max verständnislos.

„Andererseits gibt es auf all diesen Welten jede Menge Ser-fen. Wahrscheinlich geht ihre Zahl in die Milliarden. Dabei ist ganz und gar nicht entscheidend, wie viele von ihnen augmentiert wurden, ob alle oder auch nur wenige.“

„Was sonst?“

„Lass mich doch einfach mal aussprechen, Max! Also: Allein die Tatsache, dass es überhaupt noch so viele Ser-fen gibt, beweist uns doch, dass es nicht die Absicht gibt, sie etwa auszurotten, weil man sie nicht mehr benötigt. Dieses Horrorszenario von wegen Computerregierung, die eines Tages feststellt, dass man ohne Bewohner besser auskommt… Du weißt, was ich meine?“ Ehe Max antworteten konnte, fuhr Rotnem fort: „Es beweist mir, dass es keine Lüge ist, wenn von Seiten der Computerherrscher behauptet wird, alles zum Wohle der Ser-fen zu tun, sie glücklich zu machen und zufrieden.“

„Ich verstehe dich nicht, Rotnem. Es gibt keinerlei Individualität mehr, also keinerlei Selbstbestimmung. Es ist das Leben von willenlosen Marionetten…“

„Ja, danach sieht es aus. Aber vielleicht ist dies eine Fehleinschätzung?“

„Und um das herauszufinden, begibst du dich in eine solche Gefahr?“

„Ja, denn eines daran ist besonders wichtig: Falls dieses Zentralgehirn eines Tages auf die Idee kommt, sein Machtgebiet auszuweiten, um Zug um Zug die gesamte Föderation zu übernehmen… Versuche einmal, dir das vorzustellen, Max, und vergiss dabei nicht die Überlegung, wieso das nicht schon längst passiert ist, denn Ser-fen ist immerhin schon seit Jahrtausenden Vollmitglied in der Föderation. Ich gehe davon aus, dass schon vor Jahrtausenden hier nichts anders war als jetzt. Nein, es sieht ganz und gar nicht danach aus, als wollte das Zentralgehirn daran etwas ändern. Weder ist es gewillt, im Innern seines Reiches etwas zu ändern, weil es wohl der Meinung ist, sowieso schon das Maximum erreicht zu haben, noch ist es geneigt, sein Einflussgebiet zu vergrößern. Ganz im Gegenteil: Es legt den größten Wert darauf, unangetastet zu bleiben und nichts von dem, was sich hier abspielt, nach draußen dringen zu lassen. Allein schon deshalb, weil man innerhalb der Föderation vielleicht den Glauben an die Friedlichkeit der Ser-fen verlieren könnte, sobald man um die Umstände weiß.“

„Alles klar, Rotnem, aber ich bin nach wie vor der Meinung, dass dies alles nicht das Risiko lohnt, das du einzugehen bereit bist.“

„Wir werden sehen, Max, wahrlich!“

Noch während des Dialoges hatte der Personengleiter die ineinander verschachtelte Gebäudeanordnung erreicht, in dessen Innern sich nach Schätung Rotnems das Zentralgehirn befand.

Und Rotnem fügte noch hinzu:

„Nicht zu vergessen, dass nicht nur ich ein Risiko eingehe, sondern auch das Zentralgehirn, indem es mich persönlich empfängt. Es weiß nicht, welche Möglichkeiten ich habe, und muss eigentlich ebenfalls mit allem rechnen…“


7


Das Endziel Rotnems war eine Halle, die derjenigen in der Kuppelstadt von Mirafar nicht unähnlich war. Sie war hier nur um einiges größer, wenngleich genauso kahl und leer.

Rotnem betrat die Halle allein, nur geleitet von der Stimme des Zentralgehirns, die nicht anders klang als die Stimme in der Kuppelstadt der Ser-fen. Er wurde gebeten, in die Mitte der Halle zu gehen.

Rotnem folgte zögernd, dabei die Decke im Auge behaltend. Er konnte jedoch nichts Verdächtiges entdecken, auch nicht mit dem sorgfältigsten Scan.

„Ich bin ebenfalls hier!“, meldete Max. „Nur wenige Schritte von dir entfernt.“

„Und du bist sicher, das Zentralgehirn bemerkt nichts von dir?“

„Ich bin hundertprozentig sicher sogar, denn es gibt keinerlei Reaktionen auf mich. Übrigens ist die Chamäleon etwas näher gekommen. Jetzt wäre es gefahrlos möglich, dass wir uns mit einem einzigen Tandemsprung an Bord des Schiffes in Sicherheit bringen.“

„Falls die Zeit dafür übrig bleiben würde“, gab jetzt Rotnem zu bedenken. „Vielleicht ist es sogar ein Fehler, dass du mit mir hier in der Halle bist?“

„Du meinst, wenn hier jetzt alles gesprengt wird beispielsweise, gehen wir beide unter?“

„Ja, beispielsweise.“

„Daran glaube ich nicht.“

„Na, dann…“ Den Rest ließ Rotnem unausgesprochen.

Er hatte die Mitte erreicht und bezog dort Position.

Abermals ein Blick zur Decke.

In diesem Moment brach sich der Lichtstrahl von dort oben Bahn, grell wie ein Spotlight.

Rotnem begriff, dass die Lichtfrequenzen die Überträger waren für den Kontakt. Aber diesmal erfolgte kein Angriff, sondern nur so etwas wie ein sanftes Tasten.

„Du bist faszinierend, Rotnem“, bekannte die Stimme, die jetzt nicht mehr von der Decke der Halle zu ihm herab dröhnte, sondern direkt in seinem Extragehirn aufklang, fast vergleichbar mit einem telepathischen Kontakt. „Das geht erheblich über Augmentierung hinaus. Bei dir ist es sozusagen umgekehrt. Du bist kein organisches Wesen mit kybernetischen Verbesserungen, sondern du bist eine kybernetische Einheit, ein hochgezüchteter Roboter, um genauer zu sein, den man mit einem winzigen organischen Anteil verbessert hat. Damit vereinst du in dir selber beide Vorteile, nämlich die eines hochgezüchteten Roboters genauso wie die eines organischen Lebewesens. Wie gesagt, faszinierend, zumal ich selber niemals von allein auf diese Idee gekommen wäre.“

„Dann bist du nicht das, was wir ein Biogehirn nennen?“

„Nein, eine rein technische Einheit. Wobei meine einstigen Erbauer wirklich alles erreichten, was auf diese Weise überhaupt nur erreicht werden kann.“

„Nun, deshalb gehen andere Erbauer andere Wege. Sie erreichen nicht das Höchste mit einer rein kybernetischen Einheit, sondern verknüpfen schon früher organische und kybernetische Vorteile. Damit kürzen sie gewissermaßen den Weg zur höchsten Reife ab.“

„Es ist nicht dasselbe im Ergebnis. Du bist dafür der beste Beweis.“

„Du darfst jetzt nicht den Fehler machen und mich stellvertretend für das sehen, was wir ein Biogehirn nennen. Dafür müsstest du die Zentraleinheit der Chamäleon kennen. Wir nennen sie Cha. Er ist der Geist des Schiffes. Das Schiff ist sein Körper. Als Biogehirn ist er anders als du.“

„Besser?“

„Sicherlich ist er das, was allerdings nicht allein in der Tatsache begründet liegt, dass Cha ein Biogehirn ist, sondern vor allem auch darin, dass er das Ergebnis einer viel längeren Entwicklungsgeschichte darstellt. Er ist nämlich das Produkt der Uralten, genauso wie das Schiff.“

„Uralte?“

„Ich habe keine Ahnung, ob sie auch hier, in diesem Universum, tätig waren. Aber ich darf wohl davon ausgehen. Sonst wäre die Chamäleon nicht so eine Art Zwitter, der nur so entstanden sein konnte, indem die Uralten die Naturgesetze dieses Universums hier mit berücksichtigt haben. Sie haben gewissermaßen die Naturgesetze beider Universen genutzt. Vielleicht sogar auch noch die anderer Universen? Auch das weiß ich nicht, weil es niemand mehr weiß, wie ich vermute.“

„Noch nicht einmal… Cha selber?“

„Er ist das Produkt der Uralten, also nicht selber ein Uralter.“

„Wie du das beschreibst, kommt es mir allerdings bekannt vor – und ich ahne schon, von wem die Rede ist. Bis vor mehreren tausend Jahren… Sie wurden auch von vielen Völkern die wahren Götter genannt…“

„Du warst schon vor Jahrtausenden existent?“

„Natürlich! Das Sternenreich der Ser-fen besteht schon seit weit über einhunderttausend Jahren. Ich wurde von meinen Erbauern erschaffen, weil sonst das Sternenreich nicht mehr existieren würde, denn die Ser-fen hätten sich unweigerlich gegenseitig ausgerottet und wären in ihren Restbeständen eine permanente Gefahr nicht nur für diese Galaxis geworden.“

„Aha, ich verstehe endlich: Du bist auf Frieden programmiert, geauso wie deine Ableger auf den verschiedenen Welten des Reiches.“

„Ja, so ist es!“, bestätigte die Zentraleinheit.

„Und jetzt verstehe ich auch, wieso es nach wie vor Ser-fen gibt. Aber ist es auch Ausdruck von Friedlichkeit, ihnen den eigenen Willen zu rauben?“

„Wieso? Kein Ser-fen ist willenlos. Es ist nicht so, wie du es für die Besatzung der Chamäleon beschrieben hast. Das gesamte Gesellschaftssystem funktoniert allein durch die Ser-fen selbst. Ich reguliere nicht, sondern überwache nur – und diene.“

„Aber wieso gibt es keinerlei Fortschritte mehr? Wieso ist keinerlei Individualität mehr erkennbar?“

„Wie willst du das beurteilen?“

„Ah, du weißt gar nicht, dass ich längst alle Tarnung umgehen kann. Ich kenne also die Ser-fen aus der Kuppelstadt.“

„Diese sind anders als alle anderen. Sie wurden speziell ausgewählt, um Ser-fen auf Mirafar zu repräsentieren. Sie müssen unauffällig bleiben, denn wenn die Föderation erfährt, dass unser Reich computerverwaltet und computergeführt ist, wird sich Widerstand regen. Zwangsläufig. Man wird nicht begreifen wollen, dass ich auf Frieden programmiert bin und dieses Programm niemals aushebeln kann. Dafür haben meine Erbauer gesorgt. Alles nur zum reinen Wohl der Ser-fen – und niemals mit Aggression nach außen.“

„Auch nicht gegen die Mission der Chamäleon?“

„Es gibt keine Aggression gegenüber der Chamäleon!“

„Das ist nicht wahr, denn es wurde gedroht, sie zu vernichten, falls sie es wagt, das Hoheitsgebiet der Ser-fen auch nur zu berühren.“

„Das ist richtig, aber der Frieden verlangt auch Opfer. Vor allem, wenn er gefährdet erscheint.“

„Und was würdest du sagen, wäre die Chamäleon bereits hier, in diesem Sonnensystem?“

„Nein!“, signalisierte Max entsetzt. „Bist du von Sinnen, Rotnem? Was tust du denn da?“

Rotnem ließ sich nicht berirren und schob auch noch nach:

„Ich habe gelogen, als ich sagte, dass ich Asyl beantrage. Diese Lüge war nötig, sonst wäre ich jetzt nicht hier, bei dir. Ich wollte wissen, was das Geheimnis der Ser-fen ist. Dieses kenne ich jetzt.“

„Nur ein Trick? Eine kriegerische Handlung mithin?“

„Nein, keine kriegerische Handlung, sondern eine Handlung im Namen des Friedens! Schon vergessen: Die Chamäleon befindet sich auf Friedensmission! Und wie hast du das selber so schön formuliert…“

„Das kann man nicht miteinander vergleichen!“

„Dann sage ich es halt mit meinem eigenen Worten: Um den wahren Frieden zu erreichen, sind beinahe alle Mittel recht.“

„Was soll daran eine Friedensmission sein, wenn du hierher kommst, um mich zu bedrohen und somit das gesamte Reich der Ser-fen?“

„Wer sagt denn, dass ich dich bedrohe? Ganz im Gegteneil: War ich nicht gerade äußerst ehrlich zu dir? Ich habe mich dazu bekannt, nur durch einen Trick hierher gelangt zu sein.“

„Es wird dir nichts nutzen, denn ich habe natürlich einen solchen Trick mit einkalkuliert. Du kannst mich nicht vernichten. Selbst wenn du den gesamten Planeten vernichtest.“

„Ah, ich verstehe: Du hast hier auch nur einen Ableger, gewissermaßen in vorderster Front, aber niemand weiß davon. Danke für die Auskunft. Aber ich werde sie nicht gegen dich verwenden. Meine Absicht ist sowieso nicht, dich vernichten zu wollen. Sonst hätte ich das längst versucht.“

„Das leuchtet ein. Aber was sonst?“

„Muss ich mich wiederholen? Ich sehe das als meine persönliche Friedensmission an. Ich handele hier gegen den Willen der Besatzung der Chamäleon und sogar gegen den Willen von Cha. Ach ja, es war auch eine Lüge, als ich behauptet habe, jeder an Bord sei eine Marionette von Cha. Obwohl Cha ein sehr mächtiges Wesen ist, hat es natürlich nicht die Besatzung versklavt, sondern dient der Besatzung. Nicht uneingeschränkt natürlich, weil Sicherheit aller immer den höheren Rang besitzt. Ansonsten hat Ken Randall das Sagen, als der einstimmig gewählte Kapitän des Schiffes.“

„Obwohl Cha durchaus auch komplett auf euch verzichten könnte?“

„So ist es.“

„Ich begreife immer noch nicht, wieso du hier bist, Rotnem. Was ist deine eigentliche Absicht? Wolltest du nur die Chamäleon entgegen unseres erklärten Willens hierher führen, um so etwas wie STAR GATES zu ermöglichen?“

„Wenn ja, würde auch das nur eurem eigenen Vorteil dienen. Denn obwohl dann eine direkte Verbindung besteht zwischen Ser-fen und Mirafar, wird diese Verbindung selbstverständlich nur von denen genutzt, die dazu berechtigt sind. Und das entscheidest letztlich nur du. Wo also ist da ein Nachteil?“

„Es dient der inneren Sicherheit des Reiches, wenn wir alles vermeiden, was das Wesen unseres Reiches verraten könnte.“

„Glaubst du wirklich, auf Dauer wäre das verborgen geblieben? Selbst wenn noch weitere Jahrtausende darüber vergangen wären. Du siehst doch selber, dass ich jetzt hier bin – und ich bin ein Mitwisser. Genauso wie die Chamäleon.“

„Sie mag zwar hier sein, irgendwo im Sonnensystem, aber noch hast du keinen Kontakt mit ihr aufgenommen. Also bist du der Einzige, der Bescheid weiß.“

„Irrtum, ich stehe nämlich die ganze Zeit über mit ihr in Verbindung, unbemerkt für dich.“

„Das ist nicht möglich!“

Rotnem bat Max:

„Gib an Cha durch, er soll sich durch einen Funkspruch bemerkbar machen. Er wird schon wissen, wie er das tun kann, ohne seine Position zu verraten.“

„Also gut!“, willigte Max zögerlich ein.

An das Zentralgehirn gewendet, sagte Rotnem:

„Ich habe soeben gebeten, dass sich Cha persönlich bei dir meldet – per Funkspruch. Wenn man es genauer nimmt, dann ist eigentlich Cha der bessere Gesprächspartner für dich als ich. Und bevor du irgendeine Entscheidung triffst, bitte ich dich, zu bedenken, was bisher geschehen ist. Die Chamäleon hat Frieden gestiftet zwischen Gro-pan und San-dir-um, etwas, was vorher als völlig undenkbar erschienen war. Inzwischen ist San-dir-um sogar mit der Föderation befreundet und wird Vollmitglied. Noch niemals zuvor war die Föderation so stark wie gegenwärtig – so stark für den gemeinsamen Frieden. All diese Verschleierungspolitik… Überprüfe wirklich einmal, ob diese nötig ist. Vielleicht wäre es halt nur nötig, etwas grundsätzlich im Reich Ser-fen zu ändern? Nach der Stagnation, die schon über hunderttausend Jahre lang andauert, deinen eigenen Worten zufolge, wäre es vielleicht doch an der Zeit, eine Änderung herbeizurufen, ohne den inneren Frieden zu gefährden. Und bedenke auch: Die anderen Mitglieder der Föderation haben keine Computerführer und haben es dennoch geschafft, mit anderen Völkern in Frieden zu leben, ohne dabei ihre Individualität zu verlieren. Letztlich liegt es an Cha, dir beispielhaft zu vermitteln, wie es funktionieren kann, den Ser-fen ihre geistige Freiheit vollständig wiederzugeben, ohne dass wieder die Eskalation droht. Er kann dir vielleicht zuverlässig darlegen, wie man mit organischen Intelligenzen umgeht für eine friedliche Koexistenz, zum gegenseitigen Vorteil.“

Die Zentraleinheit äußerte sich nicht dazu.

Max signalisiert:

„Ken hat zugestimmt. Er hat vorher abstimmen lassen. Die Mehrheit ist dafür, dass sich Cha wirklich bei der Zentraleinheit meldet. Er benutzt dazu Robosonden als eine Art Relaisstation, um die eigene Position zu verschleiern. Als reine Vorsichtsmaßnahme.“

Kaum hatte er das Rotnem mitgeteilt, als sich das Zentralgehirn wieder meldete.

„Tatsächlich, du hast mich nicht belogen. Aber keine Bange, ich habe nicht vor, die Chamäleon abschießen zu lassen. Zumal es ihr gelungen ist, ihren wahren Standort zu verschleiern –wie auch immer. Es gab einen vorläufigen Datenaustausch mit Cha, und tatsächlich, es ist so, wie du es geschildert hast, Rotnem. Ich muss zugeben, zutiefst beeindruckt zu sein.“

„Nun, wenn es sogar möglich ist, ein kybernetisches Gehirn zu beeindrucken…“, sagte Rotnem, brach dann aber ab, weil er nicht glaubte, dass die Zentraleinheit so etwas wie Humor nachvollziehen konnte.

„Du hast immer noch nicht gesagt, wieso du gekommen bist - persönlich“, erinnerte ihn das Zentralgehirn.

„Natürlich habe ich das, aber du hast es nicht verstanden, weil du immer noch annimmst, ich wollte dir etwas Böses. Ich bin persönlich hierher gekommen, um eben den persönlichen Kontakt mit dir zu finden. Und jetzt schließe ich die Begegnung ab mit einer Demonstration…“

„Also doch!“, unterbrach ihn die Zentraleinheit alarmiert.

„…mit der Demonstration meiner Möglichkeiten!“, fuhr Rotnem ungerührt fort. „Du stehst ja jetzt in Kontakt mit Cha, und ihr könnt Daten austauschen. Ich kann nur hoffen, dass du daraus die richtigen Schlüsse ziehst und am Ende dich überzeugen lässt, für die Ser-fen nicht nur das Beste zu wollen, sondern wirklich und endlich auch das Beste zu tun. Dann musst du nichts mehr gegenüber den anderen Mitgliedern der Föderation verheimlichen, weil du ihnen demonstrieren kannst, dass sie wirklich nichts von dir zu befürchten haben!“

Im nächsten Augenblick wechselte Rotnem die Phase und bezog auch Max damit ein. Dadurch gab es natürlich auch keinen Kontakt mehr mit der Chamäleon.

Rotnem wandte sich an Max:

„Ist es dir möglich, in dieser Phase zur Chamäleon zu teleportieren?“

„Nein“, war die lapidare Antwort. „Dafür müssen wir erst in die Normalphase zurückkehren.“

„Na, dann tun wir das, aber nicht hier, sondern außerhalb der Stadt. Am besten an Bord des Raumschiffes, mit dem ich hierher gekommen bin. Der Aufenthalt dort muss ja nicht lange dauern.“

„Es reicht mir eine Sekunde - höchstens!“

Damit packte Max den Kyborg und teleportierte sich gemeinsam mit ihm. Eine weitere Sekunde später befanden sie sich in der Zentrale der Chamäleon.

„Der Kontakt zwischen Cha und dem Zentralgehirn der Ser-fen besteht immer noch!“, empfing Ken die beiden und tat dabei so, als sei er über ihr plötzliches Erscheinen nicht sonderlich überrascht.


*


Innerhalb weniger Minuten war sozusagen alles erledigt zwischen Cha und dem Zentralgehirn. Jeder wunderte sich darüber an Bord, außer Cha selber und natürlich auch außer Rotnem.

„Das war schließlich mein Plan!“, behauptete er.

Stirnrunzelnd nuschelte Yörg Maister:

„Moment mal, heißt das, du wusstest, dass es soweit kommen wird?“

„Ich habe es zumindest gehofft – und entsprechend darauf hingearbeitet“, schränkte Rotnem ein.

„Aber was ist denn jetzt eigentlich das Ergebnis von alledem?“, beschwerte sich Janni van Velt und kaute wie verrückt auf ihrem grünen Kaugummi herum – wie immer, wenn sie nicht gerade einen grünen Kugelschreiber zur Hand hatte, dessen Ende sie zerkauen konnte.

„Das Zentralgehirn folgte immer nur seiner Programmierung“, berichtete Cha prompt, „und war über all die Jahrtausende, die darüber vergingen, unfähig, sich weiter zu entwickeln oder zumindest auch nur das Geringste zu verändern. Die Programmierung erfolgte lange vor dem Eintritt in die Föderation, unter veränderten Bedingungen. An diese Veränderung konnte sich das Zentralgehirn nicht wirklich anpassen und somit auch nicht das Reich Ser-fen. So blieb man so etwas wie ein stilles Mitglied in der Föderation, eine reine Handelsbeziehung, beschränkt auf elektronische Lieferungen im Tausch für Waren des täglichen Bedarfs, auch um zu vermeiden, dass den Ser-fen etwa unbequeme Fragen gestellt wurden.“

„Und durch dich hat sich das jetzt geändert?“, hakte Ken Randall nach.

„In der Tat - mit Verlaub gesagt, Kommandant Ken Randall. Ich habe dem Zentralgehirn klar gemacht, dass es die Ser-fen in wirkliche Freiheit entlassen kann. Natürlich nicht von heute auf morgen, weil die Ser-fen so etwas wie Freiheit erst noch erlernen müssen. Sie müssen Stück für Stück zu ihrer Selbstbestimmung zurückkehren. Dabei muss die Zentraleinheit mit all ihren Ablegern wesentliche Hilfe bieten, ohne unaufgefordert tätig zu werden. Da es dem Zentralgehirn jedoch nicht möglich ist, seine eigene Programmierung zu negieren, bleibt ein hoher Sicherheitsfaktor. Das heißt, die Freiheit der Ser-fen reicht auch in Zukunft nur so weit, wie sie ihre eigene Existenz und die Existenz anderer Völker nicht gefährden. Im Falle einer echten Gefährdung kann das Zentralgehirn also nach wie vor selbstständig handeln und das Schlimmste verhindern.“

„Und das hat dem Zentralgehirn eingeleuchtet?“, wunderte sich Tanya Genada.

„Natürlich hat es das!“, mischte sich jetzt Rotnem ein. „Schließlich ist Cha für das Zentralgehirn einer seiner Art, mit noch mehr Macht jedoch, weil mit weitaus mehr Möglichkeiten. Außerdem nicht platzgebunden, sondern autark, als eigenes Raumschiff. Ich habe schließlich alles getan, um gerade die Überlegenheit von Cha herauszukehren. Dass Cha dann gewissermaßen beim Datenaustausch das Zentralgehirn als gleichberechtigten Gesprächspartner behandelt hat, wird wohl den Ausschlag gegeben haben. Einem Menschen wäre so etwas völlig unmöglich gewesen. Und auch ich konnte nur insofern Erfolg verbuchen, dass ich einen solchen Datenaustausch überhaupt erst möglich gemacht habe.“

„Das ist in der Tat richtig!“, bestätigte Cha. „Ohne die Vorarbeit Rotnems wäre ein solches Ergebnis völlig undenkbar geblieben. Und jetzt können wir die Mission praktisch als gelungen betrachten. Das Zentralgehirn wird dafür sorgen, dass man auch im Zentralrat auf Mirafar ganz offen der Besatzung der Chamäleon die volle Unterstützung zusagt. Es wird nur wenige Jahre dauern, bis Ser-fen die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 01.01.2021
ISBN: 978-3-7487-7013-8

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Nähere Angaben zum Herausgeber und Hauptautor siehe Wikipedia, Suchbegriff Wilfried A. Hary: http://de.wikipedia.org/wiki/Wilfried_A._Hary

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